Europa – quo vadis? Rede bei der Kronberg Academy

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Sehr geehrter Herr Trenkler,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

es ist mir eine große Freude, heute Abend bei Ihnen zu sein, um über Europa zu sprechen. Mit Europa, genauer gesagt mit der Europäischen Union, ist es ein wenig wie mit der Musik: Auf den ersten Blick bestehen beide zunächst nur aus Regeln und technokratischen Institutionen respektive Noten und Taktstrichen. Aber wie die Musik lebt und berührt das Projekt Europa nur, wenn es aus dem Herzen kommt.

Und so ist es mir eine Herzensangelegenheit, hier in Kronberg für Europa zu werben und gleichzeitig mit Ihnen darüber nachzudenken, wo wir noch nachbessern müssen, damit möglichst viele Menschen aus dem Herzen heraus "Ja" zu Europa sagen können.

Eine Herzensangelegenheit ist Ihnen, lieber Herr Trenkler, auch das neue Kronberg Academy Forum. Der Spatenstich für dieses großartige Projekt ist für den 1. Oktober geplant. Und auch wenn der Spatenstich der Europäischen Union schon deutlich weiter zurückliegt, so haben wir immer noch einige Bauarbeiten am Haus Europa vor uns.

Denn es ist leider so: Europa hat in diesen Tagen keinen allzu guten Ruf. Unsicherheit und politische Risiken kratzen am Selbstverständnis der Europäer. Der Brexit und auch eine scheinbare Renaissance des Nationalismus und Populismus stellt Politiker, aber auch Bürger, heute vor die Frage: Quo vadis, Europa?

Kein Bereich der Europäischen Union bleibt derzeit von Kritik verschont. Was sind die Ursachen dafür? Woher kommt die scheinbar immer größer werdende Europa-Skepsis und Reformmüdigkeit? Welche Lehren können und müssen wir aus der Unzufriedenheit vieler Menschen ziehen? Was können wir den Rufen nach mehr Nationalstaat und weniger Europa entgegensetzen?

2 Europäische und globale Herausforderungen

Nicht zuletzt die Wahl in den USA und der überraschende Brexit-Entscheid haben gezeigt, dass viele Bedenken und Sorgen der Menschen zu lange unterschätzt wurden. Dabei sind Tendenzen zur Rückkehr zum Nationalstaat innerhalb Europas kein völlig neues Phänomen. Bereits bei der Entstehung der EU hatten nicht wenige Staaten Bauchschmerzen bei dem Gedanken, Souveränität an internationale Institutionen abzugeben. Diese Bedenken treten mit jeder Erweiterung europäischer Kompetenzen wieder neu auf. Gerade in den letzten Jahren hat protektionistische Politik wieder politischen Aufwind gewonnen. Strengere Handels- und Zuwanderungskontrollen sollen nach Ansicht der Protektionisten Antworten auf die Sorgen der Menschen geben.

Eines möchte ich hier ganz klar machen: Abschottung bringt keine Vorteile, bietet keine Stabilität und keinen Wohlstand. Zu glauben, dass Protektionismus die bessere Alternative sei, ist trügerisch.

Aber dennoch: Die Skepsis gegenüber dem europäischen Projekt hat zugenommen. Und diese Haltung müssen wir ernst nehmen. Natürlich gibt es berechtigte Kritikpunkte an der Wirtschafts- und Währungsunion. Die Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit hat eben leider auch unerwünschte Nebenwirkungen.

Zweifelsohne bringt der europäische Binnenmarkt erhebliche Vorteile. Aber gleichzeitig entstehen Umverteilungseffekte, die regional Arbeitsplätze kosten oder das Gehalt stagnieren lassen – und dies geht typischerweise zu Lasten des Vertrauens vieler Bürger in die Europäische Union. 

Also muss sich das Projekt Europa daran messen lassen, inwiefern es allen Bürgern Vorteile bietet. Hier gibt es zum einen wirtschafts- und sozialpolitischen Handlungsbedarf. Zum anderen gibt es aber auch grundlegenden Handlungsbedarf beim Regelrahmen in Europa. Das Regelwerk muss teils angepasst, teils vervollständigt werden, damit das Gemeinschaftsprojekt langfristig auf einem stabilen Fundament steht.

Denn nur stabile Institutionen und ein verlässliches Regelwerk schaffen Vertrauen. Das Gegenteil konnten wir in der europäischen Staatsschuldenkrise sehen, als fehlendes Vertrauen in die Eurozone zu einer Krise führte, die längst nicht nur einzelne Länder getroffen hat. 

Auch wenn viele nötige Reformen angestoßen wurden und die Krisenanfälligkeit der Eurozone deutlich verringert wurde, sind wir noch nicht am Ende. Es gilt nach wie vor, das Vertrauen der Menschen in die Institutionen der Europäischen Union zu stärken und dabei populistischen Strömungen ein Stück weit den Wind aus den Segeln zu nehmen.

3 Quo vadis, Europa?

Aber die gute Nachricht ist folgende: Es finden sich Anzeichen dafür, dass die EU durchaus reformwillig und reformfähig ist und sich insgesamt auf einem guten Kurs befindet. Ich möchte drei Punkte hervorheben.

Erstens: Klar ist, man kann sich lange Gedanken über nötige Reformen machen – wenn der politische Wille fehlt, nützen die klügsten Köpfe der Welt nichts. Genau an diesem Punkt scheint es eine Trendwende zu geben. So lassen sich anscheinend mit einem klar pro-europäischen Kurs Wahlen gewinnen. Wir haben es zuletzt in Frankreich gesehen.

Darüber hinaus haben die Finanzminister von Deutschland und Frankreich eine Initiative zur Stärkung der Eurozone angekündigt. Zudem hören wir aus Frankreich Stimmen, dass die Defizitgrenzen für die Staatsverschuldung in Zukunft eingehalten werden sollen. In meinen Augen sind dies erfreuliche Nachrichten.

Rückenwind kommt zweitens aus der europäischen Wirtschaft. Nach einer anhaltend schwachen wirtschaftlichen Entwicklung des Euroraums befinden wir uns in einer soliden Aufwärtsbewegung. Im vierten Quartal 2016 und im ersten Quartal dieses Jahres ist die Wirtschaft in der Eurozone jeweils um 0,5 % gewachsen. Die konjunkturelle Erholung im Euroraum hat sich also gefestigt. Auch die größer gewordene Unsicherheit infolge des Brexit-Votums und der Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl haben daran nichts geändert.

Ebenfalls erfreuliche Änderungen gibt es bei der Arbeitslosenquote – so verzeichnet der Euroraum einen stetigen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Zwar liegen wir mit aktuell 9,5 % noch über dem Durchschnitt der Vorkrisenjahre, jedoch sinkt die Arbeitslosenquote seit 2013 kontinuierlich – wir befinden uns hier sicherlich noch nicht am Ziel, aber auf einem guten Weg.

Wie beeinflusst nun die wirtschaftliche Entwicklung den politischen Kurs in Europa? Erstens machen sich populistische Strömungen, die sich gegen Multilateralismus, freien Handel und den Euro wenden, unter anderem die Angst vor einem schwachem Wirtschaftswachstum und steigender Arbeitslosigkeit zunutze. Eine positive wirtschaftliche Entwicklung nimmt also den Skeptikern Wind aus den Segeln. Und zweitens gelingt ein Wendemanöver deutlich besser, wenn man vorher etwas Fahrt aufgenommen hat.

Auch einen dritten Lichtblick der Reise Europas möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Erst in jüngerer Vergangenheit haben wir bereits wichtige Reformen umgesetzt. Ich spreche von der Bankenunion.

Die Bankenunion wurde im Mai 2014 beschlossen und vereinheitlicht die Banken- und Finanzaufsicht in der Eurozone. Obwohl noch jung, ist sie eine der weitgehendsten Reformen, die nach der Eurokrise angestoßen wurde.

In der Eurokrise konnten wir sehen, dass die Kosten von Krisen sich nicht auf die Länder begrenzen, die diese verursacht haben. Wenn es aber eine Risikoteilung innerhalb der Eurozone gibt, dann ist auch eine gemeinsame Kontrolle dieser Risiken wichtig. Die Regulierung und Aufsicht der Finanzmärkte konnte daher nicht länger in nationaler Eigenverantwortung bleiben.

Daher wurde als erste Säule der Bankenunion der einheitliche Bankenaufsichtsmechanismus, SSM, gegründet. Innerhalb sehr kurzer Zeit wurden hier 85 % der Aktiva europäischer Banken unter EZB-Aufsicht gestellt.

Alle systemrelevanten Banken der Eurozone werden nun von gemeinsamen Aufsichtsteams der EZB und nationalen Aufsichtsbehörden kontrolliert. Die Leitung eines solchen Teams übernimmt ein EZB-Mitarbeiter. Wesentliche Handlungen und Entscheidungen werden gemeinsam mit nationalen Aufsichtsbehörden festgelegt und vom gemeinsamen Mitarbeiterstab ausgeführt. Im SSM arbeiten also EZB und nationale Behörden wie BaFin und Bundesbank eng zusammen.

Kleinere Institute, die nicht als systemrelevant eingestuft werden, bleiben hingegen weiterhin unter nationaler Aufsicht. Der SSM zeigt, wie europäische und nationale Behörden einander ergänzen und effizient zusammenarbeiten können.

Die zweite Stufe der Bankenunion ist der einheitliche europäische Abwicklungsmechanismus, den wir seit Anfang 2016 haben. Und gerade die Entwicklung der letzten Wochen hat gezeigt, dass auch dieser Regelrahmen funktioniert.

Fehlt noch die dritte Säule der Bankenunion: Die gemeinsame europäische Einlagensicherung. Hierfür ist nach Meinung der Bundesbank die Zeit noch nicht gekommen, weil grundlegende Bedingungen, wie etwa ein einheitliches Insolvenzrecht oder Kontrollrechte auf europäischer Ebene, fehlen. Aber mit der bestehenden Harmonisierung der nationalen Einlagensicherung steht auch diese Säule auf einem soliden, wenn auch nicht rein europäischen, Fundament.

Die Bankenunion zeigt also, dass Europa reformfähig ist. Wir brauchen daher nach meiner Überzeugung kein ganz neues Europa, sondern müssen uns darauf konzentrieren, das bestehende System zu verbessern.

4 Europa und die Musik

Meine Damen und Herren, die europäische Einigung war von Beginn an ein in erster Linie ökonomisches Projekt: Durch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik in einzelnen Sektoren erhofften sich die Väter Europas sogenannte "spill-over"-Effekte" auf andere Politikbereiche. Am Ende sollte dann eine politische Union stehen. Und zweifelsohne ist dieser ökonomische Weg ein wichtiger Katalysator für den europäischen Einigungsprozess. Aber es ist eben nicht der einzige – und das wird leider oft übersehen.

Denn uns Menschen macht so viel mehr als nur unser Wirtschaften aus. Die Kunst, die wir betrachten, die Sprache, die wir sprechen, das Essen, das wir genießen, die Musik, die wir hören – all das macht uns zu denjenigen, die wir sind. Und diese Saite in uns bespielt die Europäische Union noch viel zu selten.

Damit die europäische Einheit tragfähig ist, brauchen wir neben ökonomischen Erfolgen nach meiner festen Überzeugung auch eine gemeinsame kulturelle Identität. So sagte auch Jean Monnet, einer der Gründerväter der Europäischen Union, rückblickend: "Wenn ich noch einmal anfangen könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen."

Meine Damen und Herren, wie kann diese kulturelle Identität Europas entstehen? Sie entsteht sicherlich nicht durch Verordnungen, die in Brüssel erlassen werden und die die genaue Frequenz des pianissimo in Europa vereinheitlichen. Nein, sie entsteht durch Institutionen der Zivilgesellschaft. Sie entsteht durch gemeinsame Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche in und mit Europa machen und die ihr Verständnis für die Kultur der Nachbarn schärfen. Sie entsteht durch Institutionen wie die Kronberg Academy, die sich der Pflege eines großen europäischen Kulturguts verschrieben hat: Der klassischen Musik.

Klassische Musik ist nichts anderes als das, was in Europa durch Integration entstanden ist – aus der Vielfalt europäischer Musikstile, die sich über die Jahrhunderte gegenseitig beeinflusst haben und dennoch bis heute unverkennbar individuell geblieben sind. Das sind die klassischen Werke, die heute überall auf der Welt gespielt, gehört und verstanden werden.

Damit pflegt und entwickelt die Kronberg Academy einen Bestandteil europäischer Identität und europäischer Integration, der für jeden erfahrbar ist und verstanden werden kann.

Also: Quo vadis, Europa? Auch ich kann diese Frage heute nicht beantworten. Denn schlussendlich ist Europa eine Entscheidung aller – eine Entscheidung, die wir alle tagtäglich treffen müssen.  

Wie wir gesehen haben, steht die EU vor bedeutenden Herausforderungen: Angesichts derer müssen wir umso entschlossener daran arbeiten, das europäische System zu verbessern und für es zu werben. Dies wird zwar nicht immer leicht sein, aber Europa ist diese Mühen wert.

Und wir können optimistisch auf die kommenden Jahre schauen: Wir sind nicht mehr dabei, uns von Krisengipfel zu Krisengipfel zu hangeln. Wir sehen den politischen Willen für Veränderungen. Wir sehen eine solide wirtschaftliche Lage der Eurozone. Und wir sehen zum Beispiel anhand der Bankenunion, dass Reformen in der EU weiterhin umgesetzt werden. So düster, wie es uns mancher glauben machen mag, sieht es also gar nicht aus für die Zukunft Europas.

Ich wünsche mir, dass die US-Wahl, der Brexit-Entscheid und die Euro-Skepsis Anstoß für Reformen sind und uns motivieren, unermüdlich für ein besseres Europa zu arbeiten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.