Joachim Nagel bei einer Amtswechselfeier in Leipzig ©Christian Schneider-Broecker

Nagel: „Deutschland steht vor großen längerfristigen Herausforderungen“

Bundesbankpräsident Joachim Nagel zufolge dürfte die deutsche Konjunktur allmählich etwas Fahrt aufnehmen. Für 2024 rechnen wir aktuell mit einem leichten Wachstum von 0,3 Prozent, sagte er anlässlich einer Amtswechselfeier in der Hauptverwaltung der Bundesbank in Sachsen und Thüringen. Zwar zeige sich bislang noch keine breit angelegte, nachhaltige Erholung der Industrie und auch die Verbraucherinnen und Verbraucher konsumierten bislang nur zögerlich. Niedrigere Inflationsraten und kräftige Lohnzuwächse bei einem nach wie vor robusten Arbeitsmarkt könnten jedoch die privaten Haushalte zu mehr Konsum anregen. Und auch die Geschäftserwartungen der Unternehmen hätten sich zuletzt deutlich verbessert.

Weiterhin hohe Unsicherheit über Wirtschafts- und Preisentwicklung

Die Leitzinssenkung des EZB-Rates in der vergangenen Woche, der ersten seit Juli 2022, hält Nagel für eine richtige Entscheidung. Gleichzeitig sagte er: Wir müssen vorsichtig bleiben. Denn die Unsicherheit über die künftige Wirtschafts- und Preisentwicklung ist nach wie vor groß. Der EZB-Rat habe deshalb erneut betont, datenabhängig und von Sitzung zu Sitzung über die Leitzinsen zu entscheiden. 

Nagel sieht Deutschland vor großen längerfristigen Herausforderungen stehen. Dazu zählten allen voran die notwendige Dekarbonisierung der Wirtschaft sowie die Alterung der Gesellschaft. Hinzu kämen geopolitische Spannungen, deren Entwicklung schwer einzuschätzen seien, die aber erhebliche Risiken bergen würden. Umso wichtiger wäre ein solides Wachstum, das über ein kräftiges Produktivitätswachstum erreicht werden müsste. Hier sieht Nagel insbesondere in den Digitalsektoren große Potenziale. Mehr digitale Kompetenzen und mehr Investitionen in Digitalisierung in der gesamten Wertschöpfungskette könnten dazu beitragen, die Produktivität hierzulande deutlich zu steigern, sagte er in Leipzig.

Schwache Unternehmensdynamik hemmt die Produktivität

Aber auch die nachlassende Unternehmensdynamik, die sich anhand der Anzahl von Unternehmen, die in den Markt eintreten und derer, die den Markt verlassen, zeigt, bereitet dem Bundesbankpräsidenten Sorge. In Deutschland seien beide Werte in den letzten zwei Jahrzehnten stark zurückgegangen, sowohl die Unternehmensgründungen als auch die Unternehmensaufgaben. Eine höhere Unternehmensdynamik sei jedoch tendenziell günstig für die Produktivitätsentwicklung und damit langfristig für das Wachstum. Für Deutschland ließe sich feststellen, dass es im Jahr 2023 fast ein Drittel weniger Markteintritte und -austritte gab als 2004, nämlich 30 Prozent.Dieser starke Rückgang kann die nachlassende und schwache Produktivitätsentwicklung hierzulande miterklären, sagte Nagel im Rahmen der Feierlichkeiten. Die rückläufigen Markteintritte sind laut dem Bundesbankpräsidenten nicht nur durch das Auf und Ab der Konjunktur zu erklären. Auch strukturelle Hemmnisse, wie insbesondere die Alterung der Gesellschaft bremsten die Unternehmensdynamik. Umso wichtiger sei es, sie beispielsweise durch den Abbau übermäßiger Bürokratie und den verbesserten Zugang zu Finanzierungsquellen zu stützen. Insbesondere die Fortschritte bei der Kapitalmarktunion in Europa liegen Nagel am Herzen.Je weiter wir auf diesen Feldern vorankommen, desto eher können sich die zuvor genannten Herausforderungen als Chancen erweisen – für mehr Innovationen, wirtschaftliche Dynamik, zukunftssichere Arbeitsplätze und höheres Wachstum, so der Bundesbankpräsident.

Wechsel an der Spitze der Hauptverwaltung

Anlass der Rede des Bundesbankpräsidenten war eine Amtswechselfeier in der Hauptverwaltung der Bundesbank in Sachsen und Thüringen. Nach 33 Jahren bei der Bundesbank geht der Präsident der Hauptverwaltung Sachsen und Thüringen, Hubert Temmeyer, Ende Juli in den Ruhestand. Zu den beruflichen Stationen des promovierten Volkswirtes gehörten die stellvertretende Leitung der Abteilung Internationale Währungsordnung, Entsendungen zur OECD nach Paris und zum Internationalen Währungsfonds (IWF) nach Washington, bevor er vor acht Jahren die Präsidentschaft der Hauptverwaltung übernahm. Neuer Hauptverwaltungspräsident wird Guido Müller, der zuvor in Frankfurt am Main den Zentralbereich Bau geleitet hat.