Geld und Moral Gastbeitrag im Handelsblatt

Welche Rolle spielt Ethik im heutigen Finanzwesen? Viele Verstöße in den vergangenen Jahren haben den Vorwurf genährt, dass das Finanzsystem in seiner heutigen Form mit moralischen Ansprüchen nicht vereinbar sei. Nicht wenigen Bankern mag damit unrecht getan werden – die negativen Schlagzeilen in den Medien geben Pessimisten aber gute Argumente an die Hand.

Die Ethik macht es sich zur Aufgabe, anhand von universellen Vorstellungen über ein gutes Leben und mithilfe vernünftiger Argumente Kriterien für angemessenes Verhalten festzulegen. Eine Ethik der Finanzbranche ist nicht trivial, wenn sie konkretere Kriterien für gutes Handeln aufstellen soll. In einer stark differenzierten und komplexen Lebenswelt existieren sehr unterschiedliche Werte, kulturelle Prägungen und ethische Praktiken. Diese Vielfalt muss geschützt werden – nicht nur, um die Freiheit als Voraussetzung von Ethik überhaupt sicherzustellen, sondern auch, weil für unterschiedliche Gebiete der Gesellschaft unterschiedliche Verhaltenserwartungen bestehen.

Die konkrete Ethik einer Bank dient dazu, das Verhalten des einzelnen Bankers – sei es Führungskraft oder Mitarbeiter – zu beurteilen. Zur Erklärung von Verwerfungen im Finanzsystem haben die Analysen der vergangenen Jahre statt am individuellen Verhalten vor allem an Rahmenbedingungen und an Strukturen angesetzt. Ob der Skandal um die Manipulation des Leitzinssatzes Libor, Fälle von Geldwäsche oder Falschberatung – die meisten Erklärungsansätze verweisen auf verzerrende Anreizstrukturen oder einflussreiche Subkulturen in Unternehmen und sehen die Schuld bei den Banken oder dem übergeordneten System.

Bemerkenswert ist, dass die Schuld des Einzelnen dadurch ins Abseits gerät und bisweilen Täter gar zu Opfern werden. Die Dominanz der Sachzwänge, üblicherweise in Form kurzfristig agierender Märkte, der Ersetzbarkeit des einzelnen Marktteilnehmers in einer globalisierten Finanzwelt und des Ergebnisdrucks in Instituten, erlebt Hochkonjunktur und hat so die Verantwortlichkeit des Einzelnen hinter sich gelassen. An die Stelle der Frage "Was soll ich tun?", mit deren Beantwortung der Philosoph Immanuel Kant einst die Moralphilosophie beauftragte, ist die rhetorische Frage "Was kann und darf ich tun?" gerückt. Was Regierungen mit der Gesetzgebung an Auswüchsen der Finanzmärkte nicht rechtzeitig regeln, scheint unausweichlich ausgenutzt zu werden, sobald die Tätigkeiten mindestens kurzfristige Gewinne versprechen. In dieser Ansicht schwingt eine äußerst pessimistische Behauptung, die man nicht teilen muss, nämlich, dass wir uns zwischen dem bestehenden leistungsfähigen oder einem durchweg moralisch integren Finanzwesen zu entscheiden hätten.

Der Alltag in den Kreditinstituten zeichnet ein anderes Bild. Wenn Mitarbeiter damit befasst sind, ob sie ihrem Kunden ein bestimmtes Produkt empfehlen oder ein Handelsgeschäft abschließen wollen, verfügen sie in der Regel über einen gewissen Handlungsspielraum. Den Regeln und Anweisungen, die ein Unternehmen seinen Mitarbeitern und die Finanzaufsicht ihren beaufsichtigten Instituten vorschreibt, dürfen wir keine Allmacht zuschreiben. Sie begrenzen zwar den Handlungsspielraum des Bankangestellten, können und sollen ihn aber niemals ersetzen. In Anbetracht einer komplexen Welt und einer immer größer scheinenden Unsicherheit über die Zukunft ist es die Aufgabe jeder einzelnen Person, folgenschwere Entscheidungen zu treffen oder verantwortungsvolle Entscheidungshilfen bereitzustellen. Die Handlungsfreiheit wird also täglich gelebt.

Solche Entscheidungen lassen sich nicht nur aus den Umständen ableiten. Jede Entscheidung setzt Werte voraus. Je unsicherer und undurchschaubarer die finanzwirtschaftlichen Zusammenhänge, desto bedeutsamer wird die Orientierung an Prinzipien und Werten. Die Frage nach dem Sinn und Zweck des eigenen Handelns hat an Relevanz keineswegs eingebüßt. Ethik behandelt die Frage, wie in Situationen, in denen Freiheit zum Handeln besteht, zwischen Entscheidungen und ihren möglichen Konsequenzen abgewogen werden kann. Ethik verlangt hierbei, sich mit Werten auseinanderzusetzen. Der Finanzbranche können wir nur gerecht werden, wenn wir die individuelle Perspektive nicht aus den Augen verlieren. Ein Verständnis für strukturelle Mängel bedeutet nicht, dass individuelles Fehlverhalten verziehen wird. Der Kern des Vorwurfs mangelnden ethischen Bewusstseins ist in den vergangenen gut zweihundert Jahren seit Immanuel Kant unverändert geblieben: Selbstverschuldete Unmündigkeit.

Eine freie Entscheidung bedeutet allerdings nicht, dass sie willkürlich ist. Im Finanzsystem muss eine Entscheidung die Bedingungen berücksichtigen, unter denen sie überhaupt erst möglich wird. Das Finanzsystem ist – selbst in einem offenen Gesellschaftssystem – kein Selbstzweck. In einem Finanzsystem vermitteln Banken, Versicherungen, Wertpapierhäuser und Investmentfonds zwischen Anbietern und Nachfragern finanzieller Mittel. Auf dieser wichtigen Rolle fußt das Interesse der Gesellschaft, das Finanzsystem in die Rechtsordnung einzubinden. Voraussetzung einer Ethik der Finanzbranche, die nicht im Widerspruch zum Ordnungsrahmen steht, muss daher sein, dass die handelnden Personen einen langfristigen Mehrwert für Kunden, Vertragspartner und Kollegen bewirken. Der konkrete gesellschaftliche Gegenwert richtet sich nach den Bedürfnissen der Betroffenen. Eine angemessene Ethik sorgt sich um die Schnittmengen zwischen den eigenen Zielen und dem Wertehorizont anderer.

Nun sollten wir nicht dem Trugschluss unterliegen, dass moralische Ansprüche in einem Vakuum bestehen können. Die Gesellschaftsordnung und die Auslegung individueller Freiheit bedingen einander. Dies ist kein neuer Gedanke. Aus diesem Grund lassen sich zum Beispiel bestimmte Wirtschaftsformen nicht ohne weiteres auf politisch und wirtschaftlich weniger entwickelte Länder übertragen. Im Umkehrschluss entwickeln sich bestimmte Wertevorstellungen nur in einem geeigneten Umfeld. Wir dürfen uns daher nicht mit einem einfachen Schema zufrieden geben, das entweder nur die Handlungsfreiheit des Einzelnen oder ausschließlich die externen Regeln und Beschränkungen als Ursache und Lösung von Auswüchsen der Finanzbranche erklärt. Für Banken bedeutet das: Weder ist eine individuelle Ethik dauerhaft ohne gute Unternehmensführung möglich, noch kann eine gut gemeinte Unternehmensstruktur überleben, wenn Einzelne diese im Rahmen ihrer Freiheiten unterlaufen.

Allerdings kann Moral dem Menschen nicht von außen übergestülpt werden, man kann nur das geeignete Umfeld schaffen. Die Wirkung von mahnenden Worten zur Ethik durch das Führungspersonal oder auch von Ethikfortbildungen allein verpufft. Wenn negative Konsequenzen für Fehlverhalten oder eine Belohnung wünschenswerter Handlungen nicht spürbar sind, können stark verinnerlichte Verhaltensweisen nur schwer durch die Macht der Worte verändert werden. Die Finanzaufsicht kann einen gewichtigen Einfluss auf die Führung und die Struktur von Unternehmen ausüben, jedoch keine individuellen Handlungsmotive vorgeben. Für alle Stakeholder der Finanzbranche – hier sind die Regulierungsbehörden eingeschlossen – ergibt sich eine folgerichtige Konsequenz: Mit allen verfügbaren Mitteln dafür Sorge zu tragen, dass moralisches Verhalten und externe Regeln und Anreize einander begünstigen, anstatt einander zu verdrängen.

Ein Stück ist die Finanzbranche diesen Weg schon gegangen. Anpassungen in Risikosteuerung, Kontrollfunktionen und Vergütung tragen dazu bei, ethische Einstellungen in den Unternehmen zu fördern. Zu stärken bleibt die individuelle Rechenschaftspflicht, und zwar nicht nur als Pflicht der unmittelbar Handelnden, sondern auch als Pflicht des Managements, das für die Anreizstrukturen und das Unternehmensklima verantwortlich ist. Effektive Ethik könnte viel bewirken: Vertrauen und Reputation, ohne die die Geschäftstätigkeit von Banken undenkbar sind, sind der Lohn für die Mühen. Den einzelnen, glaubhaft der Moral verpflichteten Banker erwartet dann eine Sonderzahlung – in Form der gesellschaftlichen Anerkennung als ehrbarer Kaufmann.