Wohlstand für alle – auch morgen! Rede beim Wirtschaftstag des Wirtschaftsrats der CDU e.V.

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren, 

ich danke herzlich für die Einladung und freue mich sehr, Gast beim Wirtschaftstag 2023 zu sein.

Gegen Ende eines so reichhaltigen, so vielfältigen Konferenzprogramms voller Reden, Interviews und Panels scheint alles schon gesagt zu sein. Der Schein trügt aber. Denn es steht noch ein spannendes Thema auf der Agenda: „Wohlstand für alle – auch morgen!“

Wer jetzt womöglich einen Vortrag über die Anfänge der sozialen Marktwirtschaft befürchtet, kann ganz beruhigt sein: Zwar gehen wir auch „back to the roots, zurück zu den Wurzeln, aber der Rückblick wird kurz bleiben, versprochen!

Wohlstand für alle – unter diesen Leitsatz stellte Ludwig Erhard einst seine Wirtschaftspolitik. Von einer wachsenden Wirtschaft sollte nicht nur eine kleine Oberschicht profitieren. Das war das Credo. Und das gelang: Auf das Elend der unmittelbaren Nachkriegszeit folgte das deutsche Wirtschaftswunder. Die Wirtschaft boomte, die Löhne stiegen, so dass breitere Schichten tatsächlich an den Wohlstandsgewinnen teilhaben konnten.

Aber wird Erhards Devise auch morgen noch gelten? Klar ist: Die deutsche Wirtschaft steht vor großen Herausforderungen. Sie wurden hier im Laufe des Tages auch immer wieder angesprochen: Der Umbau der Wirtschaft zur Klimaneutralität, der demografische Wandel, die Neuordnung der Globalisierung – um nur drei Triebkräfte des Wandels zu nennen.

Umso wichtiger ist es, sich klarzumachen, worin unser Wohlstand wurzelt. Ich möchte hier drei Bestandteile ausführen, die für einen fruchtbaren Boden sorgen, also gleichsam den Humus bilden: starke Innovationskraft, funktionierender Wettbewerb und stabiles Geld. Dabei werde ich darlegen, wie der Boden bereitet werden kann, damit Wohlstand dort auch in Zukunft Wurzeln schlagen und gedeihen kann – und am Ende alle etwas davon ernten können. 

2 Starke Innovationskraft

Setzt man die „Ernte“ einer Volkswirtschaft, also ihre Produktion, ins Verhältnis zum Arbeitseinsatz, erhält man die Arbeitsproduktivität. Sie ist auf lange Sicht entscheidend dafür, wie sich der Wohlstand einer Gesellschaft entwickelt. Nobelpreisträger Paul Krugman brachte es einmal so auf den Punkt: Productivity isn’t everything, but in the long run it is almost everything.[1]

Seit Gründung der Bundesrepublik ist der Lebensstandard in Deutschland enorm gestiegen. Das wäre ohne kräftige Produktivitätszuwächse nicht möglich gewesen.

In der Folge konnten sich die Menschen materiell mehr leisten. Oder anders gewendet: Sie mussten weniger lang arbeiten, um sich bestimmte Güter leisten zu können. So musste man 1970 im Durchschnitt noch mehr als 145 Stunden arbeiten, um sich eine Waschmaschine leisten zu können. Im vergangenen Jahr waren es noch knapp 19.[2]

Die höhere Produktivität hat somit mehr Konsum, aber auch kürzere Arbeitszeiten und damit mehr Freizeit ermöglicht. Auch das hohe Maß an sozialer Sicherung, einschließlich des Zugangs zu modernster – und teurer – Medizin sind letztlich Früchte dieser Entwicklung. Das zeigt: Gelingt es einer Volkswirtschaft produktiver zu werden, schafft dies Spielraum für mehr Wohlstand für alle.

Durch die Alterung der Gesellschaft werden dem Arbeitsmarkt mittelfristig weniger Menschen zur Verfügung stehen und mehr ältere Menschen werden zu versorgen sein. Umso wichtiger wird die Produktivitätsentwicklung. Triebfedern des Produktivitätswachstums sind Innovation und technischer Fortschritt.

Auch für den Klimaschutz und den dafür notwendigen Strukturwandel wird es auf die Innovationskraft von Wissenschaft und Unternehmen ankommen. Es gilt auf dem Weg zur Klimaneutralität zügig voranzukommen – ohne die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu gefährden oder den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu schwächen. Gleichzeitig sollte sich der Staat dabei finanziell nicht überfordern.

Gelingen kann dies, wenn die Transformation mit Offenheit für neue Ideen und Raum für innovative Lösungen angegangen wird. Dafür muss zweierlei zusammenkommen: Erstens innovationsfreudige Unternehmerinnen und Unternehmer und zweitens ein Staat, der ihnen den passenden Rahmen setzt. 

Für Wirtschaftsnobelpreisträger Edmund Phelps ist Innovationsgeist auch eine Frage der Haltung und der Werte: Menschen müssen sich wieder mit Verve auf Probleme stürzen [und] mit ihren Ideen aufblühen. (…) So wachsen die Leute und deren Ökonomien.[3]

Zu einem passenden Umfeld gehören zum Beispiel Anreize, Innovationen zu entwickeln und zu verbreiten. So empfiehlt die Expertenkommission Forschung und Innovation, öffentliche Beschaffungen stärker innovationsorientiert auszurichten.[4] Auch das Steuersystem kann die Innovationsfreude beeinflussen: Denn je höher die Steuerlast, desto weniger darf eine Erfinderin vom Ertrag behalten.

Zweitens braucht es eine innovationsfreundliche Regulierung. Dazu zählen etwa klare Regeln für die Nutzung von Daten und ein besserer Zugang zu Daten für Forschungszwecke; oder ein verlässlicher Rahmen für die Energiewende in Form einer konsistenten CO2-Bepreisung. Denn die setzt marktwirtschaftliche Anreize, Innovationen in emissionssparende Technologien zu entwickeln.

Und drittens gehört zu einem passenden Umfeld eine effiziente und moderne öffentliche Verwaltung, die ihre Dienstleistungen soweit wie möglich online anbietet und abwickelt. Die OECD schrieb in ihrem jüngsten Wirtschaftsbericht für Deutschland: Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung bietet das Potenzial, die Ausgabeneffizienz, das Wachstum und die Wohlfahrt bedeutend zu steigern. Der hohe Verwaltungsaufwand behindert insbesondere junge und innovative Unternehmen und beeinträchtigt die Unternehmensdynamik und die Innovationstätigkeit.[5]

3 Funktionierender Wettbewerb

Reformen, die neuen Unternehmen den Start erleichtern, würden auch den Wettbewerb fördern. Ein dynamischer Wettbewerb ist das Herzstück unserer sozialen Marktwirtschaft. Denn Wettbewerb fördert nicht nur die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, indem er Unternehmen anspornt, neue Produkte oder effizientere Produktionsverfahren zu entwickeln. Er sorgt auch dafür, dass sich die Wohlfahrtsgewinne nicht in den Händen weniger sammeln. Stattdessen lässt er alle am Wohlstand teilhaben.

Konkurrierende Unternehmen müssen sich um Beschäftigte und Kunden bemühen. Als Verbraucherinnen und Verbraucher profitieren wir zum Beispiel von mehr Auswahl, günstigeren Preise und besserer Qualität. Vielleicht erinnern Sie sich noch: Nach dem Wegfall des Telekommunikationsmonopols purzelten die Preise beim Telefonieren. Anfang 1998 kostete ein nationales Ferngespräch 60 Pfennig pro Minute. Dann kam der Wettbewerb und es gab Anbieter, die verlangten nur 19 Pfennig.

Ludwig Erhard brachte es auf den Punkt, als er 1957 schrieb: ,Wohlstand für alle‘ und ,Wohlstand durch Wettbewerb‘ gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt.[1] Im selben Jahr wurde auch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verabschiedet. Erhard war es wichtig zu betonen, dass es sich dabei um ein ausgesprochenes Konsumentenschutzgesetz handele – ein Kernstück der sozialen Marktwirtschaft.


Hier geht es aber nicht um ein völlig freies, unreguliertes Spiel der Kräfte. Funktionierender Wettbewerb bedarf eines geeigneten Ordnungsrahmens, damit wirtschaftliche Macht begrenzt und Missbrauch von Marktmacht verhindert werden. Hier ist der Staat gefordert: Es braucht ein kluges Wettbewerbsrecht und starke Kartellbehörden. Beides waren prägende Merkmale bei der Entstehung der sozialen Marktwirtschaft. 

In der digitalen Ökonomie werden die Karten jedoch neu gemischt. Hier gibt es einerseits zahllose kleine Start-ups und massiven Wettbewerb. Andererseits gibt es die großen Plattformen, die die führenden Technologiekonzerne („BigTechs“) entwickelt haben. Sie bieten ihren Nutzern Treffpunkte mit immer neuen Attraktionen. Allerdings gleichen diese Spielwiesen eher eingezäunten Gärten als offenen Parkanlagen. Denn es sind die betreibenden Unternehmen, die hier die Regeln setzen. Und diese bestimmen auch, ob und unter welchen Bedingungen Dritte Zugang bekommen. 

Die Netzwerkeffekte stärken somit tendenziell die Platzhirsche. Mit ihrer Marktmacht können sie es neuen Konkurrenten erschweren, auf dem Markt Fuß zu fassen. Künstliche Intelligenz könnte diese Prozesse weiter befeuern. Sie eröffnet neue Möglichkeiten, Daten zu verarbeiten und verknüpft diese auf neue Weise. Die Marktmacht der großen Player könnte dadurch zunehmen. 

Politik und Kartellwächter müssen hier besonders wachsam sein – und wenn nötig einschreiten. Sie müssen im digitalen Zeitalter schneller und vorausschauender als früher handeln, um den Wettbewerb wirksam zu schützen und gleichzeitig die Anreize für Innovationen zu erhalten. Wichtig ist vor allem, die Barrieren zum Markteintritt niedrig zu halten, etwa indem Nutzer ihre Daten von großen Plattformen zu anderen Anbietern mitnehmen können.

4 Stabiles Geld

Meine Damen und Herren, 

der dritte Bestandteil eines Bodens, auf dem Wohlstand für alle gedeihen kann, ist stabiles Geld.

Auch das hat Ludwig Erhard sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. So schrieb er 1957 – übrigens dem Gründungsjahr der Deutschen Bundesbank: Die soziale Marktwirtschaft ist ohne eine konsequente Politik der Preisstabilität nicht denkbar. Daher gelte es, alle Kräfte darauf zu konzentrieren, eine Inflation zu verhindern.[7] 

Inflation hemmt die Investitionsbereitschaft der Unternehmen, da sie deren Kalkulation erschwert. Zumal mit hohen Inflationsraten in der Regel auch stark schwankende Inflationsraten einhergehen. 

Für Verbraucherinnen und Verbraucher bedeutet Inflation vor allem Verlust von Kaufkraft. Und damit einen unmittelbaren Wohlstandsverlust. Dabei trifft sie die Menschen nicht in gleichem Maße. Menschen mit geringem Einkommen werden von der Inflation in der Regel härter getroffen. Allein schon deshalb, weil sie einen größeren Teil ihrer Einkünfte für Konsumzwecke ausgeben. 

Preisstabilität leistet daher auch einen wichtigen Beitrag für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Und für wirtschaftliche Teilhabe. Wohlstand für alle ist mit hoher Inflation nicht zu erreichen.

Preisstabilität ist zudem eine wichtige Voraussetzung für die Transformation zu klimaneutralem Wirtschaften. Denn in einem Umfeld hoher Inflationsraten kann CO2-Bepreisung als effizientes Instrument zur Emissionsreduktion nicht ihr volles Potenzial entfalten. Insofern ist die Gewährleistung von Preisstabilität wohl der wertvollste Beitrag, den die Geldpolitik für den Klimaschutz leisten kann.[8] 

Erhard war übrigens ein klarer Befürworter einer unabhängigen Notenbank. Dementsprechend klar positionierte er sich für eine unabhängige Bundesbank. Ein Modell, mit dem wir in Deutschland über Jahrzehnte gut gefahren sind. Und das im Zuge der Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion auf das Europäische System der Zentralbanken übertragen wurde. 

Unabhängigkeit verschafft der Notenbank den notwendigen Freiraum, auch unpopuläre Entscheidungen treffen zu können. Wenn wir uns die aktuelle Situation ansehen, wird deutlich, was dies bedeuten kann. Die derzeit außergewöhnlich hohe, hartnäckige Inflation verlangt der Geldpolitik entschiedenes Handeln ab. Und die europäische Geldpolitik hat – allen Unkenrufen zum Trotz – entschieden gehandelt.

In mittlerweile sieben Schritten in Folge haben wir seit Juli 2022 die Leitzinsen erhöht, um insgesamt 375 Basispunkte. Zudem haben wir die großvolumigen Ankaufsprogramme beendet und mit dem Bilanzabbau begonnen. Doch um es klar zu sagen: Unser Job ist noch nicht erledigt. 

Die Gesamtinflationsrate ist zwar rückläufig, die Kerninflation aber hartnäckig hoch: Im April 2023 stieg der Harmonisierte Verbraucherpreisindex ohne Energie und Nahrungsmittel im Euroraum um 5,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das war nur minimal weniger als im März, als die Kernrate ein Allzeithoch erreicht hatte. Es zeigt, dass die Teuerungswelle mittlerweile breit angelegt ist. 

Und deswegen sollte auch kein Zweifel daran bestehen: Der geldpolitische Straffungskurs ist noch nicht an seinem Ende angelangt. Es werden noch mehrere Zinsschritte erforderlich sein, um ein ausreichend restriktiv wirkendes Niveau zu erreichen. Und dieses Niveau werden wir dann eine ausreichend lange Zeit erhalten müssen. Bis die Inflation nachhaltig gesunken ist.

Das gefällt natürlich nicht jedem. Zumal ein restriktives Zinsniveau zwangsläufig mit einer Dämpfung der wirtschaftlichen Aktivität einhergeht – sonst wäre es ja kein restriktives Zinsniveau. Aber das meinte ich mit den unpopulären Entscheidungen, die die Geldpolitik manchmal treffen muss: Den einen sind die Zinsen noch zu niedrig, den anderen schon zu hoch. Gerade weil die Geldpolitik unabhängig ist, kann sie ihrem Mandat gerecht werden und Preisstabilität zur Richtschnur ihres Handelns machen. 

Sie können sich darauf verlassen, dass ich nicht nachlassen werde, bis die Preisstabilität wiederhergestellt ist. Unser mittelfristiges Ziel lautet 2 Prozent. Nicht mehr und nicht weniger. Und wir wollen dieses Ziel zeitnah erreichen. 

Das gelingt dann besonders gut, wenn sich alle Akteure darauf einstellen. Deswegen sind in erster Linie die Notenbanken gefordert, durch ihre Politikentscheidungen und ihre Kommunikation klare und glaubwürdige Signale zu senden. Dann wird es auch den Unternehmen und den Tarifparteien leichter fallen, sich bei ihrem Handeln daran zu orientieren.

Für die Fiskalpolitik bedeutet dies, dass sie im aktuellen Umfeld keinen zusätzlichen Preisdruck erzeugen sollte. Zudem können unsolide Staatsfinanzen eine stabilitätsorientierte Geldpolitik erheblich erschweren. Deshalb wurden ja einst Fiskalregeln für den gemeinsamen Währungsraum beschlossen. Und daher sollten diese nicht dahingehend „reformiert“ werden, dass ihnen auch noch die letzten Zähne gezogen werden.

5 Schluss

Meine Damen und Herren, 

die Eisheiligen sind vorüber, die Pflanzsaison ist in vollem Gange.

Ich bin davon überzeugt, dass wir mit starker Innovationskraft, funktionierendem Wettbewerb und stabilem Geld der sozialen Marktwirtschaft einen fruchtbaren Boden bereiten können. Einen Boden, auf dem Lösungen für die vor uns liegenden Herausforderungen wachsen können. Einen Boden, der eine Ernte ermöglicht, an der alle teilhaben. 

Gelingt es so, Erhards Credo vom Wohlstand für alle auch in Zukunft umzusetzen, stärkt dies gleichzeitig das Vertrauen in unsere offene und pluralistische Gesellschaftsordnung. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, zu der alle etwas beitragen können. 

Als Präsident der Deutschen Bundesbank ist mein Fokus klar: Ich werde mich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass die hohe Inflation bald hinter uns liegt.
 

Fußnoten:

  1. P. R. Krugman (1999), The Age of Diminished Expectations: U.S. Economic Policy in the 1990s, MIT Press, 4. Aufl.
  2. https://www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/christoph-schroeder-eine-stunde-laenger-fuer-die-tankfuellung-arbeiten.html
  3. Vgl. Interview in „Die Welt“ vom 11.11.2019.
  4. EFI – Expertenkommission Forschung und Innovation (2023), Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2023, Berlin.
  5. OECD (2023), OECD-Wirtschaftsberichte: Deutschland 2023, OECD Publishing, Paris.
  6. L. Erhard (1957/1964), Wohlstand für Alle, 8. Aufl., Econ Verlag, Düsseldorf.
  7. L. Erhard (1957/1964), Wohlstand für Alle, 8. Aufl., Econ Verlag, Düsseldorf.
  8. J. Nagel, Climate change and central banks – supporting the green transition by pursuing price stability, Rede anlässlich der Frühjahrskonferenz der Deutschen Bundesbank 2023, 12.05.2023.