Joachim Nagel ©Gaby Gerster

55. Konstanzer Seminar: Nagel über den neuen geldpolitischen Handlungsrahmen im Eurosystem

Im März 2024 hat der EZB-Rat eine Veränderung des geldpolitischen Handlungsrahmens beschlossen. Wie sieht der neue geldpolitische Handlungsrahmen des Eurosystems aus? Nach welchen Grundsätzen wird sich die Umsetzung der Geldpolitik angesichts der allmählich sinkenden Überschussliquidität im Bankensystem künftig richten? Und welche Abwägungen werden dabei getroffen werden müssen? Darüber sprach Bundesbankpräsident Joachim Nagel beim 55. Konstanzer Seminar über Geldtheorie und Geldpolitik.

Nagel betonte in seiner Rede, dass die allmähliche Bilanznormalisierung des Eurosystems der Auslöser für diese Anpassung gewesen sei. Die Überschussliquidität erreichte im November 2022 mit mehr als 4.600 Milliarden Euro ihren Höchststand. Seitdem ist sie um etwa ein Drittel gesunken und beträgt heute etwa 3.200 Milliarden Euro. 

Bilanznormalisierung im Eurosystem war überfällig

Nagel zufolge ist die Bilanznormalisierung lange überfällig gewesen und wird geldpolitischen Spielraum für die Zukunft schaffen. Gleichzeitig werfe sie aber auch die Frage auf, wie das Eurosystem künftig Liquidität bereitstellen wird und wie es beabsichtigt, die kurzfristigen Geldmarktsätze so zu steuern, dass sie möglichst eng mit den geldpolitischen Beschlüssen im Einklang stehen. Der Bundesbankpräsident rechnet damit, dass die Überschussliquidität auch in den nächsten Jahren weiter abnimmt. Wir beabsichtigen, das Pandemie-Notfallankaufprogramm ab der zweiten Jahreshälfte 2024 auslaufen zu lassen. 

Was steckt hinter der Überschussliquidität?

Als Überschussliquidität werden in der Fachsprache des Eurosystems die Einlagen von Geschäftsbanken bei den Zentralbanken des Eurosystems bezeichnet, die über die verpflichtende Mindestreserve hinausgehen. Die hohe Überschussliquidität entstand insbesondere im Zuge umfangreicher geldpolitischer Wertpapierkäufe seit 2015. Sie nimmt mit dem Fälligwerden von Wertpapieren der Anleihekaufprogramme APP und PEPP über die kommenden Jahre weiter ab.

Um sicherzustellen, dass der geldpolitische Handlungsrahmen des Eurosystems vor dem Hintergrund der Bilanznormalisierung auch weiterhin angemessen ist, habe der EZB-Rat daher Anpassungen beschlossen. Wir werden den Banken auch weiterhin kurzfristige Kreditgeschäfte und längerfristige Refinanzierungsgeschäfte mit dreimonatiger Laufzeit anbieten, so Nagel. Diese werden nach wie vor als Mengentender mit Vollzuteilung abgewickelt, so der Bundesbankpräsident. Zudem werden wir die Differenz zwischen dem Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte und dem Einlagesatz ab Mitte September 2024 von aktuell 50 Basispunkten auf 15 Basispunkte verringern, sagte er. Diese geringere Zinssatzdifferenz soll Banken den Anreiz bieten, Gebote in den wöchentlichen Tendern abzugeben, wodurch sich die kurzfristigen Geldmarktsätze in der Nähe des Einlagesatzes bewegen dürften.

Einigung auf geldpolitische Grundsätze

Zusätzlich habe sich der EZB-Rat auf eine Reihe von Grundsätzen zur Umsetzung der Geldpolitik geeinigt. Mit dem Handlungsrahmen soll in erster Linie die wirksame Umsetzung des geldpolitischen Kurses sichergestellt werden, betonte Nagel. Dies lasse sich am besten erreichen, indem die kurzfristigen Geldmarktsätze so gesteuert werden, dass sie sich eng an den geldpolitischen Beschlüssen orientieren. Denn: Wenn die kurzfristigen Geldmarktsätze zu heftig schwanken, könnte dies das Signal zum beabsichtigten geldpolitischen Kurs verzerren, so Nagel. Zudem solle der Handlungsrahmen so ausgestaltet sein, dass er mit dem Prinzip einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb vereinbar ist. Dieser Grundsatz begünstigt einen effizienten Ressourceneinsatz, einen effektiven Preisbildungsmechanismus und eine reibungslose Transmission der Geldpolitik. 

Diese beiden Grundsätze stünden Nagel zufolge allerdings in einem gewissen Spannungsverhältnis: Denn Schwankungen der Geldmarktzinsen in Schach zu halten und die Geldmarktaktivität zu fördern, das geht leider nicht zwangsläufig Hand in Hand, so Nagel. Die Anpassungen am Rahmenwerk seien notwendig gewesen, um auf strukturelle Veränderungen zu reagieren. Dies bedeute aber nicht, dass das neue Rahmenwerk in Stein gemeißelt wäre. In den kommenden zwei Jahren werde der EZB-Rat genau beobachten, ob der neue Handlungsrahmen mehr oder weniger Aktivität im Geldmarkt begünstige. Zudem werde der Rat mögliche Schwankungen der kurzfristigen Geldmarktsätze und ihre Auswirkungen auf den Transmissionsmechanismus analysieren.