Ein autonomes Europa in Zeiten geopolitischer Spannung: die Rolle des Finanzsystems Gastbeitrag im Handelsblatt
Die Welt steht Kopf und Deutschlands Wirtschaft stagniert. In Zeiten geopolitischer Spannungen ist aber eine starke deutsche Wirtschaft elementar für ein autonomes Europa. Die staatlichen Investitionen werden durch die Sondervermögen stark steigen. Dies wird positive Wachstumseffekte haben, aber nicht ausreichen, um ein signifikantes mittel- bis langfristiges Wachstum zu erzielen. Die deutsche Wirtschaft selbst muss sich international wettbewerbsfähig aufstellen, also agiler, digitaler und innovativer werden. Dafür braucht sie auch deutlich mehr private Investitionen und damit gewaltige Summen an privatem Kapital. Ein starkes europäisches Finanzökosystem ist elementar, um in geopolitisch turbulenten Zeiten auf ein autonomes Europa bauen zu können.
Autonom heißt in diesem Fall, dass die europäische Realwirtschaft in der Lage ist, sich über das europäische Finanzökosystem zu finanzieren und Abhängigkeiten von außereuropäischem Kapital zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund sind ein starker Finanzplatz in Deutschland und Europa sowie eine stärkere Kapitalmarktkultur elementar.
Das Potenzialwachstum in Deutschland, das das trendmäßige Wachstumstempo misst, ist auf einem langjährigen Tiefpunkt. Betrug es im Zeitraum 2011 bis 2019 noch durchschnittlich 1,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), sind es aktuell nur noch 0,4 Prozent.
Gleichzeitig ist Deutschland bei den Patentanmeldungen Europameister und auch global ganz vorn (Platz 5) mit dabei. Ein Großteil der deutschen Innovationen gelingt allerdings in Sektoren mit geringerem Wachstumspotenzial, dazu gehört auch der Automobilsektor.
Hinzu kommt, dass sich China in diesen sogenannten Middle-Technology-Sektoren zu mehr als einem starken Wettbewerber entwickelt hat. Überkapazitäten der chinesischen Wirtschaft, auch der Automobilwirtschaft, treffen auch auf den europäischen Markt und verschärfen den Wettbewerb und Preiskampf weiter.
Warum die USA führend in der Hochtechnologie sind
In den hochtechnologischen Sektoren mit großem Wachstumspotenzial sind die USA führend. Dieser Erfolg hat viel damit zu tun, dass Kapital an US-Märkten wesentlich einfacher zu mobilisieren ist, auch das zur Finanzierung von Innovationen so bedeutende Wagniskapital. Während in den USA 0,8 Prozent des BIP in Wagniskapital investiert werden, sind es in Deutschland nur 0,19 Prozent. Hier sind Anreize sinnvoll. In Italien profitieren Pensionsfonds von Steuererleichterungen, wenn sie fünf oder zehn Prozent in Wagniskapitalfonds investieren. Grundsätzlich ist ein einfacherer Zugang von Unternehmen zu Finanzierungen über den Kapitalmarkt wichtig. Es bleibt daher zu hoffen, dass Maßnahmen, wie sie im Zukunftsfinanzierungsgesetz II vorgesehen waren, wieder aufgenommen werden. Dazu zählen etwa die Erleichterung von Börsengängen sowie die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen für Investitionen in Wachstums- und Innovationskapital.
Es gibt viele Wachstumsmärkte, in denen sich für deutsche Unternehmen große Chancen böten, wie etwa Cleantech, Pharma, Bioscience oder Künstliche Intelligenz. Insofern ist die deutsche WIN-Initiative (Wachstums- und Innovationskapital für Deutschland), durch die Unternehmen bis zu 12 Milliarden Euro in das Wagniskapital-Ökosystem spülen, eine sehr positive Entwicklung.
Schweden hat vier Mal mehr Börsengänge als Deutschland
Neben der Förderung von Wagniskapital ist aber auch eine kapitalgedeckte Altersvorsorge in Deutschland nötig. Wie wichtig die für den Kapitalmarkt sein kann, zeigt das Beispiel Schweden. Das Land mit seinen rund zehn Millionen Einwohnern verzeichnet seit dem Jahr 2015 insgesamt 474 Börsengänge. Das wesentlich bevölkerungsreichere Deutschland nur 115. Schweden ist in der EU das Land mit den meisten Börsengängen von kleinen und mittleren Unternehmen.
Diese bemerkenswerte Kapitalmarktkultur ist unter anderem auf die bereits in den 1990ern eingeführte kapitalgedeckte Altersvorsorge zurückzuführen. Der schwedische Pensionsfonds AP7 hat seit seiner Gründung eine Rendite von durchschnittlich über zehn Prozent erzielt. Auch die Niederländer kommen in den Genuss einer auskömmlichen Altersvorsorge, die hauptsächlich auf einer kapitalmarktgedeckten Betriebsrente beruht.
Man könnte die Liste an Ländern, die ähnlich erfolgreiche Maßnahmen getroffen haben, fortführen. Allen ist gemein, dass zwei Effekte entstehen: In Zeiten von Überalterung entlasten diese Modelle den Druck auf Staatshaushalte.
Zudem profitiert die eigene Wirtschaft von den Kapitalmarktaktivitäten der eigenen Bevölkerung, was die heimische Finanzierung von Innovation und Wachstum erleichtert.
Die deutschen Privathaushalte hielten Ende September vergangenen Jahres Kapital in Höhe von 9 Billionen Euro - das ist ein großes Anlagepotenzial. Aktuell halten jedoch nur 17 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahre Aktien, Aktienfonds oder ETF.
Von einem starken Kapitalmarkt profitieren die heimische Wirtschaft, die Bevölkerung und der Staat: Er ermöglicht eine Finanzierung der Wirtschaft, aus der Region für die Region, und erhöht die Autonomie Europas deutlich. Die Bevölkerung profitiert von einer besseren Altersvorsorge, die zudem auf breitere Füße gestellt wird. Der Druck auf den Staatshaushalt wird reduziert, was mit Blick auf die steigende Ausgabenlast bedeutend sein wird.
In Zeiten großer geopolitischer Unsicherheit geht es darum, Deutschland und Europa autonom aufzustellen. Der Kapitalmarkt leistet dazu einen wichtigen Beitrag.