„Die große Welle der Inflation ist überstanden“ Interview mit der F.A.Z.
Das Gespräch führte Christian Siedenbiedel.
Herr Nagel, ist die schreckliche Inflationswelle endlich vorüber?
Ja, aus meiner Sicht läuft die Inflationswelle aus. Sie war in der ersten Phase sehr herausfordernd, oder wie Sie es sagen: schrecklich. Aber jetzt sind wir im Euroraum auf gutem Wege, dass wir unser Inflationsziel von 2 Prozent nachhaltig erreichen. Das werden wir laut der Eurosystem-Prognose vom Juni Ende 2025 schaffen. In Deutschland trügt die am harmonisierten Verbraucherpreisindex gemessene Inflationsrate von 2 Prozent im August ein wenig, schon aus rein technischen Gründen: Der Vergleich zum Vorjahr – also zum August 2023 – fällt günstiger aus als in anderen Monaten. Es wird demnächst auch wieder etwas höhere Raten geben. Aber ich denke, das Schlimmste haben wir hinter uns. Die große Welle ist überstanden.
Kann es noch passieren, dass die Inflation aus dem Ruder läuft?
Das sehe ich nicht. Wenn es keinen weiteren unerwarteten großen Schock gibt, wie es beispielsweise im Februar 2022 der Angriff Russlands auf die Ukraine war, dann sollte sich die Inflation im Trend weiter auf 2 Prozent zubewegen. Wir dürfen dennoch nicht vorzeitig in Jubel ausbrechen und uns auf die Schulter klopfen. Noch sind wir nicht am Ziel. Wir müssen weiter aufmerksam bleiben und die Risiken auf dem Weg zurück zu stabilen Preisen im Blick behalten, das ist unsere Aufgabe als Zentralbank.
Wie ernst muss man denn die wiederholten Überraschungen nach oben bei der Dienstleistungsinflation nehmen?
Die höheren Preissteigerungen der Dienstleister nehmen wir ernst. Dienstleistungen machen immerhin knapp die Hälfte des Warenkorbs der Verbraucherinnen und Verbraucher aus, das ist viel. In Deutschland steigen die Preise von Dienstleistungen immer noch um etwa 4 Prozent pro Jahr. Dazu tragen insbesondere hohe Lohnzuwächse bei. Und wir erwarten auch im Jahresverlauf 2024 für Deutschland weiter relativ hohe Lohnabschlüsse. Die Tariflöhne dürften auf Jahressicht um rund 6 Prozent steigen. Die monatlichen Werte schwanken zwar, aber insgesamt bleibt der Lohndruck in Deutschland zunächst hoch.
Sollte die EZB es aus Ihrer Sicht dann wagen, im September zum zweiten Mal die Zinsen zu senken?
Im EZB-Rat haben wir betont, dass wir uns nicht vorab festlegen und abhängig von den Daten entscheiden. Es war klug, nach der Zinssenkung im Juni dann im Juli erst einmal abzuwarten und die Zinsen nicht weiter zu senken. Deshalb werde ich mich wirklich erst in der EZB-Ratssitzung nächste Woche entscheiden, dann habe ich den kompletten Überblick über alle Daten. Wir sind auch weiterhin nicht mit dem Autopiloten unterwegs. Aber ich sage mal: Ich sehe die Inflation auf gutem Wege.
Bei der ersten Zinssenkung im Juni hatte nur Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann gegen den Schritt gestimmt. Immerhin hatte die EZB gerade ihre Inflationsprognosen hochsetzen müssen. Hatten Sie bei der Zinssenkung keine Bedenken?
Nein, ich hatte im Juni keine Bedenken. Für mich haben die Daten einen solchen Zinsschritt gerechtfertigt. Denn sie haben die Gesamtrichtung, also den Rückgang der Inflationsrate über einen längeren Zeitraum, nicht infrage gestellt. Und unsere Geldpolitik ist auch nach der Zinssenkung noch straff. Trotzdem respektiere ich natürlich die Entscheidung des Kollegen Robert Holzmann.
Zur Zeit Ihres Vorgängers Jens Weidmann war der es oft, der im EZB-Rat die Rolle des schärfsten Falken, des entschiedensten Anwalts einer straffen Geldpolitik, übernahm. Wie sehen Sie Ihre Rolle in dem Gremium?
Der Vergleich mit einer ganz anderen Situation ist immer schwer, zudem sollten besser andere meine Arbeit bewerten. Wir entscheiden im EZB-Rat als Team, das eine verantwortungsvolle Geldpolitik für den Euroraum machen will. Ich möchte mit den Kolleginnen und Kollegen im EZB-Rat gemeinsam nach Lösungen suchen und deshalb eher auf das gesamte Team blicken als auf Einzelne. Ich glaube, uns ist da in den vergangenen zwei Jahren eine gute Leistung gelungen: Wir haben es geschafft, die Inflation unter schwierigen Bedingungen zurückzuführen.
Es gibt Ökonomen, die befürchten, die Inflation könnte sich mittelfristig spürbar oberhalb des EZB-Ziels von 2 Prozent einpendeln. Ist aus Ihrer Sicht das Risiko einer künftig strukturell höheren Inflation so ganz von der Hand zu weisen?
Hier müssen zwei Dinge klar auseinandergehalten werden. Einmal gibt es die Frage, ob wir zukünftig höheren Preisdruck haben werden. Das kann ich nicht ausschließen. Wir schauen uns genau an, wie sich bestimmte Entwicklungen auf die Inflation auswirken, zum Beispiel die geopolitischen Entwicklungen, die grüne Transformation, die demographische Entwicklung. Einige aus der Wissenschaft erwarten dadurch Druck hin zu höheren Inflationsraten. Auf einem ganz anderen Blatt steht die Frage, ob es deshalb langfristig höhere Inflation geben wird. Und da sage ich ganz klar: Das hat die Geldpolitik in der Hand. Unser Auftrag lautet Preisstabilität.
Würden Sie denn eigentlich sagen, die EZB trifft eine Mitschuld daran, dass die Inflation in den letzten Jahren so aus dem Ruder gelaufen ist?
Von Schuld würde ich in dem Zusammenhang nicht sprechen, das ist mir die falsche Kategorie. Im Nachhinein sind wir immer alle schlauer. Was sicher richtig ist: Ende des Jahres 2021 – bevor ich in den EZB-Rat kam –, da war schon absehbar, dass die Inflationsrate anziehen würde, und die EZB hat weiterhin Anleihen gekauft. Im Januar 2022 – vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine – hatten wir schon eine Inflationsrate von 5 Prozent, was auch an der Corona-Pandemie gelegen haben dürfte. Wir werden uns in der gerade begonnenen EZB-Strategieüberprüfung anschauen müssen, welche Rolle die geldpolitischen Maßnahmen der Niedriginflationsphase gespielt haben, zum Beispiel die Anleihekäufe.
War es ein Knackpunkt, dass die EZB sich festgelegt hatte, zuerst die Anleihekäufe auslaufen zu lassen und erst dann die Zinsen zu erhöhen? Der Ökonom Markus Brunnermeier äußerte das unlängst in einer Diskussion mit Ihnen. So konnte die Notenbank nicht schnell mit Zinserhöhungen reagieren, als die Inflation es erfordert hätte . . .
Es war damals wichtig, die Finanzmärkte schrittweise auf diese Wende vorzubereiten. Das ist in mehreren Ankündigungen von Dezember 2021 an passiert. Wenn Sie sich die Entwicklung an den Finanzmärkten anschauen, dann würde ich sagen: Die Märkte haben die Kommunikation verstanden, sie waren vorbereitet. Die EZB hat dadurch erreicht, dass die negativen Begleiterscheinungen, die sonst oftmals mit geldpolitischen Kursänderungen verbunden sind, relativ übersichtlich geblieben sind.
Wie sehen Sie als Bundesbankpräsident denn aktuell die Wirtschaftslage in Deutschland. Wird die schlechtgeredet?
Wir haben es mit einer wirtschaftlichen Situation zu tun, die von starken Gegenwinden geprägt ist. Aktuelle Unternehmensmeldungen machen deutlich, dass bestimmte Branchen unter Druck stehen und gegensteuern müssen. Vom Schlechtreden halte ich aber gar nichts, damit beflügelt man nur genau jene Entwicklungen, die man eigentlich beklagt.
Was meinen Sie mit Gegenwinden?
Deutschland ist als große Exportwirtschaft besonders stark betroffen von den gegenwärtigen geoökonomischen Veränderungen. Ein Beispiel: Wir liefern besonders viel nach China, deshalb trifft uns jede Abschwächung der dortigen Wirtschaftsentwicklung besonders stark. Außerdem spielt die Verunsicherung eine Rolle, die wir bei Verbrauchern und bei Unternehmen sehen. In der Folge sind die Investitionen in Maschinen, Geräte und Fahrzeuge vom Winter zum Frühjahr um 4,1 Prozent gesunken. Insgesamt ist die Wirtschaftsleistung im Frühjahr um 0,1 Prozent geschrumpft. Das sollte ein Weckruf sein. Wir müssen Wachstum in den Mittelpunkt rücken, dazu muss es wieder attraktiver werden zu investieren.
Woher könnten denn Impulse für mehr Wachstum kommen?
Die Wachstumsinitiative der Bundesregierung geht nach meiner Einschätzung in die richtige Richtung: Abbau der kalten Steuerprogression, Bürokratieabbau, bessere Abschreibungsmöglichkeiten bei Investitionen, aber auch Maßnahmen zur Stärkung der Erwerbsanreize. Das sind alles richtige Schritte. Aber sie müssen jetzt nach der Sommerpause auch umgesetzt werden. Auf Worte müssen Taten folgen. Besonders wichtig ist, dass die Politik klar zeigt, wohin die Reise geht. Wenn es hier Verlässlichkeit gibt, dann investieren die Unternehmen auch wieder mehr. Und auch die Schuldenbremse könnte aus meiner Sicht moderat reformiert werden. Da hat die Bundesbank Vorschläge gemacht, die etwas mehr Spielraum schaffen würden, solange Deutschland die europäischen Schuldenregeln einhält. Handeln muss jetzt aber die Politik.
Wie sehr beunruhigt Sie die Entwicklung in Thüringen und Sachsen?
Das bewegt mich sehr. Demokratie, Freiheit, Offenheit auch für Menschen aus anderen Ländern, das sind zentrale Werte. Wenn sie zur Disposition gestellt werden, kann das auch uns als Bundesbank nicht kaltlassen, da müssen wir uns klar positionieren. Auch eine Zentralbank hat da eine gesellschaftliche Verantwortung. Und wir als Bundesbank haben ja gerade erst die deutsche Zentralbankgeschichte zwischen 1924 und 1970 von renommierten Historikern aufarbeiten lassen. Ich mache mir Sorgen, wenn ich von Forderungen nach einem Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union oder aus der Währungsunion lese. So etwas gefährdet den Wirtschaftsstandort Deutschland, es untergräbt den Zusammenhalt in Europa. Und es schadet unserem Wohlstand.
Die Bundesbank selbst ist gerade im Umbruch. Das Konzept für die neue Zentrale in Frankfurt wurde abgespeckt, es gibt keine neuen Hochhäuser, und acht von 31 Filialen werden geschlossen. Wo steht man da – kommt da noch mehr?
Das ist ja schon einiges, was wir uns vorgenommen haben. Hier geht es um die Zukunftsfähigkeit der Bundesbank. Es geht aber auch darum, dass die Bundesbank zur Wirtschaftlichkeit verpflichtet ist. Wir haben einerseits mit unseren Beschäftigtenvertretungen vereinbart, dass Beschäftigte bis zu 60 Prozent Homeoffice machen können. Das hat uns die Möglichkeit gegeben, unser Bauvorhaben in Frankfurt deutlich kleiner zu planen. Auf den Neubau von Büros können wir sogar ganz verzichten. Und wir werden die zukünftig offenen Bürolandschaften so gestalten, wie sie zu einer modernen Institution passen. Die Zahl der Filialen müssen wir verringern, weil die Nutzung von Bargeld im Trend zurückgeht. Die Schließungen werden aber lange im Voraus geplant und sozial verträglich gestaltet. Und wir werden sicherstellen, dass die flächendeckende Versorgung mit Bargeld in Deutschland auch zukünftig jederzeit gewährleistet ist.
Was sagen denn eigentlich Mitarbeiter der Bundesbank, wenn sie in diesem Rahmen künftig kein eigenes Büro mehr haben?
Wenn die Beschäftigten erst ihre neuen Bürolandschaften sehen, werden sicher viele sagen, das ist wirklich toll. So gut es mit dem Homeoffice klappt – wir haben dadurch auch gelernt, wie wichtig es ist, dass man sich mit anderen austauscht. Das hilft enorm bei der Erfüllung der Aufgaben, die die Bundesbank hat. Und das gelingt oft besser in einer offenen Bürolandschaft als im stillen Kämmerlein. Es gibt natürlich weiterhin Möglichkeiten, sich mal zurückzuziehen, wenn man konzentriert alleine arbeiten will.
Sie haben angekündigt, auch die KI stärker nutzen zu wollen, zum Beispiel für Inflationsprognosen. Gibt es da schon Erfolge?
Ja, wir probieren da schon einiges aus, zum Beispiel im Bereich der kurzfristigen Inflationsprognose. Gerade wenn es um sehr komplexe Probleme geht, mit denen wir als Bundesbank oft zu tun haben, bekommt man mit KI auf ganz schnelle Weise eine erste Einordnung. Das nutzen wir auch schon für die Vorbereitung von Sitzungen. Was uns aber wichtig ist: Die KI muss ein Instrument bleiben. Die Menschen sind weiter in der Verantwortung. Wir bleiben im Fahrersitz.
Die EZB diskutiert jetzt wieder über ihre geldpolitische Strategie. Was wäre Ihnen dabei wichtig?
Wir müssen uns zum einen mit der Vergangenheit beschäftigen: Was war gut an den geldpolitischen Sondermaßnahmen, was war schlecht? Ein kritischer Blick in den Rückspiegel ist wichtig, um nach vorn gerichtet unseren Instrumenteneinsatz zu überprüfen. Sind wir da gut aufgestellt? Welche Themen werden für die Zukunft relevant sein?
Würden Sie auch über das Inflationsziel von 2 Prozent diskutieren wollen?
Eine Überprüfung des Inflationsziels steht nicht auf unserer Agenda. Wir sind mit unserem Inflationsziel von 2 Prozent sehr gut gefahren, auch zuletzt. Ich sehe keinen Grund, in der jetzigen Situation das Ziel zu ändern.
Gerade in Deutschland wurde damals viel über die billionenschweren Anleihekäufe der EZB debattiert. Im Streit darum sind sogar Notenbanker zurückgetreten. Wie blicken Sie heute darauf, nach einigen Jahren Erfahrung und der Realisierung von hohen operativen Bundesbankverlusten?
Klar, ich würde auch lieber Gewinne verkünden. Über viele Jahre hatten wir die ja. Jetzt aber werden wir einige Jahre mit Verlusten klarkommen müssen – und das schaffen wir. Ein Thema übrigens, das wir schon sehr früh kommuniziert haben. Denn wenn die Geldpolitik Anleihen in hohem Umfang kauft, ist klar, dass steigende Zinsen die Zentralbankbilanz treffen. So ist es gekommen. Wir mussten die Zinsen stark anheben. Die Bundesbank hat als größte Zentralbank im Eurosystem die höchsten Belastungen zu tragen. Wir werden möglicherweise im laufenden Jahr auf einer ähnlichen Größenordnung wie 2023 liegen. Weil wir unsere Risikovorsorge weitestgehend verbraucht haben, werden wir mit Verlustvorträgen für die kommenden Jahre arbeiten müssen. Aber, was für mich wichtig ist: Die Gewinne der Bundesbank werden in der Zukunft wieder zurückkommen. Die Bilanz der Bundesbank ist solide. Denn wir haben große Bewertungsreserven. Deshalb muss sich niemand Sorgen machen – die Bundesbank benötigt kein zusätzliches Kapital.
Und was ist Ihre Konsequenz für die Anleihekäufe? Sollte man das Instrument wieder abschaffen?
Vorsichtig sein sollte man mit umfangreichen Anleihekäufen an der Zinsuntergrenze auf jeden Fall. Beim Sichern der Preisstabilität sollte es ein Ausnahmeinstrument für Ausnahmesituationen bleiben. Ich hoffe, dass so eine Ausnahmesituation auf absehbare Zeit nicht wieder eintritt. Ich sehe jedenfalls keine Anzeichen dafür. Die umfangreichen geldpolitischen Anleihekäufe waren mit zahlreichen Nebenwirkungen an den Finanzmärkten verbunden. Bei der Strategieüberprüfung plädiere ich für eine klare Einordnung von Anleihekäufen an der Zinsuntergrenze. Wir dürfen dieses Instrument nicht überstrapazieren.
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