Gesamtwirtschaftliche Aussichten: Wachstum, Inflation und Risiken Einleitende Bemerkungen bei der 89. Plenarsitzung der Group of Thirty
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Einleitung
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, dass ich mich heute mit Ihnen über Themen austauschen kann, die sowohl für das Wirtschaftswachstum als auch für die Wohlfahrt von Bedeutung sind. Beginnen möchte ich mit einem Blick auf die Lage im Euroraum. Gestern wurden die von Fachleuten des Eurosystems erstellten gesamtwirtschaftlichen Euroraum-Projektionen veröffentlicht.
2 Konjunktureller Ausblick
Die Wirtschaftsleistung im Euroraum ist im ersten Quartal dieses Jahres geringfügig gesunken. Für das laufende zweite Quartal rechnen wir mit einer leicht positiven Wachstumsrate. Im Dienstleistungssektor liegt die Stimmung über dem langfristigen Durchschnitt, während sie in der Industrie erstmals seit Ende 2020 darunter gefallen ist. Zudem ist das Verbrauchervertrauen nach wie vor sehr gering. Obwohl sich das Lohnwachstum deutlich beschleunigt hat, bleibt die Kaufkraft der privaten Haushalte gedämpft, da die Inflation nur langsam sinkt. Die verhaltene Entwicklung der Weltwirtschaft und die notwendige Straffung der Geldpolitik belasten das Wachstum im Euroraum. Dies spiegelt sich auch in der jüngsten Prognose von Fachleuten des Eurosystems wider, in der die Wachstumsaussichten für dieses und nächstes Jahr nach unten korrigiert wurden. Demnach wird das Wachstum im Euroraum im Jahr 2023 bei 0,9 Prozent und 2024 bei 1,5 Prozent liegen.
Was die Inflation betrifft, so sank die am HVPI gemessene Teuerungsrate den Schnellschätzungen zufolge im Mai deutlich auf 6,1 Prozent, während die Kernrate nur leicht auf 5,3 Prozent zurückging. Laut der Projektion des Eurosystems wird sich die jährliche Inflationsrate 2023 auf 5,4 Prozent und 2024 auf 3,0 Prozent verringern. Eine zentrale Bedeutung kommt hierbei den niedrigeren Rohstoffpreisen, dem nachlassenden Preisdruck auf den vorgelagerten Produktionsstufen, den rückläufigen Margen und der geldpolitischen Straffung zu. Diese Projektion liegt jedoch etwas über der letzten Projektion vom März. Die Kernrate wurde von den Fachleuten des Eurosystems nach oben revidiert, und zwar insbesondere für die Jahre 2023 und 2025. Sie rechnen nun damit, dass diese Rate 2023 auf 5,1 Prozent steigen und in den darauffolgenden beiden Jahren wieder auf 3,0 Prozent und 2,3 Prozent zurückgehen wird.
Die marktbasierten Inflationserwartungen lassen nach wie vor darauf schließen, dass die Teuerung auf kurze und mittlere Sicht weiterhin über unserem Zielwert von 2 Prozent liegen wird. Hierauf deuten auch die Erwartungen der Verbraucher hin.
3 Geldpolitik
Insgesamt liegen die Inflationsraten derzeit zwar erheblich unter den Höchstständen vom Oktober, doch wir haben noch einen langen Weg vor uns, um unser Inflationsziel zu erreichen. Zudem ist die Unsicherheit in Bezug auf die Teuerung immer noch hoch. Daher wird der EZB-Rat seinen Kampf gegen die hohe Inflation fortsetzen. Und er hat bereits entschieden gehandelt. Seit Juli 2022 haben wir die Leitzinsen in acht aufeinanderfolgenden Schritten um insgesamt 400 Basispunkte angehoben. Wir haben die Nettokäufe im Rahmen unserer Ankaufprogramme APP und PEPP beendet. Und zu guter Letzt haben wir beschlossen, die Tilgungsbeträge aus dem APP ab Juli 2023 nicht wieder anzulegen. Unsere Arbeit ist jedoch noch nicht getan.
Aus meiner Sicht müssen drei Hebel zum Einsatz kommen. Erstens muss unser Leitzins hinreichend hoch sein. Meiner Meinung nach müssen wir in dieser Hinsicht noch mehr tun. Nach der Sommerpause werden wir die Zinsen möglicherweise weiter anheben müssen. Zweitens werden wir, sobald der Höchststand erreicht ist, so lange auf diesem Niveau bleiben, bis wir mit Gewissheit sagen können, dass die Inflation sicher und zeitnah wieder auf unseren Zielwert von 2 Prozent zurückkehren wird. Und drittens müssen wir diese Zinspolitik durch eine Verkleinerung unserer Bilanz unterstützen. Ich begrüße die Entscheidung sehr, das Tempo der Bilanzverkleinerung zu erhöhen.
4 Zusammenhang zwischen Geld- und Fiskalpolitik
Der Kampf gegen die hohe Inflation kann von der Fiskalpolitik in erheblichem Umfang „unterstützt“ werden. Eine expansive Fiskalpolitik würde den Inflationsdruck verstärken. Ich schließe mich der Empfehlung der Europäischen Kommission an, dass die EU-Mitgliedstaaten die fiskalischen Maßnahmen, die sie als Reaktion auf den Energiepreisschock ergriffen haben, auslaufen lassen sollten. Und wichtig ist meines Erachtens auch, dass die Regierungen die weiterhin hohen strukturellen Defizite zeitnah angehen. Die öffentliche Verschuldung, die aus dem Ruder gelaufen ist, muss wieder auf einen tragfähigen Pfad zurückgeführt werden. Auf diese Weise wird die Geldpolitik von der Fiskalpolitik über den Konjunkturzyklus hinaus strukturell unterstützt. Solide Staatsfinanzen sind eine Voraussetzung dafür, dass die Geldpolitik ihre Aufgaben effizient erfüllen kann.
Auf europäischer Ebene wollte man dies durch ein Regelwerk erreichen. Das hat nicht ganz so gut geklappt. Wenn wir eine Aktualisierung der Fiskalregeln in Erwägung ziehen, sollten wir alles daransetzen, um sicherzustellen, dass die Regeln wirksamer sind. Die Gesetzgebungsvorschläge der Kommission vom April erfüllen diese Anforderungen nicht.
5 Drei Möglichkeiten zur Stärkung des Wachstumspotenzials
Mit soliden Staatsfinanzen habe ich bereits einen wichtigen Faktor für den Wohlstand in der Europäischen Union erwähnt. Ich möchte drei weitere strukturelle Wachstumsmöglichkeiten hinzufügen.
Zum einen ist der digitale Sektor ein Wachstumsmotor. Einer aktuellen Studie unserer Bundesbank-Fachleute zufolge haben die digitalen Sektoren in Deutschland in den vergangenen 25 Jahren eine um ein Vielfaches höhere Arbeitsproduktivität verzeichnet als andere Branchen. Die fortschreitende digitale Transformation ist eine große Chance, auch für den Umgang mit der demografischen Entwicklung.
Die Alterung bremst das Wachstum stark aus. Aber mit guten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen haben wir die Kraft, uns den demografischen Herausforderungen zu stellen. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sind die zweite strukturelle Wachstumsmöglichkeit, die ich erwähnen möchte: Es sind Fortschritte vonnöten, um die Erwerbsbeteiligung und die Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten zu erhöhen. Dies gilt insbesondere für Frauen und ältere Menschen. Eine arbeitsmarktorientierte Einwanderungspolitik ist ein weiteres Element, um der demografischen Entwicklung zu begegnen. Eine Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters wäre ebenfalls hilfreich.
Und die dritte Möglichkeit ist der Übergang zu einer CO2-freien Wirtschaft. Letztlich könnten wir in einer Welt leben, in der Energie günstiger ist als bisher und in der viele Innovationen eine CO2-freie, nachhaltige Produktion ermöglicht haben, was uns einen technologischen Vorsprung verschaffen und somit das Wachstum unterstützen würde.
Ohne die Risiken aus dem Blick zu verlieren, sehe ich viele Chancen für die EU und den Euroraum.