Joachim Nagel ©Nils Thies

Nagel: „Die Gefahr, zu spät zu handeln, nimmt zu“

Bundesbankpräsident Joachim Nagel hat sich erneut dafür ausgesprochen, rechtzeitig mit einer Normalisierung der Leitzinsen im Euroraum zu beginnen. Das Risiko eines zu späten Handelns nehme merklich zu, sagte er bei einer Konferenz in Eltville am Rhein, die die Bundesbank gemeinsam mit der National Association for Business Economics (NABE) ausrichtete. „Da die Inflation im Euroraum weiterhin hoch ist, müssen wir handeln“, so Nagel. „Wenn sowohl die eingehenden Daten als auch unsere neue Projektion diese Einschätzung im Juni bestätigen, werde ich mich für einen ersten Schritt zur Normalisierung der EZB-Zinssätze im Juli einsetzen.“

Geldpolitische Wende zu verzögern, ist riskant

In der aktuellen Situation sei es wichtiger denn je, dass die Notenbanken des Eurosystems rechtzeitig handelten, sagte der Bundesbankpräsident. Dabei sollten sie vorhersehbar, schrittweise und abhängig von der Datenlage agieren. „Die geldpolitische Wende zu verzögern, ist eine riskante Strategie. Denn je mehr sich der Inflationsdruck ausbreitet, umso mehr wird eine sehr starke und abrupte Zinserhöhung nötig“, so Nagel. Dies könne unter anderem Haushalte und Unternehmen überfordern und zu Verwundbarkeiten im Finanzsystem führen.

Aufwärtsrisiken für Inflation überwiegen

Nagel ging in seiner Rede auch auf den Krieg gegen die Ukraine und seinen Einfluss auf die Preisentwicklung in Europa ein. Der Krieg dürfte aus seiner Sicht für sich genommen keine größere neue Inflationsdynamik hervorrufen. „Aber er könnte die bereits bestehenden Tendenzen sowohl kurz- als auch langfristig deutlich beschleunigen, wie dies an den Energiemärkten und im internationalen Handel zum Ausdruck kommt“, fügte der Bundesbankpräsident hinzu.

Nagel wies darauf hin, dass die Inflation bereits vor Beginn des russischen Angriffskrieges hoch gewesen sei. Grund dafür seien vor allem die Pandemie und die damit zusammenhängenden Einschränkungen gewesen. Im März 2022 betrug die Inflationsrate in Deutschland, gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), 7,6 Prozent und im Euroraum 7,4 Prozent. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes stieg sie im April in Deutschland weiter auf 7,8 Prozent und gemäß Eurostat auf 7,5 Prozent im Euroraum.

Laut Nagel hat der russische Einmarsch in die Ukraine den bereits bestehenden Preisdruck sowohl direkt als auch indirekt verstärkt. Durch den Krieg entstehe ein weiterer Aufwärtsdruck auf die Energiepreise, was wiederum die Preise anderer Produkte steigen lassen könne. Im Zuge der Sanktionen gegen Russland seien verschiedene Lieferketten gestört, da sowohl Russland als auch die Ukraine eine Reihe von Gütern produzierten, die im Einzelhandel oder auf vorgelagerten Produktionsstufen benötigt würden.

Energieembargo könnte deutsche Wirtschaft empfindlich treffen

Der Bundesbankpräsident skizzierte, dass eine weitere Eskalation des Konflikts – verbunden mit schärferen Sanktionen – die Entwicklung der deutschen Wirtschaft zumindest kurzfristig belasten könnte. Das zeige eine modellbasierte Szenarioanalyse der Bundesbank unter der Annahme, dass die Energieimporte aus Russland abrupt gestoppt würden. „In diesem Szenario könnte die deutsche Wirtschaft sogar in eine Rezession abrutschen, wobei die gesamtwirtschaftliche Produktion im Jahr 2022 um bis zu 2 Prozent schrumpfen könnte“, sagte Nagel. Das Szenario sei allerdings mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Jüngste Berichte deuteten darauf hin, dass die Abhängigkeit Deutschlands von Energieimporten aus Russland bereits deutlich zurückgegangen sei. „Vor diesem Hintergrund könnten die Folgen eines Embargos auch weniger schwerwiegend sein“, so Nagel.

Inflationserwartungen deutlich gestiegen

Mit Blick auf die Entwicklung der mittelfristigen Inflationserwartungen in Deutschland äußerte sich der Bundesbankpräsident besorgt. Aktuellen Ergebnissen einer Bundesbank-Befragung zufolge seien die Inflationserwartungen der privaten Haushalte in Deutschland für die nächsten fünf Jahre im März auf 4,8 Prozent gestiegen. Und im April seien die Erwartungen der Unternehmen auf 4,5 Prozent gestiegen. „All dies deutet darauf hin, dass sich in naher Zukunft höhere Inflationsraten behaupten könnten und die Verankerung der Inflationserwartungen abnehmen könnte“, sagte Nagel.