„Ich bin dagegen, das Land schlecht zu reden“ Interview mit dem Tagesspiegel

Das Gespräch führte Heike Jahberg.

Herr Nagel, Sie sind Präsident der Bundesbank und sitzen im Rat der Europäischen Zentralbank. Als Notenbanker ist es Ihre vorrangige Aufgabe, für Preisstabilität zu sorgen. Wenn Sie sich heute die Preise im Supermarkt anschauen, sind Sie zufrieden mit Ihrer Leistung?

Notenbanker sind nie rundum zufrieden. Aber wenn ich schaue, was wir in der Geldpolitik erreicht haben, dann ist das schon ganz ordentlich. Wir haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Inflationsraten gesunken sind. Wir alle merken das ja beim Einkaufen.

Gehen Sie regelmäßig einkaufen?

Ja, ich erledige in der Familie meistens den Wochenendeinkauf. Die Preise für einzelne Produkte, wie Milch oder Käse sind verglichen mit dem letzten Jahr tatsächlich etwas gesunken, liegen aber merklich höher als vor der Pandemie. Auch gibt es immer noch Güter und Dienstleistungen, deren Preise weiter deutlich steigen. Alles in allem aber ist die Inflation im Juni im Euroraum wie auch in Deutschland auf 2,5 Prozent gesunken. Der Preisanstieg nähert sich damit unserem Ziel von zwei Prozent an. Es geht in die richtige Richtung.

Vor zwei Jahren lag die Inflation bei über acht Prozent. Vielen Menschen hat das Angst gemacht. 

Was wir vor zwei Jahren nach der Pandemie gesehen haben, war eine Ausnahmesituation, die dann durch den russischen Angriffskrieg verstärkt wurde. Wir haben mit der Geldpolitik seitdem entschlossen und ziemlich robust auf die Herausforderungen reagiert. 

Robuste Geldpolitik bedeutet, dass die Europäische Zentralbank zehn Mal die Leitzinsen erhöht hat. Im Juni haben Sie die Zinsen erstmals wieder gesenkt. Geht es jetzt in die andere Richtung?

Die zehn Zinserhöhungen zwischen Juli 2022 und September 2023 waren richtig. Die Inflation geht zurück. Und wir erwarten, dass sie spätestens Ende 2025 unseren Zielwert von zwei Prozent erreicht. Die Zinssenkung im Juni war damit konsistent. Ich konnte dem Schritt gut zustimmen, so wie fast alle meine Kolleginnen und Kollegen im EZB-Rat.

Kommt im Juli die nächste Zinssenkung?

Zinssenkungen machen wir nicht per Autopilot. Wir werden also je nach Datenlage entscheiden. Und das heißt, wir überprüfen unseren Kurs bei jeder Sitzung neu. Dabei bleiben wir vorsichtig. Die Kerninflationsrate, bei der die stark schwankenden Energie- und Lebensmittelpreise herausgerechnet werden, liegt im Euroraum noch immer bei 2,9 Prozent und damit relativ hoch. 

Die IG Metall fordert aktuell sieben Prozent mehr Lohn, im vergangenen Jahr hat es bereits zahlreiche hohe Tarifabschlüsse gegeben. Treiben die höheren Löhne die Preise nicht wieder in die Höhe?

Ich mische mich nicht in Tarifverhandlungen ein. Die Tarifabschlüsse sind eine Reaktion auf die hohen Inflationsraten der vergangenen Jahre. Umso wichtiger ist es, dass die Tarifparteien künftig wieder von niedrigen Inflationsraten ausgehen. Dafür müssen wir bei unserem Ziel Preisstabilität weiter vorankommen. Wir haben im EZB-Rat in den vergangenen zwei Jahren gezeigt, dass wir dabei sehr gemeinschaftlich, sehr entschlossen und sehr europäisch gehandelt haben. Darauf bin ich stolz.

In Europa gibt es jetzt allerdings einen Rechtsruck. Viele Regierungen in der EU werden mittlerweile von Rechtspopulisten geführt. Was heißt das für Ihre Arbeit?

Meine Aufgabe ist es, die Geldpolitik für den Euroraum mitzugestalten. Ich bin der festen Überzeugung: Viele der zentralen Herausforderungen lösen wir in Europa am besten gemeinsam. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Europa. Abschottung ist keine Lösung. Wir profitieren von internationalen Investitionen und Fachkräften und sollten diese nicht abschrecken.  

Die deutsche Wirtschaft steht auch nicht gerade gut da. Im vergangenen Jahr hat die Wirtschaftsleistung stagniert. 

Klar, Deutschland hat seine Schwierigkeiten, bei der Digitalisierung und der Transformation zu Klimaneutralität voranzukommen. Die demografische Entwicklung macht es uns nicht leichter. Derzeit ist das Wirtschaftswachstum immer noch gering, aber langsam wird es wieder stärker. Ich bin dagegen, das Land schlecht zu reden. Manch einer sagt, Deutschland sei der kranke Mann Europas. Das ist falsch. Die deutschen Unternehmen sind sehr innovationsfähig. Die Auftragslage der Industrie scheint sich in der Grundtendenz zu stabilisieren, der Konsum dürfte bald wieder anziehen. Deutschland könnte eine gute Turn-Around-Story werden, also eine Erfolgsgeschichte, wenn die strukturellen Probleme beherzt angegangen und gelöst werden. 

Woher kommt die Lust am Schlechtreden?

Wir Deutschen neigen mitunter zum Jammern und Meckern. In anderen Ländern werden viel mehr die positiven Aspekte herausgestellt. Hier wird der Wirtschaftsstandort Deutschland vielfach kleingeredet. Es ist richtig, wir haben Probleme. Aber wir haben auch große Chancen. Die deutsche Wirtschaft und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass sie sich auf veränderte Rahmenbedingungen einstellen können. Wir haben uns beispielsweise weitgehend vom russischen Gas gelöst – schneller als von vielen erwartet. 

Die Union kritisiert die hohen Sozialausgaben und meint, wir leben über unsere Verhältnisse. Stimmt das?

Ich werde jetzt nicht politische Parteien kommentieren. Wir in der Bundesbank analysieren aber die Sozialpolitik und die öffentlichen Finanzen in Deutschland. Wir gehen davon aus, dass wir in einer alternden Gesellschaft den Wohlstand nicht erhalten können, ohne Veränderungen vorzunehmen. Wenn beispielsweise die Babyboomer in Rente gehen, wird die Zahl der Arbeitskräfte zurückgehen. Allein bei uns in der Bundesbank werden in den nächsten zehn, zwölf Jahren 40 Prozent der Kolleginnen und Kollegen in den Ruhestand gehen.

War die Frührente mit 63 ein Fehler?

Die Rente mit 63 fördert eher den vorzeitigen Renteneintritt. Angesichts unserer demografischen Aussichten wäre es aber wichtig, Arbeitskräfte zu mobilisieren. Ich bin auch der Auffassung, dass es angemessen wäre, beim gesetzlichen Rentenalter grundsätzlich die steigende Lebenserwartung zu berücksichtigen. Das mag politisch unpopulär sein, aber ich glaube, an dieser Stelle sind Reformen unumgänglich. 

Viele Rentner würden vielleicht weiterarbeiten, wenn sich das für sie lohnen würde.

Wir sollten darüber nachdenken, es Rentnerinnen und Rentnern einfacher zu machen, wenn sie neben der Rente weiterarbeiten wollen. Wir müssen grundsätzlich dafür sorgen, dass alle Menschen, die gerne arbeiten würden, auch arbeiten können. Etwa indem wir die Kinderbetreuung ausbauen. Und das Thema Zuwanderung ist wichtig. Sonst werden wir die Fachkräftelücke nicht schließen können. Deshalb muss Deutschland für ausländische Fachkräfte attraktiv bleiben. Dass Deutschland ein gastfreundliches Land ist, sehen wir doch gerade bei der Fußball-EM. 

Sind Sie Fußball-Fan?

Ja, ich schaue gern Fußball. Mein Verein ist der Karlsruher SC, da muss man als Fan auch mal einstecken können. Was mich bei der EM begeistert, ist, dass Menschen aus vielen Ländern fröhlich und friedlich miteinander feiern. Ich möchte, dass Deutschland ein weltoffenes Land ist und so auch gesehen wird – während und nach der Europameisterschaft.

Sehen Sie das gefährdet?

Ich werde im Ausland oft gefragt, was ist denn bei euch los? Kann man bei euch noch investieren? Als das Geheimtreffen zur Remigration bekannt geworden ist, bin ich wie viele auf die Straße gegangen und habe mich zum ersten Mal in meinem Leben einer Demonstration angeschlossen. 

Die AfD punktet auch mit Themen, die Sie betreffen. Die Partei inszeniert sich als Verteidigerin des Bargelds. Droht das abgeschafft zu werden?

Nein, im Gegenteil. Unser Auftrag ist, Bargeld bereit zu stellen, und das werden wir auch künftig tun. Bargeld ist immer noch das am meisten benutzte Zahlungsmittel der Deutschen, obwohl der Einsatz allmählich zurückgeht. Die Bundesbank steht auch in Zukunft fest zum Bargeld. Aber natürlich wird die Welt immer digitaler, und digitale Zahlungsmedien werden wichtiger. Ich sehe das bei meinen Wochenendeinkäufen: Immer mehr Leute zahlen mit Karte, Smartphone oder Uhr. Auch deshalb arbeiten wir im Eurosystem daran, in Zukunft nicht nur den Euro als Bargeld, sondern auch den digitalen Euro bereitstellen zu können.

Wie soll das praktisch funktionieren?

Man hat auf dem Handy eine App mit einer digitalen Geldbörse, der Wallet. Wenn Sie die Wallet aufrufen, können Sie mit dem Handy an der Kasse bezahlen. Sie können den digitalen Euro aber auch im Onlinehandel benutzen oder um anderen Menschen Geld zu senden. Das Ganze wird schnell und kostengünstig gehen und das Wichtigste: Mit dem digitalen Euro werden wir überall im Euroraum zahlen können. Und das mit einem größtmöglichen Schutz der Privatsphäre.

Aber ich kann doch heute schon bargeldlos mit dem Handy zahlen.

Ja, und das ist gut so. Oft nutzen wir dafür aber internationale Kartensysteme. Und hinterlassen dabei umfangreiche Datenspuren. Ich wünsche mir, dass wir in Europa mit einem einheitlichen, europäischen Zahlungssystem zahlen können – in der Strandbar in Italien genauso wie beim Online-Shopping in Finnland. Und das mit höchsten Standards beim Datenschutz. 

Wann kommt der digitale Euro?

Wenn es gut läuft, in vier Jahren.

Neben dem Bargeld lieben die Bundesbürger auch das Gold. Die Bundesbank hat davon einiges gebunkert. Stimmt es, dass Sie den zweitgrößten Goldschatz der Welt haben?

Ja, nach den USA haben wir den zweitgrößten Goldschatz mit rund 3350 Tonnen. Davon liegt mehr als die Hälfte bei uns in Frankfurt. Der Rest wird bei der Bank of England und vor allem bei der US-Notenbank Fed in New York verwahrt.

Wollen Sie nicht mal etwas davon verkaufen? Der Finanzminister könnte etwas Geld für seinen Haushalt gebrauchen.

An der Stelle muss ich ihn enttäuschen. Abgesehen von kleinen Mengen für die üblichen Sammlermünzen gilt: Wir verkaufen nichts. Gold ist ein Vertrauensanker und hat gerade auch für die Bevölkerung einen hohen Symbolwert. Und wenn ich mir die langfristige Entwicklung des Goldpreises anschaue, war es wohl nicht ganz falsch, dass wir das Gold dauerhaft halten. 

Früher konnten Finanzminister darauf bauen, dass die Bundesbank Gewinne macht und das Geld an die Staatskasse überweist. Dieses Jahr wird daraus nichts, die Bundesbank steht mit einem Verlust von 21 Milliarden Euro da. Haben Sie schlecht gewirtschaftet?

Wir sind keine Geschäftsbank. Wir wirtschaften zwar sparsam, aber unsere Aufgabe ist es nicht, Gewinne zu machen, sondern Preisstabilität zu garantieren. Als die Inflation zu niedrig war, haben wir aus geldpolitischen Gründen niedrig verzinste Anleihen gekauft. Jetzt sind aber die Zinsen gestiegen, wodurch Verluste in unserer Bilanz entstanden sind. Der Finanzminister wird deshalb wohl einige Jahre ohne Bundesbankausschüttung auskommen müssen. Künftig wird es aber auch wieder Gewinne geben. Die Bilanz der Bundesbank ist solide. 

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