Überlegungen zum neuen geldpolitischen Handlungsrahmen des Eurosystems Rede beim Konstanzer Seminar über Geldtheorie und Geldpolitik

1 Einleitung

Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer des diesjährigen Konstanzer Seminars, 

es ist mir eine große Freude und eine Ehre, heute vor Ihnen die Rede zur Policy Session zu halten. Ich hoffe, dass Sie alle nach dem Mittagessen noch Appetit auf etwas mehr geistige Nahrung haben. 

Wie Sie alle wissen, verfolgte Karl Brunner mit dem Konstanzer Seminar ursprünglich die Absicht, Wirtschaftswissenschaftler aus Europa, vor allem aus Deutschland und der Schweiz, mit führenden Wissenschaftlern aus den USA zusammenzubringen.[1] Mit meiner Rede möchte ich eine weitere Verbindung schaffen, und zwar zwischen der Geldtheorie und der Umsetzung der Geldpolitik. Wie Sie vielleicht meinem Lebenslauf entnehmen konnten, ist mir diese Verbindung besonders wichtig, war ich doch während meiner Laufbahn bei der Bundesbank immer stark in die Durchführung der Geldpolitik eingebunden. 

In den meisten makroökonomischen Modellen wird der kurzfristige Zinssatz i von der Zentralbank einfach „vorgegeben“. Die künftige Entwicklung dieses Tagesgeldsatzes bestimmt dann die mittel- bis langfristigen Zinsen und somit die Kreditkosten der Wirtschaftsakteure, die Waren und Dienstleistungen nachfragen. 

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich will damit nicht behaupten, dass diese Vereinfachung unangemessen ist. Aber um eine solche vereinfachende Annahme treffen zu können, muss hinter den Kulissen – also in der Welt der praktischen Geldpolitik – eine Menge passieren. Bei der Suche nach Arbeiten zur Umsetzung der Geldpolitik zeigt sich, dass sich in dieser Welt überwiegend Zentralbankökonomen tummeln. 

Die am häufigsten zitierte Studie zu diesem Thema ist die von Claudio Borio und Piti Disyatat mit dem Titel Unconventional monetary policies: an appraisal.[2] Sie wurde rund 1 200 Mal angeführt. Das klingt ja recht beeindruckend. Die Autoren trafen den Nerv der Zeit, als Zentralbanken weltweit begannen, sich eingehend mit der quantitativen Lockerung zu beschäftigen. Die mit fast 500 Mal am zweithäufigsten zitierte Arbeit ist das Buch von Ulrich Bindseil mit dem Titel Monetary Policy Implementation: Theory, Past, and Present.[3] 

Nehmen wir zum Vergleich aber einmal die Studie von John Taylor mit dem Titel „Discretion versus policy rules in practice“.[4] Diese wurde fast 14 000 Mal angeführt und ist damit wohl das am meisten zitierte Werk der monetären Ökonomie. Oder auch Michael Woodfords Meisterwerk „Interest and Prices“, das rund 12 500 Mal zitiert wurde.[5] 

Daraus lässt sich schließen, dass die Umsetzung der Geldpolitik keinen vorderen Platz in der akademischen Forschung auf dem Gebiet der monetären Ökonomie einnimmt und ganz allgemein auch nicht im Fokus der Öffentlichkeit steht. Sie ist jedoch das Herzstück dessen, was Zentralbanken tun. Dennoch wissen selbst die meisten Notenbanker nur, wie ihre eigene Zentralbank dabei vorgeht. Wir alle legen Zinssätze fest. Dabei können wir aber ganz unterschiedliche Wege beschreiten. 

Vor zwei Monaten kündigte der EZB-Rat Änderungen an seinem geldpolitischen Handlungsrahmen an.[6] Im Folgenden möchte ich erläutern, wie es zu diesen Änderungen kam und was sie für die Zukunft bedeuten könnten. Mein Vortrag ist in drei Teile gegliedert: Zunächst werde ich kurz darauf eingehen, wie der aktuelle Handlungsrahmen entstanden ist. Danach werde ich die wichtigsten Änderungen, die wir beschlossen haben, erläutern. Und abschließend möchte ich einige Faktoren aufzeigen, die wir in den kommenden zwei Jahren bis zur nächsten planmäßigen Überprüfung des Handlungsrahmens genau im Auge behalten müssen.

2 Der Weg zum aktuellen geldpolitischen Handlungsrahmen

Lassen Sie mich zunächst erläutern, was unter dem geldpolitischen Handlungsrahmen überhaupt zu verstehen ist, bevor ich auf die einzelnen Aspekte eingehe. Der EZB-Rat fasst geldpolitische Beschlüsse auf der Grundlage unserer geldpolitischen Strategie. Im Mittelpunkt dieser Strategie steht unser vorrangiges Ziel, Preisstabilität zu gewährleisten. Der geldpolitische Handlungsrahmen dient dazu, die kurzfristigen Geldmarktsätze so zu steuern, dass sie möglichst eng mit den geldpolitischen Beschlüssen des EZB-Rats im Einklang stehen. Oder anders ausgedrückt: Bei der Entscheidung über das angemessene Niveau der kurzfristigen Zinsen orientieren wir uns an der geldpolitischen Strategie. Und mithilfe des Handlungsrahmens können wir die kurzfristigen Marktzinsen dann an dieses angemessene Niveau anpassen. 

Wie ist unser aktueller geldpolitischer Handlungsrahmen entstanden? Vor der globalen Finanzkrise nutzten viele Zentralbanken ein Korridorsystem zur Umsetzung der Geldpolitik. Im Fall des Eurosystems legte der EZB-Rat drei Zinssätze fest, wobei ein bestimmter Abstand zwischen den einzelnen Zinssätzen aufrechterhalten wurde.[7] 

Das Eurosystem stellte eine begrenzte Menge an Liquidität zum Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte zur Verfügung. Banken im Euroraum mit einem Defizit an Reserven konnten über Nacht zusätzliche Mittel zum Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität aufnehmen. Und Banken mit einem Überschuss an Reserven konnten diesen zum Zinssatz für die Einlagefazilität beim Eurosystem anlegen.

Allerdings hatten die Banken im Eurogebiet auch die Möglichkeit, Kredite zu höheren Zinssätzen als dem Einlagesatz zu vergeben oder am Interbankenmarkt Kredite zu niedrigeren Zinssätzen als dem Satz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität aufzunehmen. Daher war die Inanspruchnahme von Zentralbankfazilitäten für die Banken mit Opportunitätskosten verbunden. Ziel des Eurosystems war es dabei, die kurzfristigen Zinsen im Einklang mit dem Hauptrefinanzierungssatz zu halten. 

Zur Erreichung dieses Ziels wurden im Eurosystem Schätzungen vorgenommen, um den aggregierten Liquiditätsbedarf des Bankensektors zu ermitteln. Dieser Liquiditätsbedarf ergibt sich im Wesentlichen aus dem Mindestreserve-Soll der Banken im Euroraum und aus autonomen Faktoren, die nicht durch die geldpolitischen Geschäfte der EZB gesteuert werden können. Vereinfacht gesagt umfassen die autonomen Faktoren den Banknotenumlauf sowie die Einlagen öffentlicher Haushalte des Euroraums beim Eurosystem. Das weckt schöne Erinnerungen, denn eine meiner ersten Aufgaben bei der Bundesbank bestand darin, die zu unterhaltenden Mindestreserven und die autonomen Faktoren für Deutschland möglichst genau zu schätzen.

Im Rahmen der wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäfte stellte das Eurosystem dann Zentralbankreserven in Höhe des geschätzten Liquiditätsbedarfs bereit. Die Banken im Eurogebiet gaben ihre Gebote ab, und das Eurosystem stellte die Reserven im Auktionsverfahren zur Verfügung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass wir ein Korridorsystem mit knappen Reserven und Zinstender unterhielten. Auch die US-Notenbank arbeitete mit knappen Reserven, allerdings stellte sie Liquidität über Ankäufe von Vermögenswerten statt über Kreditgeschäfte bereit.[8] 

Das änderte sich mit Ausbruch der globalen Finanzkrise.[9] Vor der Krise verliehen die Banken des Euroraums, die über einen Überschuss an Reserven verfügten, die überschüssigen Mittel üblicherweise am Interbankenmarkt an Banken mit einem Defizit an Reserven.[10] Diese Ausleihungen erfolgten in erheblichem Umfang über unbesicherte OTC-Transaktionen. Ausreichende Reserven waren nur auf aggregierter Basis vorhanden. Daher war deren Umverteilung eine Voraussetzung dafür, dass dieses System der knappen Reserven reibungslos funktionierte. Dabei kam es entscheidend darauf an, dass sich die Gegenparteiausfallrisiken in Grenzen hielten und vorhersehbar waren.

Mit Ausbruch der Weltfinanzkrise wurden immer weniger Reserven umverteilt. Am Markt ging deren Bereitstellung zurück, während die Nachfrage insbesondere von risikofreudigeren Banken stark zunahm. Als Reaktion darauf änderte das Eurosystem sein Verfahren bei den Hauptrefinanzierungsgeschäften und stieg vom Zinstenderverfahren für ein begrenztes Angebot an Reserven auf Mengentender mit Vollzuteilung um.

Standen am Markt keine Finanzierungsmittel zur Verfügung oder waren sie zu teuer, dann nahmen Banken, deren Reserven nicht ausreichten, nun zusätzliche Mittel beim Eurosystem auf. Banken mit einem Überschuss an Reserven legten diese in unserer Einlagefazilität an. Hierdurch nahm die Überschussliquidität erheblich zu.[11] Und aufgrund der Überschussliquidität sanken die kurzfristigen Zinsen deutlich unter den Hauptrefinanzierungssatz. 

Fünf Jahre später – im Jahr 2014 – beschloss das Eurosystem angesichts einer länger anhaltenden Phase, in der die Inflation unter dem Zielwert lag, die erste Reihe gezielter längerfristiger Refinanzierungsgeschäfte (GLRGs). Diese boten den Banken eine langfristige Finanzierung zu attraktiven Konditionen. Um Ihnen eine Vorstellung von der Größenordnung dieser Geschäfte zu geben: Das Finanzierungsvolumen stieg von bis zu 425 Milliarden Euro bei den GLRG I auf über 2 Billionen Euro bei den GLRG III – dies entspricht rund 15 Prozent des BIP des Euroraums. Neben den GLRGs führte das Eurosystem 2014 auch das Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) ein und erwarb in diesem Zusammenhang deutlich mehr Schuldverschreibungen. Der Bestand an Wertpapieren zu geldpolitischen Zwecken erhöhte sich von rund 195 Milliarden Euro Ende September 2014 auf beinahe 5 Billionen Euro im Sommer 2022 oder fast 40 Prozent des BIP des Euroraums.

Beide Maßnahmen führten zu einer erheblichen Zunahme der Überschussliquidität und einem Rückgang der kurzfristigen Zinsen in Richtung des Einlagesatzes. Im Laufe der Zeit entstand der Eindruck, dass das Eurosystem allmählich von einem Korridorsystem de facto zu einem Floor-System übergegangen sei.[12]

3 Der neue geldpolitische Handlungsrahmen des Eurosystems

Was war unser wichtigster Beweggrund, die Überprüfung unseres aktuellen geldpolitischen Handlungsrahmens in Angriff zu nehmen? Im Juli 2023 stellte das Eurosystem die Reinvestitionen im Rahmen des APP ein. In der zweiten Jahreshälfte 2024 möchten wir zudem damit beginnen, das Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) auslaufen zu lassen. Außerdem haben die Banken im Euroraum die GLRGs zum Großteil zurückgezahlt. Es hat also endlich ein Rückgang der Überschussliquidität eingesetzt, der sich in den kommenden Jahren fortsetzen wird. Lassen Sie mich einige Zahlen nennen: Im November 2022 erreichte die Überschussliquidität einen Höchststand von mehr als 4,6 Billionen Euro. Seither ist sie um rund ein Drittel gesunken und beläuft sich nunmehr auf etwa 3,2 Billionen Euro. 

Diese Bilanzverkürzung war längst überfällig und wird für die Zukunft geldpolitischen Handlungsspielraum schaffen. Daher ist sie sehr zu begrüßen. Allerdings stellt sich damit auch die Frage, wie das Eurosystem künftig regelmäßig Liquidität bereitstellen wird. Und wie es die kurzfristigen Geldmarktsätze steuern will, damit sie möglichst eng mit den geldpolitischen Beschlüssen des EZB-Rats im Einklang stehen. 

Was haben wir also bei unserer Überprüfung des geldpolitischen Handlungsrahmens beschlossen? Ich möchte mich auf zwei Punkte konzentrieren: Erstens werden wir weiterhin Liquidität über die wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäfte und die dreimonatigen längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte bereitstellen. Diese werden als Mengentender mit Vollzuteilung und gegen ein breites Spektrum an Sicherheiten durchgeführt. Zweitens werden wir – und das ist meiner Ansicht nach am weitreichendsten – den Abstand zwischen dem Hauptrefinanzierungssatz und dem Einlagesatz ab Mitte September 2024 von 50 Basispunkten auf 15 Basispunkte verringern. Dieser geringere Abstand soll ein Anreiz zur Abgabe von Geboten in den wöchentlichen Tendern bieten, wodurch sich die kurzfristigen Geldmarktsätze in der Nähe des Einlagesatzes bewegen dürften. Die Fed hingegen wird Liquidität auch künftig vor allem über den Ankauf von Wertpapieren bereitstellen.

Neben wichtigen Parametern und Merkmalen haben wir uns auf eine Reihe von richtungsweisenden Grundsätzen für die Umsetzung der Geldpolitik verständigt, von denen ich zwei hervorheben möchte: Erstens den Grundsatz der Wirksamkeit. Mit dem Handlungsrahmen soll in erster Linie die Umsetzung unseres beabsichtigten geldpolitischen Kurses sichergestellt werden. Dies wird erreicht, indem die kurzfristigen Zinssätze in Einklang mit unseren geldpolitischen Beschlüssen gebracht werden. Schwanken die kurzfristigen Zinsen zu stark, könnte das Signal zum beabsichtigten geldpolitischen Kurs verzerrt werden, wodurch irgendwann die Wirksamkeit beeinträchtigt würde.

Zweitens den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft. Unser Handlungsrahmen soll im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb stehen. Dies gilt grundsätzlich für alle von der Umsetzung der Geldpolitik betroffenen Finanzmarktsegmente, insbesondere jedoch für die Refinanzierungsmärkte der Banken. Der Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft fördert einen effizienten Ressourceneinsatz, einen effektiven Preisbildungsmechanismus und die reibungslose Transmission der Geldpolitik. 

Außerdem haben wir uns darauf verständigt, dass der Handlungsrahmen robust, flexibel und effizient sein und unbeschadet des vorrangigen Preisstabilitätsziels der EZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union unterstützen soll.[13]

4 Zielkonflikt zwischen Marktaktivität und Volatilität der Marktzinsen

Zwischen dem Grundsatz der Wirksamkeit und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft besteht meines Erachtens der größte Zielkonflikt. Denn leider bedeutet eine geringere Volatilität der Geldmarktsätze nicht zwangsläufig, dass sie mit einer stärkeren Geldmarktaktivität einhergeht. Die Versorgung der Märkte mit reichlich Liquidität bei einem geringen Abstand zwischen dem Hauptrefinanzierungssatz und dem Einlagesatz kann die Volatilität der kurzfristigen Zinssätze zwar begrenzen, drosselt aber die Marktaktivität, vor allem unter Banken. Umgekehrt fördert die Versorgung der Märkte mit Liquidität bei einem größeren Abstand zwischen diesen beiden Zinssätzen zwar die Marktaktivität, allerdings unter Umständen auf Kosten stärker schwankender kurzfristiger Zinssätze.

Im EZB-Rat haben wir einen Zinsabstand von 15 Basispunkten beschlossen. Dieser Abstand begrenzt den Umfang der Marktzinsschwankungen und lässt den Banken Spielraum für marktbasierte Refinanzierungslösungen. Wie sollen wir aber nun mit diesem Zielkonflikt zwischen dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft, der die Marktaktivität fördern soll, und dem Grundsatz der Wirksamkeit, der die Volatilität am Geldmarkt begrenzen soll, umgehen? 

Lassen Sie mich mit dem Grundsatz der Wirksamkeit beginnen. Eine zu hohe Volatilität der Geldmarktsätze könnte das Signal zum beabsichtigten geldpolitischen Kurs verzerren. Was bedeutet das? Der EZB-Rat beschließt einen bestimmten geldpolitischen Kurs, den er für die Erreichung von Preisstabilität auf mittlere Sicht als angemessen erachtet. Dabei stellen die Kurzfristzinsen einen wichtigen Ausgangspunkt für die Übertragung geldpolitischer Impulse auf allgemeinere Preisentwicklungen dar. Denn die Kurzfristzinsen beeinflussen die mittel- und langfristigen Marktzinsen, die wiederum die Kosten der Bankkreditaufnahme beeinflussen. Und die Kredit- bzw. Finanzierungskosten der privaten Haushalte, Unternehmen und öffentlichen Haushalte wirken sich dann letztlich auf das Produktionswachstum und die Inflation aus. Volatile Marktzinsen könnten folglich (nur dann) ein Problem werden, wenn sie den geldpolitischen Transmissionsmechanismus in relevantem Maße beeinträchtigen. 

Leider liegen bislang kaum Forschungsergebnisse darüber vor, was passieren würde, wenn die kurzfristigen Zinsen erheblich um das Niveau der Leitzinsen herum schwanken würden. Vor allem der letztendliche Effekt auf die Inflation ist unklar. Wirken sich Schwankungen der Kurzfristzinsen spürbar auf die geldpolitische Transmission aus? Und wenn ja, wie groß sind die Schwankungen? Eine eingehendere Untersuchung dieser Thematik könnte einen wertvollen Beitrag für künftige geldpolitische Diskussionen liefern. Sicher ist, dass man mit überzeugenden Forschungsergebnissen auf diesem Gebiet bei den Zentralbanken offene Türen einrennen würde. Und es würde uns helfen, zu verstehen, wie wichtig es wirklich ist, bei der Verfolgung unseres vorrangigen Ziels der Preisstabilität die Zinsvolatilität zu begrenzen. 

Wie sieht es nun mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft aus? In unserem aktuellen und künftigen geldpolitischen Handlungsrahmen können alle zugelassenen Banken Kredite zum gleichen Zinssatz aufnehmen, sofern sie ausreichende notenbankfähige Sicherheiten hinterlegen und bestimmte Mindestkriterien für die finanzielle Solidität erfüllen. An den Refinanzierungsmärkten der Banken zahlen sie dagegen je nach ihrer finanziellen Solidität unterschiedliche Zinsen. 

Grundsätzlich steuert diese Zinsdifferenzierung die Mittelverteilung in der Wirtschaft, schafft Anreize für die Banken, ihre Bilanzen zu stärken, und trägt dazu bei, das Bankensystem insgesamt effizienter und stabiler zu machen. Gleichzeitig entlastet sie die Zentralbank bei der ihr obliegenden Festlegung, wer als vertrauenswürdiger Geschäftspartner gilt, und erhöht die Verantwortung des Marktes. Diese Vorteile einer stärkeren Marktaktivität sind nicht wirklich greifbar und daher bekanntlich schwer zu quantifizieren. Aber ich denke, wir sind uns hier alle einig, dass eine stärker marktbasierte Refinanzierung einem effizienten Ressourceneinsatz zugutekommt. 

Derzeit bepreisen die Geldmarktteilnehmer die meisten unbesicherten Overnight-Geschäfte mit einer engen Zinsspanne von null bis zehn Basispunkten. Für dieses Segment dürfte der künftige Spread von 15 Basispunkten ausreichen, um wirtschaftliche Anreize für Marktaktivitäten zu setzen. Der Großteil dieser Transaktionen findet aktuell zwischen Banken und Nichtbanken statt. Für Interbankengeschäfte könnte eine breitere Spanne erforderlich sein. In den längerfristigen Geldmarktsegmenten hingegen könnte ein Zinsabstand von 15 Basispunkten das Risiko bergen, dass viele Transaktionen, die auch bei einem größeren Spread noch stattfinden können, aus dem Markt ausgepreist werden. 

Die engere Spanne könnte auch unmittelbare Auswirkungen auf die Liquiditätsregulierung haben.[14] Die Bankenregulierung schreibt den Banken im Euroraum vor, bestimmte Liquiditätsanforderungen zu erfüllen.[15] Vor allem müssen sie über einen Mindestbestand an erstklassigen liquiden Aktiva („high-quality liquid assets“ oder HQLA) verfügen, um ihre Netto-Liquiditätsabflüsse der nächsten 30 Tage zu decken. Eine Möglichkeit, diese Anforderungen zu erfüllen, besteht darin, beim Eurosystem als HQLA eingestufte Reserven gegen Nicht-HQLA-Sicherheiten aufzunehmen. Auf diese Weise können die Banken illiquide Aktiva und Vermögenswerte geringerer Qualität in einem Verfahren, das als Sicherheitentransformation bezeichnet wird, in erstklassige liquide Aktiva umwandeln.

Die damit verbundenen Opportunitätskosten liegen derzeit bei 50 Basispunkten. Dies entspricht dem Abstand zwischen dem Hauptrefinanzierungssatz und dem Einlagesatz. Die Banken haben somit einen soliden finanziellen Anreiz, sich gegen Liquiditätsrisiken am Markt abzusichern. Eine Verringerung des Abstands auf 15 Basispunkte hat das Potenzial, die Opportunitätskosten zu senken und Anreize zu schaffen, von der marktbasierten Refinanzierung auf eine Refinanzierung über die Zentralbank umzustellen.

Das Gute ist: Wir haben genügend Zeit, um zu beobachten, wie sich die Aktivität am Markt in den kommenden Jahren entwickelt. Vor allem müssen wir zwischen der potenziellen Verringerung der Volatilität und einer geringeren Marktaktivität mit möglicherweise höherer Sicherheitentransformation abwägen.

5 Schluss

Meine Damen und Herren, ich möchte nun zum Schluss kommen. Unsere Bilanz wird zwar allmählich schrumpfen, aber die Überschussliquidität wird in den kommenden Jahren nach wie vor erheblich sein. Dementsprechend dürften sich die kurzfristigen Geldmarktzinsen weiterhin in der Nähe des Einlagesatzes bewegen, wobei eine gewisse Volatilität nicht auszuschließen ist.

In den kommenden zwei Jahren werden wir bis zu unserer nächsten planmäßigen Überprüfung drei wichtige Aspekte genau beobachten: Erstens werden wir die Entwicklung der Geldmarktaktivität, auch im mittelfristigen Segment, im Auge behalten. Zweitens werden wir mögliche Schwankungen der Kurzfristzinsen und deren Einfluss auf die Transmission der Geldpolitik analysieren. Und drittens werden wir prüfen, wie sich die Sicherheitentransformation entwickelt.

Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Eine Anpassung unseres geldpolitischen Handlungsrahmens war notwendig, um strukturellen Marktveränderungen Rechnung zu tragen. Ist dieser Handlungsrahmen nun in Stein gemeißelt? Das kann ich noch nicht sagen. Aber wir haben in der Vergangenheit unter Beweis gestellt, dass wir in der Lage sind und über die notwendige Flexibilität verfügen, um unsere Geldpolitik an sich verändernde Marktbedingungen anzupassen. Seien wir offen dafür – jetzt und in Zukunft.

Fußnoten:

  1. Ein vollständiger Überblick über die Geschichte des Konstanzer Seminars findet sich in: Fratianni, M. und J. von Hagen (2001), The Konstanz Seminar on monetary theory and policy at 30, European Journal of Political Economy, Bd. 17, S. 641-664.
  2. Borio, C. und P. Disyatat (2010), Unconventional monetary policies: an appraisal, Manchester School, University of Manchester, Bd. 78 (s1), S. 53-89.
  3. Bindseil, U. (2004), Monetary Policy Implementation: Theory, Past, and Present, Oxford University Press.
  4. Taylor, J. B. (1993), Discretion versus policy rules in practice, Carnegie-Rochester Conference Series on Public Policy, Elsevier, Bd. 39(1), S. 195-214.
  5. Woodford, M. (2004), Interest and Prices: Foundations of a Theory of Monetary Policy, Princeton University Press.
  6. Vgl. Änderungen am geldpolitischen Handlungsrahmen.
  7. Näheres dazu in: Leitzinssätze der EZB (Englisch).
  8. Vgl. Kahn, G. (2010), Monetary policy under a corridor operating framework, Economic Review, Federal Reserve Bank of Kansas City, Bd. 95(Q IV), S. 5-34.
  9. Vgl. Baker, N. und S. Rafter (2022), An International Perspective on Monetary Policy Implementation Systems, Reserve Bank of Australia, Bulletin, Juni 2022. Darin werden die Änderungen bei der Umsetzung der Geldpolitik nach der globalen Finanzkrise aus internationaler Perspektive beleuchtet.
  10. Vgl. Bech, M. und C. Monnet (2017), A search-based model of the interbank money market and monetary policy implementation, Journal of Economic Theory, Bd. 164, S. 32-67. Darin wird ein theoretisches Modell des Interbankenmarkts vorgestellt.
  11. Die Überschussliquidität entspricht der Summe aus Überschussreserven und Einlagen in der Einlagefazilität. Überschussreserven sind Einlagen von Kreditinstituten auf Zahlungsverkehrskonten bei der Zentralbank, die über das Mindestreserve-Soll hinausgehen.
  12. Eine theoretische Diskussion findet sich in: Afonso, G. et al. (2023), Monetary Policy Implementation with an Ample Supply of Reserves, Federal Reserve Bank of New York Staff Reports, Nr. 910.
  13. Vgl. die Erklärung des EZB-Rats (Änderungen am geldpolitischen Handlungsrahmen) für nähere Einzelheiten zu diesen vier Grundsätzen.
  14. Vgl. Bech, M. und T. Keister (2017), Liquidity regulation and the implementation of monetary policy, Journal of Monetary Economics, Bd. 92, S. 64-77. Darin wird der Einfluss der Liquiditätsdeckungskennziffer (LCR) nach Basel III auf die Interbankenzinssätze in einem ansonsten herkömmlichen Modell der Umsetzung der Geldpolitik theoretisch erörtert.
  15. Im Einklang mit dem Baseler Liquiditätsrahmenwerk wurden mit der Eigenkapitalverordnung CRR (Verordnung (EU) Nr. 575/2013) erstmals quantitative Liquiditätsvorschriften in europäisches Recht übernommen.