Deutschlands „Geschäftsmodell“ in Gefahr? Rede mit anschließender Paneldiskussion, ikf institut für kredit- und finanzwirtschaft e.V.

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Begrüßung

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich danke Ihnen für die freundliche Begrüßung und für Ihre Einladung nach Bochum. Hier in Bochum findet sich beides: Altes und Neues. Der VfL Bochum zählt zu den ältesten Sportvereinen des Landes. Die Fußballabteilung kam zwar erst gut 100 Jahre später hinzu. Aber sie prägt den Verein. Und ganz aktuell darf sie sich nach einem grandiosen 3:0-Sieg gegen Leverkusen auf die kommende Saison in der 1. Bundesliga freuen. Die Ruhr-Universität Bochum hingegen ist eher jung, gegründet im Zuge des Strukturwandels in den 1960er Jahren. Tradition und Veränderungsbereitschaft – beides braucht es. Und beides wird in meiner heutigen Rede immer wieder aufscheinen. In ihr geht es um die Perspektiven der deutschen Wirtschaft. Dabei wird die Industrie eine wichtige Rolle spielen – genauer gesagt das Verarbeitende Gewerbe, wie es in der Wirtschaftsstatistik heißt. 

„Droht … ein Industrietod auf Raten?“ spitzte der Spiegel Ende vergangenen Jahres die Debatte über die Zukunftsaussichten der Industrie für die deutsche Wirtschaft zu.[1] Diese Diskussion hatte zunehmend Fahrt aufgenommen. Tatsächlich sieht sich unsere Industrie bedeutenden Herausforderungen gegenüber. Drei davon möchte ich heute beleuchten. Erstens: die Lieferketten. Sie haben sich in der Pandemie als viel anfälliger erwiesen, als wir uns das zuvor vorgestellt hätten. Die Lieferketten robuster zu machen, ist für jedes Unternehmen fundamental. Und auch für unsere so offene Volkswirtschaft insgesamt. Zweitens: die Energieversorgung. Bereits vor Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine lagen die deutschen Strompreise deutlich höher als dies durchschnittlich in den OECD-Ländern der Fall war. Auch Gas war im internationalen Vergleich nicht sonderlich günstig – der Geschichte vom billigen russischen Gas zum Trotz. In den vergangenen beiden Jahren, vor allem im Zuge des russischen Krieges, sind dann die Energiekosten phasenweise exorbitant gestiegen. Und in den kommenden Jahren dürften sie hierzulande weiterhin höher liegen als vor Beginn des Krieges. Dazu dürfte die Dekarbonisierung beitragen. Denn der CO2-Preis dürfte steigen. Und Investitionen müssen getätigt werden, um bis 2045 klimaneutral zu werden. Die dritte Herausforderung ist der demografische Wandel. Die Menschen, die in Deutschland leben, werden weniger und insgesamt älter. Das belastet das Arbeitsangebot und das trendmäßige Wirtschaftswachstum.

Angesichts dieser großen Herausforderungen schrieb die Zeitschrift Economist vor knapp drei Monaten: „Deutschland braucht eine wirtschaftspolitische Zeitenwende ebenso wie die von Herrn Scholz versprochene militärische und außenpolitische Wende.”[2] Braucht Deutschland, braucht die inländische Wirtschaft also einen grundlegenden Strukturwandel? Im Folgenden werde ich meine Sicht hierzu mit Ihnen teilen. Ich bin mir dabei vollkommen bewusst, dass ich hier in Bochum vor einem versierten Fachpublikum spreche. Und das nicht nur, weil viele von Ihnen Wirtschaftswissenschaften studiert haben, studieren oder sogar lehren. Sondern auch, weil Strukturwandel in Bochum schon seit Jahrzehnten ein vertrauter Begriff ist. Wie sonst könnte Bochum heute als Zentrum für IT-Sicherheit und als gern gewählter Standort für Unternehmen des Gesundheitswesens gelten – 50 Jahre, nachdem die letzte Zeche ihren Betrieb einstellte.

2 Industrie bedeutend für Deutschlands „Geschäftsmodell“

Lassen Sie mich zu Beginn auf eine deutsche Besonderheit hinweisen. Die große Bedeutung des Verarbeitenden Gewerbes (Schaubild 2). In Deutschland liegt der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes nennenswert höher als in den meisten anderen fortgeschrittenen VolkswirtschaftenKnapp 20 Prozent trägt es hierzulande zum Bruttoinlandsprodukt bei; im Vereinigten Königreich ist der Anteil nicht mal halb so hoch. Und nur in Japan liegt er ein wenig höher als in Deutschland. Besonders beachtlich ist aber, dass dieser Anteil in Deutschland seit den 1990er-Jahren fast stabil geblieben ist. In den übrigen fortgeschrittenen Volkswirtschaften ging er hingegen nennenswert zurück zugunsten der Dienstleistungen.

Wir sehen: Das Verarbeitende Gewerbe hat in Deutschland eine große Bedeutung. Dies ist ein wichtiger Aspekt dessen, was vereinfachend als „Deutschlands Geschäftsmodell“ bezeichnet wird – der Außenhandel ist ein weiterer Aspekt, auf den ich gleich noch zu sprechen komme. Wie wirken aber die genannten drei Herausforderungen auf dieses „Geschäftsmodell“? Darauf gehe ich nun näher ein, beginnend mit den Lieferketten. 

3 Neujustierung internationaler Wertschöpfungsketten

Die internationalen Wertschöpfungsketten erfuhren in den 1990er-Jahren und zu Beginn dieses Jahrtausends einen erheblichen Wandel. Grund war die rasante Globalisierung in dieser Zeit (Schaubild 3). Wesentliche Treiber hierfür waren der Abbau von Handelsbarrieren, der Fall des Eisernen Vorhangs und die Einbindung Chinas in das internationale Handelssystem. Hinzu kamen die Revolution der Informations- und Kommunikationssysteme sowie zurückgehende Transportkosten. In der Folge wurden Lieferketten zunehmend international gestaltet: Nicht nur Endprodukte, sondern auch Vor- und Zwischenprodukte wurden immer stärker weltweit gehandelt. Für eine bereits offene Volkswirtschaft wie die deutsche bot dies große Chancen. Die deutsche Industrie nutzte sie. Und so stieg hierzulande der Anteil von Exporten und Importen am Bruttoinlandsprodukt noch weiter steil an. Die deutsche Wirtschaft wurde zunehmend offener, weit mehr noch alsLänder wie Frankreich, Italien und das Vereinigte Königreich. 

Während der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise brach die Außenhandelsquote kurzfristig ein. Sie erholte sich dann aber relativ schnell wieder und steigt seitdem weiter, allerdings auf einem flacheren Pfad. Dabei spielt eine Rolle, dass die Globalisierung sich verlangsamt hat. Ein Grund hierfür sind zunehmend protektionistische Tendenzen. Dies war beispielsweise in den Vereinigten Staaten unter Präsident Trump der Fall. Dort wurden Zusatzzölle gegen China und andere Handelspartner verhängt. Entgegen den Hoffnungen stärkte dies die US-Wirtschaft zwar nicht. Aber die internationalen Warenströme wurden dünner.[3] Auch der Brexit bremste den Handel. Zwischen dem Euroraum und dem Vereinigten Königreich entwickelte sich der Handel in den vergangenen Jahren weit weniger dynamisch als zwischen dem Euroraum und der restlichen Welt.

Zum rasanten Wachstum des deutschen Außenhandels in den letzten zwei Jahrzehnten hat ein Land ganz erheblich beigetragen: China. Es ist für Deutschland sowohl als Lieferant und auch als Absatzmarkt wichtiger geworden (Schaubild 4). Der Handel zwischen Deutschland und China hat sich ab 2005 dynamischer entwickelt als derjenige innerhalb der EU und als der Handel mit den Vereinigten Staaten. Das gilt sowohl für die Einfuhren nach Deutschland, als auch für die Ausfuhren von Deutschland. Insgesamt war China 2022 zum siebten Mal in Folge Deutschlands wichtigster Handelspartner. Mit Blick auf einzelne Produktgruppen heißt das zum Beispiel Folgendes: Deutsche Autobauer setzen rund ein Drittel ihrer Fahrzeuge in China ab. Und hier gekaufte Laptops oder Smartphones kommen zu mehr als zwei Dritteln aus China.[4]

Eine starke Verflechtung ist zunächst einmal positiv. Denn internationale Arbeitsteilung kann den Wohlstand steigern. Allerdings können Verflechtungen mit Abhängigkeiten und insofern auch mit Risiken einhergehen. Hier lohnt ein Blick auf Rohstoffe und Vorprodukte, die aus China importiert werden und hierzulande in die industrielle Fertigung eingehen. Diese Lieferungen aus China stehen für einen wertmäßig deutlich geringeren Anteil, als dies bei vielen Endprodukten der Fall ist. Aber diese Rohstoffe und Vorprodukte sind in den industriellen Lieferketten oft nur mit hohem Aufwand zu ersetzen. Denken Sie an Seltene Erden. Diese sind beispielsweise für den Bau von Motoren für Elektrofahrzeuge und Windgeneratoren unerlässlich. Bei der Aufbereitung und Verarbeitung von Seltenen Erden steht China für einen Weltmarktanteil von rund 90 Prozent.[5] Entsprechend bezieht Deutschland seine Importe von Seltenen Erden fast ausschließlich aus China.[6] Ähnlich ist die Situation für die deutsche Industrie bei spezialisierten Vorleistungsgütern. Sie werden im Extremfall nur von einem chinesischen Zulieferer angeboten. Am stärksten ist der Chemiesektor hierzulande von China abhängig. Das ifo Institut hat festgestellt, dass von den aus China importierten kritischen Industriegütern knapp 27 Prozent auf Chemiegüter entfallen.[7]

In Deutschland rücken die mit starker internationaler Verflechtung einhergehenden Risiken nun zunehmend in den Blick und werden stärker gewichtet. Unternehmen geben in Umfragen an, dass sie prüfen, wie sie die Lieferketten widerstandsfähiger machen können. Diversifizierte Bezugsquellen sind hierfür ein möglicher Hebel. Allerdings lässt sich dieser Hebel keineswegs einfach ansetzen. Seltene Erden-Vorkommen gibt es beispielsweise auch in anderen Regionen der Welt, zum Beispiel in Australien und Grönland. Aber dort müssten sie erst aufwändig und langwierig erschlossen und gefördert werden. Aber auch eine veränderte Lagerhaltung kann Risiken in den Lieferketten reduzieren. Es wird also eine neue Balance zwischen Effizienz und Resilienz gesucht. 

Bei einer grundsätzlich veränderten Risikolage, etwa wegen geopolitischer Spannungen, erscheint es auch unter Effizienzgesichtspunkten volkswirtschaftlich sinnvoll, die Lieferketten umzustellen. Mitunter ist von „Friendshoring“ die Rede, also davon, Vorprodukte bevorzugt aus befreundeten Staaten zu beziehen. Und von „Nearshoring“, bei dem Lieferungen aus nahe gelegenen Staaten eine größere Rolle spielen. Wenn die Lieferketten grundlegend umgestellt würden, so wäre dies ein zeit- und kostenintensiver Prozess. Grundsätzlich aber gilt: Staatliche Eingriffe in den internationalen Handel jenseits der Festlegung allgemeiner Regeln bedürfen einer besonderen Begründung und sollten ein Ausnahmefall bleiben. Dabei ist im Auge zu behalten, dass mit Einschränkungen des Handels immer auch Wohlstandsverluste einhergehen. Diese können je nach Bedeutung des Handelspartners beträchtlich sein.[8] Eine wichtige Rolle könnten regionale Freihandelsabkommen spielen. Denn sie können europäischen Unternehmen eine Diversifizierung ihrer Handelspartner erleichtern.

Damit komme ich zur zweiten großen Herausforderung für die deutsche Industrie: dem Wandel der Energieversorgung. Mit ihm können insbesondere in einer Übergangszeit erhebliche Kosten einhergehen, bis die Unternehmen den Wegfall der Energiequellen aus Atomkraft und aus Russland verarbeitet und auf grüne Energiequellen umgestellt haben.

4 Preisliche Wettbewerbsfähigkeit und Ertragslage der deutschen Wirtschaft

Welchen Spielraum aber haben deutsche Unternehmen, diese Belastungen zu tragen? Hierfür lohnt der Blick auf zwei Indikatoren, die preisliche Wettbewerbsfähigkeit und die Ertragslage. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit ist einer der zentralen Einflussfaktoren für den Exporterfolg der deutschen Wirtschaft. Vergleicht man die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft mit 27 ausgewählten Industrieländern, so sehen wir eine erfreuliche, längerfristige Entwicklung: Seit etwa zwölf Jahren übertrifft die preisliche Wettbewerbsfähigkeit deutscher Anbieter ihren langfristigen Durchschnitt (Schaubild 5).

Ein zweiter, wichtiger Indikator für die Belastbarkeit der Unternehmen ist die Ertragslage, also das Jahresergebnis vor Steuern in Prozent des Umsatzes (Schaubild 6). Die Erträge im Verarbeitenden Gewerbe sind dabei schwankungsanfälliger: Hier fällt die Ertragsentwicklung in Krisenzeiten also deutlich stärker, erholt sich aber danach auch schneller. So war es bei der Finanz- und Wirtschaftskrise und auch bei der Corona-Pandemie. Im Großen und Ganzen hat sich die Ertragslage der deutschen Unternehmen jeweils bemerkenswert zügig erholt. Vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kletterte die Ertragslage für die Gesamtwirtschaft und das Verarbeitende Gewerbe auf ein im historischen Vergleich hohes Niveau. 

Selbstverständlich dürften der Krieg und die damit verbundenen Energiepreisanstiege nicht ohne Auswirkung auf die Ertragslage geblieben sein (Schaubild 7). Das gilt insbesondere für Industrieunternehmen.[9] Zwar war Gas in Europa und auch in Deutschland schon vor dem Krieg teurer als in den USA. Dies hat sich jedoch deutlich verstärkt – infolge der bereits im Jahr 2021 gedrosselten russischen Gaslieferungen. Es ist davon auszugehen, dass Gas auch mittelfristig in Europa teurer als in den Vereinigten Staaten sein wird. Dies gilt auch für die Endkunden und ebenfalls für Strom. Die Auswirkungen auf die Ertragslage lassen sich vorerst nur kursorisch oder mit Simulationsrechnungen abschätzen. 

Die Auswirkungen auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit lassen sich hingegen bereits beziffern (Schaubild 8). Im Jahr 2022 hat der relative Energiepreisanstieg bis zu seinem Höhepunkt im September die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands spürbar um etwa 0,9 Prozent belastet.[10] Branchen mit überdurchschnittlichem Energiekostenanteil in der Produktion wie etwa die Chemie- und die Papierindustrie waren und sind natürlich stärker betroffen. Allerdings spielte im gleichen Zeitraum die Wechselkursentwicklung der deutschen Wirtschaft in die Karten: Der Euro wertete gegenüber dem US-Dollar um 12,5 Prozent ab. Dies wiederum verbesserte die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands um 1,9 Prozent. Diese vorübergehende Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar dürfte auf die kräftigen Leitzinserhöhungen der US-Notenbank Fed zurückzuführen sein, die früher begannen als im Euroraum. Inzwischen hat der Euro die Kursverluste größtenteils wieder wettgemacht.

Insgesamt erscheint der deutsche Unternehmenssektor mit Blick auf seine preisliche Wettbewerbsfähigkeit im Durchschnitt robust. Energieintensive Industrien wurden allerdings durch den Energiepreisanstieg überdurchschnittlich belastet und haben an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Dank guter Ertrags- und Finanzierungsverhältnisse sollten die Unternehmen die gestiegenen Energiepreise im Allgemeinen gut abfedern können.[11] Bei sonst gleichen Bedingungen dürfte aber für energieintensive Industrieanlagen ein Anreiz bestehen, eher in Ländern zu investieren, in denen die Energiekosten vergleichsweise niedrig sind und bleiben. Natürlich reicht es dabei nicht, nur die aktuellen Energiekosten zu veranschlagen: Die Dekarbonisierung ist eine globale Notwendigkeit. Also gilt es, die Kosten für die Energien der Zukunft in den Blick zu nehmen. Für den Investitionsstandort Deutschland bedeutet das Risiken und Chancen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun die dritte Herausforderung für die deutsche Wirtschaft mit in den Blick nehmen, die demografische Entwicklung. So lautet eine Sorge: Der demografische Wandel schränkt unsere Möglichkeiten ein, Wohlstand zu schaffen – ebenso wie die zumindest vorübergehende Verteuerung von Energie. Denn der demografische Wandel verschlechtert die Wachstumsperspektiven der deutschen Wirtschaft. Und das gilt sowohl insgesamt als auch in Pro-Kopf-Betrachtung. Damit spreche ich das Produktionspotenzial an, mit dem wir für die nächsten Jahre rechnen können. Wie wird es sich durch den demografischen Wandel und zumindest vorübergehend durch die höheren Energiekosten verändern?

5 Auswirkungen von Energiekosten und Demografie auf das Produktionspotenzial der deutschen Wirtschaft

Für sich genommen würden dauerhaft höhere Energiepreise den Wachstumspfad des Produktionspotenzials zeitweise belasten. Unsere Fachleute haben im Juni 2022 den Wachstumspfad des Produktionspotenzials für die Jahre 2022 bis 2025 noch deutlich steiler eingeschätzt als im Dezember 2022.[12] Der Unterschied, der sich ergibt, wird ganz wesentlich von den erwartet höheren Energiekosten getrieben (Schaubild 10). Dabei können wir zwei Anpassungsprozesse unterscheiden: Erstens schwächen die höheren Energiekosten die Produktivität. Denn bei gegebenem Arbeits- und Kapitaleinsatz kann aufgrund verteuerter Energievorleistungen nur weniger Wertschöpfung erzielt werden. Und zweitens gestalten Unternehmen ihre Produktionsprozesse um. Sie schreiben die energieintensiven Anlagen ab, die bei den höheren Energiepreisen nicht mehr rentabel sind. Dies belastet den gesamtwirtschaftlichen Kapitaleinsatz. 

Das Produktionspotenzial der deutschen Wirtschaft wird darüber hinaus belastet aufgrund der hierzulande alternden und sinkenden Bevölkerung. Dies wiegt schwer auf dem mittelfristigen Wirtschaftswachstum, sofern sich an den Rahmenbedingungen nichts ändert (Schaubild 11). Das in unserer Wirtschaft zur Verfügung stehende Arbeitsvolumen nimmt ab. Das liegt vor allem an der erheblich reduzierten Erwerbsbeteiligung. Weil der Anteil älterer Beschäftigter an den Erwerbspersonen steigt, sinkt die Erwerbsbeteiligung. Denn Ältere arbeiten in der Regel weniger als Jüngere. Hier machen sich Altersteilzeit oder ein früherer Renteneintritt bemerkbar. Dieser Altersstruktureffekt wird schon in wenigen Jahren zu einem Rückgang des Arbeitsvolumens führen.

Bei der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ändert sich die Situation grundlegend. In den vergangenen Jahren ist die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter gestiegen. Eine starke, arbeitsmarktorientierte Nettozuwanderung glich den Rückgang der einheimischen Erwerbsbevölkerung zumindest zahlenmäßig mehr als aus; jüngst spielten hier die aus der Ukraine geflohenen Menschen eine große Rolle. Aber schon ab 2026 wird die Nettomigration das Ausscheiden der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt wohl nicht mehr ausgleichen.

Es gibt aber Wege, um das Arbeitsvolumen zu stützen. Ein Weg wäre eine vermehrte Fachkräftezuwanderung. Diese gut zu gestalten, steht zurecht aktuell weit oben auf der politischen Agenda. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2020 wurde ein erster Schritt getan. Dessen Wirkung ist bislang allerdings überschaubar. Deshalb sind weitere Schritte wünschenswert, um qualifizierten Ausländern den Eintritt in den deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern, beispielsweise ein Punktesystem. Dieses würde in die potenziellen Herkunftsländer eine wichtige Botschaft senden, nämlich: Es gibt Zuwanderungswege in den deutschen Arbeitsmarkt jenseits der Fluchtmigration. Geboten sind zudem schnellere Prozesse: bei der Anerkennung ausländischer Berufs- und Studienabschlüsse und auch beim Bearbeiten von Visumsanträgen in den deutschen konsularischen Vertretungen im Ausland. Zudem könnte die EU-BlueCard für Hochqualifizierte hierzulande noch mehr Wirkung entfalten. Dafür sollte sie in nationales Recht überführt und für Personen mit mittleren Abschlüssen geöffnet werden. Außer Frage steht: Es sind Anstrengungen in diesem Feld geboten. Denn Deutschland hat als Einwanderungsland für Erwerbspersonen viel Konkurrenz. Perspektivisch werden wohl auch Schwellenländer um Erwerbsmigranten werben, denn auch sie sind aus wirtschaftlichen Gründen auf Zuwanderung angewiesen, beispielsweise Mexiko und China. Hierauf wies jüngst die Weltbank hin. [13]

Ein zusätzlicher Weg ist, Erwerbsfähige vermehrt zu Erwerbsbeteiligten zu machen, wenn insbesondere Frauen und Ältere noch stärker als bislang in die Lohnarbeit integriert wären. Helfen könnten beispielsweise bessere Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Pflegebedürftige. Allerdings wies das Statistische Bundesamt unlängst darauf hin, dass eine stärkere Erwerbsbeteiligung allein den demografischen Effekt nicht komplett ausgleichen könnte.[14] 

Fachleute aus unterschiedlichen Institutionen weisen darauf hin, dass – aus verschiedenen Gründen – auch das gesetzliche Rentenalter als Option diskutiert werden sollte.[15] Würde es zum Beispiel an die Lebenserwartung gebunden, so würden das Arbeitskräfteangebot in den kommenden Jahren gestärkt und damit auch das Produktionspotenzial (Schaubild 12). Die Idee wäre, dass bei steigender Lebenserwartung die hinzugewonnenen Lebensjahre sowohl die Rentenphase als auch die Erwerbsphase verlängern. Heute dauert die Rentenphase im Durchschnitt gut 40 Prozent der Erwerbszeit. Ein Ansatz wäre, diese Relation zu stabilisieren.

Meine Damen und Herren, ich habe erläutert, dass das Produktionspotenzial voraussichtlich von erhöhten Energiekosten und demografischer Entwicklung belastet wird. Könnten Produktivitätsgewinne dem entgegenwirken? Ja, die Möglichkeit gibt es. Dazu müssten die Rahmenbedingungen verbessert werden. Ältere Erwerbstätige und Zuwandernde mit geringer Qualifikation sollten beispielsweise konsequent aus- und weitergebildet werden. Ebenso konsequent sollten die Potenziale der Digitalisierung gehoben werden.

Ein Blick auf die zurückliegenden 25 Jahre zeigt, wie bemerkenswert die Effizienzsteigerung in den Digitalsektoren verglichen mit dem Rest der Wirtschaft war (Schaubild 13). Damit meine ich neben dem Wirtschaftszweig Information und Kommunikation auch Teile des Verarbeitenden Gewerbes, die zum Beispiel EDV-Geräte sowie elektronische Erzeugnisse und Ausrüstungen herstellen. Trotz der überschaubaren wirtschaftlichen Größe haben die Digitalsektoren damit erheblich zum gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt beigetragen. Die gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsimpulse ergaben sich dabei nicht nur aufgrund von Investitionen in digitale Ausstattung. Sie sind ganz wesentlich digitalen Vorleistungen zu verdanken, die in zahlreiche Endprodukte eingehen. Allerdings haben die Produktivitätsimpulse der Digitalisierung seit dem Jahr 2014 tendenziell abgenommen. Dies zeigt sich auch in anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften. 

Der Digitalisierungsschub während der Corona-Pandemie könnte die künftige Produktivitätsentwicklung stärken. Befragungen von Unternehmen stützen diese vorläufige Einschätzung.[16] Allerdings scheinen die Produktivitätsgewinne vor allem bei großen Unternehmen erzielt worden zu sein. In kleineren, weniger produktiven Unternehmen beschleunigte sich die Digitalisierung laut der Unternehmensbefragung kaum. Es gibt also eine digitale Kluft in der Unternehmenslandschaft. Würden die Unternehmen gleichmäßiger in digitale Technologien investieren, könnten die gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsgewinne größer ausfallen.[17]

6 Fazit

Meine Damen und Herren, ein Staat wie Deutschland hat natürlich kein „Geschäftsmodell“, sondern es gibt viele einzelne Unternehmen. Und jedes hat sein eigenes Geschäftsmodell. Insgesamt ist dennoch klar: Der deutsche Unternehmenssektor steht vor Herausforderungen. Vertieft behandelt habe ich die Lieferketten, die Energiekosten und die Demografie. Daneben hätte ich auch ökologische Nachhaltigkeit und den Klimawandel nennen können, die über die Energiewende hinausgehen. Die Digitalisierung bietet großes Potenzial, den nötigen Strukturwandel zu bewältigen. Aber auch sie fordert die deutsche Wirtschaft heraus.

Klar ist: Insbesondere die deutsche Industrie wird einen Anpassungsprozess durchlaufen müssen. Unterstützung dürfte dabei sicher gern gesehen werden. Und zu Recht: Für eine gelungene Zukunft spielen auch staatlich gestaltete Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Beispielsweise effiziente Verwaltungsprozesse, eine gute Infrastruktur, eine verlässliche und konsistente Klimapolitik – mit zielführenden CO2-Preisen und zügigen Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien und den Netzausbau – sowie gute Bedingungen für die Erwerbsbeteiligung und für die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt.

Als Bundesbankpräsident füge ich hinzu: Selbstverständlich gehören stabile Preise mit auf die Liste der wichtigen Rahmenbedingungen. Nach vorläufigen Angaben lag die harmonisiert berechnete Inflationsrate zuletzt (im Mai) in Deutschland bei 6,3 Prozent, im Euroraum bei 6,1 Prozent. Auch wenn das deutlich weniger ist als noch im vergangenen Herbst – von stabilen Preisen kann nicht die Rede sein. Der zugrundeliegende Preisdruck ist ebenfalls viel zu hoch, und er geht bislang kaum zurück. Im Mai dürfte die Kerninflation (ohne Nahrungsmittel und Energie) in Deutschland bei 5,1 Prozent gelegen haben, im Euroraum bei 5,3 Prozent. Die Geldpolitik darf und wird deshalb im Einsatz gegen die Inflation nicht nachlassen. Wir müssen noch hartnäckiger sein als die gegenwärtige Inflation. 

Ich setze mich mit aller Kraft dafür ein, dass wir die hohe Inflation bald hinter uns gebracht haben. Dafür braucht es in meinen Augen dreierlei: Erstens ein ausreichend hohes Zinsniveau. Aus heutiger Sicht sind noch mehrere Zinsschritte nötig. Für mich ist nicht ausgemacht, dass wir den Zinsgipfel bereits im Sommer erreichen. Zweitens, wenn die Zinsen hoch genug sind, um die hohe Inflation zu überwinden, dann müssen wir dieses Zinsniveau so lange halten, bis zweifelsfrei klar ist, dass wir unser Ziel von 2 Prozent Inflation zeitnah erreichen. Und drittens muss diese Zinspolitik unterstützt werden, indem wir die Anleihebestände auf unserer Bilanz verringern. Dieser Bilanz-Abbau flankiert unsere Zinserhöhungen. Ab Juli wollen wir das Abbautempo erhöhen – das begrüße ich sehr. Diese Maßnahmen helfen uns, die Teuerungswelle hinter uns zu lassen und zu einem stabilen Rahmen zurückzukehren. 

Für die Unternehmen in Deutschland, insbesondere für die Industrie, ist ein verlässlicher, beschäftigungs- und investitionsfreundlicher Rahmen von großer Bedeutung. Innerhalb dieses Rahmens dürften marktwirtschaftliche Anpassungsprozesse zu den besten Ergebnissen führen. Denn Veränderung – das ist für Unternehmen nichts Neues. Veränderung stand schon oft vor der Tür und wurde schon oft gemeistert. Herbert Grönemeyer besingt diese gleichbleibende Veränderung beeindruckend in seinem Stück „Bleibt alles anders“. Die deutsche Wirtschaft hat ihre Anpassungsfähigkeit schon oft unter Beweis gestellt: in der Hochphase der Globalisierung ebenso wie bei strukturellen Veränderungen der weltweiten Nachfrage nach Gütern und jüngst in der Energiekrise.

Ja, nach den jüngsten Angaben des Statistischen Bundesamtes ist die deutsche Wirtschaft in den vergangenen beiden Quartalen geschrumpft – unter der Last der stark gestiegenen Energiepreise und der hohen Inflation. Sie befindet sich damit in einer technischen Rezession. Allerdings entspricht der Rückgang der Wirtschaftsleistung vom Umfang her demjenigen, der in der Bundesbank-Projektion vom Dezember 2022 erwartet worden war. Zwischenzeitliche Anzeichen dafür, dass die deutsche Wirtschaft deutlich besser durch den Winter gekommen ist als gedacht, haben sich somit zwar leider nicht bestätigt. Aber es gab auch weit schlimmere Befürchtungen eines schweren Wirtschaftseinbruchs infolge einer Gasmangellage. Sie haben sich auch nicht eingestellt. Und mit Blick auf den weiteren Jahresverlauf sind unsere Konjunkturfachleute vorsichtig optimistisch. Es sollte also schon bald wieder aufwärts gehen. 

Schließlich hat Deutschland als Unternehmensstandort traditionell einiges zu bieten: gut ausgebildete Arbeitskräfte, eine gute Infrastruktur und konsensorientierte Tarifpartner. So habe ich keinen Zweifel, dass die deutsche Wirtschaft die bevorstehenden Herausforderungen gut meistern kann. 

Nun danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bin gespannt auf unseren Austausch.

 

Fußnoten:

  1. Book, S. et al., Die Panik der Bosse, Der Spiegel, 17.9.2022, S. 24.

  2. The Economist, 18.3.23, Germany is at last tackling its long-standing economic weaknesses (economist.com); eigene Übersetzung.

  3. Vgl. Deutsche Bundesbank, Folgen des zunehmenden Protektionismus, Monatsbericht, Januar 2020, S. 49 – 71.

  4. IfW Kiel, Institut für Weltwirtschaft, Policy Brief Nr. 164, Februar 2023, S. 8f.

  5. Internationale Energieagentur (2023), Energy Technology Perspectives 2023, Januar 2023, Paris, S. 177, abrufbar unter: https://iea.blob.core.windows.net/assets/a86b480e-2b03-4e25-bae1-da1395e0b620/EnergyTechnologyPerspectives2023.pdf.

  6. Außenhandel mit China im 1. Quartal 2023 um 10,5 % gegenüber dem Vorjahresquartal gesunken - Statistisches Bundesamt (destatis.de)

  7. Baur, A. und Flach, L. (2022), Deutsch-chinesische Handelsbeziehungen: Wie abhängig ist Deutschland vom Reich der Mitte? | Publikationen | ifo Institut, ifo Schnelldienst 4 / 2022, 75. Jahrgang, 13. April 2022, S. 60.

  8. Dorn, F., L. Flach, C. Fuest und L. Scheckenhofer (2022), Langfristige Effekte von Deglobalisierung und Handelskriegen auf die deutsche Wirtschaft (ifo.de)ifo Schnelldienst 9 / 2022, 75. Jahrgang, 14. September 2022.

  9. Vgl. Deutsche Bundesbank (2023), Auswirkungen höherer Energiekosten auf die Ertragskraft deutscher Industrieunternehmen, Monatsbericht, März 2023, S. 71-73.

  10. Vgl. Deutsche Bundesbank (2022), Energiepreisanstieg, Wechselkurs des Euro und preisliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, Monatsbericht, Dezember 2022, S. 47 – 56.

  11. Vgl. Deutsche Bundesbank (2023), Auswirkungen höherer Energiekosten auf die Ertragskraft deutscher Industrieunternehmen, Monatsbericht, März 2023, S. 71 – 73.

  12. Vgl. Deutsche Bundesbank (2022), Energiepreisanstieg, Wechselkurs des Euro und preisliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, Monatsbericht, Dezember 2022, S. 47 – 56.

  13. World Bank Group (2023), World Development Report, Migrants, Refugees, and Societies, WDR_FullReport.pdf, S. 70ff.

  14. Statistisches Bundesamt (2023), Arbeitskräfteangebot: Erwerbsbeteiligung unter den 25- bis 59-Jährigen 2022 mit 87 % bereits auf sehr hohem Niveau, 27.4.2023.

  15. Vgl. Deutsche Bundesbank (2022), Rentenversicherung: Langfristszenarien und Reformoptionen, Monatsbericht, Juni 2022, S. 49 – 63; Deutsche Bundesbank (2019), Langfristige Perspektiven der gesetzlichen Rentenversicherung, Monatsbericht, Oktober 2019, S. 55 – 82; Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2021), Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), 22. April 2021; Internationaler Währungsfonds (2019), Germany, 2019 Article IV Consultation – Press Release; Staff Report and Statement by the Executive Director for Germany, IMF Country Report 19/213, Juli 2019; OECD (2020), OECD Economic Surveys: Germany 2020, OECD Publishing; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2020), Corona-Krise gemeinsam bewältigen, Resilienz und Wachstum stärken, Jahresgutachten 2020/2021, 10. November 2021.

  16. Deutsche Bundesbank (2022), Produktivitätswirkungen der Reallokation im Unternehmenssektor während der Coronavirus-Krise, Monatsbericht, September 2022, S. 55.

  17. Deutsche Bundesbank (2022), Produktivitätswirkungen der Reallokation im Unternehmenssektor während der Coronavirus-Krise, Monatsbericht, September 2022, S. 55.