Flaggen der Europäischen Union ©Daniel Kalker / picture alliance

Der Beitrag der EU-Zuwanderung zur Entwicklung des deutschen Arbeitsmarkts im vergangenen Jahrzehnt Research Brief | 45. Ausgabe – März 2022

Mitte der 2010er-Jahre wuchsen die Löhne in Deutschland vergleichsweise schwach, die Beschäftigung dagegen überraschend stark. Eine neue Studie untersucht, welchen Beitrag die Zuwanderung im Rahmen der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit, insbesondere aus den mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsstaaten, zu diesen Entwicklungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt geleistet hat.

Die schrittweise Aufhebung der Zugangsbeschränkungen zum deutschen Arbeitsmarkt für die Staatsangehörigen der elf neuen mittel- und osteuropäischen (MOE) Mitgliedstaaten ab Mai 2011 führte zu einem starken Anstieg der Zuwanderung aus diesen Ländern nach Deutschland. Zwischen den Jahren 2011 und 2017 wanderten rund 3,9 Millionen Personen aus diesen Ländern nach Deutschland ein (siehe Abbildung 1), während rund 2,5 Millionen MOE-Staatsangehörige Deutschland verließen. Die Nettozuwanderung – also der Saldo aus Zuwanderung minus Abwanderung – aus diesen Ländern betrug somit rund 1,4 Millionen Personen. Dadurch erhöhte sich der Anteil der MOE-Staatsangehörigen an den Erwerbspersonen in Deutschland von 1,1 Prozent auf 3,4 Prozent (BA Statistik, 2022a).

Abbildung 1: Bruttozuwanderung von EU-Staatsangehörigen nach Deutschland
Abbildung 1: Bruttozuwanderung von EU-Staatsangehörigen nach Deutschland

MOE-Zuwanderung vor allem aus arbeitsmarktorientierten Motiven

Unter MOE-Staatsangehörigen in Deutschland ist die Beschäftigungsquote zwischen 2011 und 2017 von nahezu 36 Prozent auf 55 Prozent kräftig angestiegen (BA Statistik, 2022b). Der starke Anstieg der Beschäftigungsquote im Zuge der erhöhten Zuwanderung von MOE-Staatsangehörigen seit Ausweitung der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit auf diesen Personenkreis deutet darauf hin, dass die meisten Zuwanderinnen und Zuwanderer aus MOE-Staaten im vergangenen Jahrzehnt arbeitsmarktorientierten Motiven folgten. Die Zuwanderung erfolgte also insbesondere mit dem Ziel, eine Beschäftigung in Deutschland aufzunehmen. Im gleichen Zeitraum fiel zudem die Arbeitslosenquote unter MOE-Staatsangehörigen in Deutschland von 12,8 Prozent auf 8,1 Prozent. Dies spricht dafür, dass MOE-Zuwanderinnen und Zuwanderer typischerweise bereits vor dem Zuzug ein Stellenangebot aus Deutschland hatten. Die Mehrzahl derart vorausgewählter Zuwanderinnen und Zuwanderer verfügte somit über in Deutschland nachgefragte Qualifikationen.

Abbildung 2: Dynamik der in Deutschland verbleibenden EU-Zuwanderungskohorten
Abbildung 2: Dynamik der in Deutschland verbleibenden EU-Zuwanderungskohorten

Darüber hinaus blieben tendenziell diejenigen Zuwanderinnen und Zuwanderer aus MOE-Staaten dauerhaft in Deutschland, denen die berufliche Integration in Deutschland geglückt ist. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass die Qualifikationsprofile von Verbleibenden (dies sind frühere Neuankömmlinge, die schon einige wenige Jahre in Deutschland arbeiten, sich also im deutschen Arbeitsmarkt bewährt haben) noch passgenauer auf die Erfordernisse des deutschen Arbeitsmarkts ausgerichtet waren als die Qualifikationsprofile der Neuankömmlinge.

Aufgrund des hohen Ausmaßes der temporären Migration bzw. der Rückkehrmigration unter MOE-Staatsangehörigen (siehe Abbildung 2) unterscheiden wir – anders als in bisherigen Studien (z.B. Dustmann et al., 2013, Jaeger et al., 2018) – bei der empirischen Analyse der Arbeitsmarkteffekte der Zuwanderung explizit zwischen Neuankömmlingen und Verbleibenden (Hammer & Hertweck, 2022). Dieser neue Ansatz ermöglicht es, nicht nur die kurz-, sondern auch die mittelfristigen Effekte zu identifizieren, die die EU-Zuwanderung im vergangenen Jahrzehnt auf Löhne und Beschäftigung am deutschen Arbeitsmarkt hatte. Während mithilfe der Neuankömmlinge die kurzfristigen Effekte der Ausweitung des Arbeitsangebots abgebildet werden, können mithilfe der Verbleibenden zusätzlich die indirekten Effekte der Zuwanderung isoliert werden, die sich typischerweise erst mit Verzögerung zeigen. Beispielsweise, weil sich das Erwerbsverhalten der bereits Ansässigen oder die Investitionsanreize der Unternehmen ändern. Die alleinige Betrachtung der Neuankömmlinge würde also kein vollständiges Bild liefern.

Gegenläufige Wirkung von Neuankömmlingen und Verbleibenden auf die Lohndynamik

Den Ergebnissen zufolge dämpfte der Zustrom von Neuankömmlingen aus anderen EU-Mitgliedstaaten, insbesondere aus den MOE-Beitrittsstaaten, die Wachstumsrate der Durchschnittslöhne unter deutschen vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Dagegen stiegen mit der Anzahl der Verbleibenden tendenziell die Löhne unter deutschen vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern stärker.

Offenbar spielen die Verbleibenden am Arbeitsmarkt eine Rolle, die den dämpfenden Einfluss auf den Lohn bei ausschließlicher Betrachtung der Neuankömmlinge zumindest abmildern (Jaeger et al., 2018). Der Nettoeffekt auf das Lohnniveau ist zunächst zwar negativ. Etwa fünf Jahre nach einem Zuwanderungsschub kehrt das Lohnniveau jedoch wieder zu seinem ursprünglichen Wachstumspfad zurück (siehe Abbildung 3). Die Effekte sind insbesondere in den unteren Einkommensschichten relativ stark – also in denjenigen Einkommensgruppen, in denen EU-Zuwanderinnen und Zuwanderer besonders häufig beschäftigt sind und gegebenenfalls stärker mit ansässigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern konkurrieren.

EU-Zuwanderung wirkt dauerhaft positiv auf Beschäftigung deutscher Staatsangehöriger

Darüber hinaus wirkte sich die EU-Zuwanderung dauerhaft positiv auf das Beschäftigungsniveau deutscher Staatsangehöriger sowie von ansässigen Personen mit Migrationshintergrund aus. Dieser empirische Befund könnte beispielsweise daher rühren, dass sich die Stellen ansässiger Arbeitskräfte gut mit denen von EU-Zuwandererinnen und Zuwanderern kombinieren ließen und dass deren vorherrschendes Qualifikationsprofil unter ansässigen Arbeitskräften relativ selten vorzufinden war (Chassamboulli & Palivos, 2014). Somit liefert die Studie einen Erklärungsbeitrag zu der Frage, warum Mitte der 2010er-Jahre die Löhne in Deutschland vergleichsweise schwach zulegten, die Beschäftigung dagegen überraschend stark wuchs.

Abbildung 3: Gesamteffekt der EU-Zuwanderung auf Durchschnittslöhne deutscher Staatsangehöriger in Westdeutschland
Abbildung 3: Gesamteffekt der EU-Zuwanderung auf Durchschnittslöhne deutscher Staatsangehöriger in Westdeutschland

Fazit

Im Vergleich zu früheren Arbeiten zum Zuwanderungsgeschehen in Deutschland während der 1990er-Jahre (zum Beispiel D’Amuri et al., 2010) fallen in der vorliegenden Studie insbesondere die Beschäftigungseffekte der EU-Zuwanderung im vergangenen Jahrzehnt deutlich positiver aus. Dieser Befund ist vermutlich auf das Zusammenspiel zweier Faktoren zurückzuführen: Zum einen ist der deutsche Arbeitsmarkt in den vergangenen 20 Jahren deutlich flexibler geworden. Die Beschäftigungsverhältnisse in den neu entstandenen Wirtschaftszweigen wie der Zeitarbeit werden zwar niedrig entlohnt, bieten Zuwanderinnen und Zuwanderern aber niedrigschwellige Möglichkeiten, erste Erfahrungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu erwerben. Zum anderen förderte die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit diejenige arbeitsmarktorientierte Zuwanderung, die passgenau auf die Erfordernisse des deutschen Arbeitsmarkts ausgerichtet war. Somit schlossen EU-Zuwanderinnen und Zuwanderer die Lücken, die durch ansässige Arbeitskräfte nur schlecht gefüllt werden konnten. Eine Verdrängung von ansässigen Arbeitskräften fand daher nicht statt. Vielmehr hat der Zuzug von Arbeitskräften aus der EU möglicherweise dazu beigetragen, dass Ansässige leichter neu geschaffene Stellen fanden, die sich in Unternehmen gut mit den relativ niedrig bezahlten Arbeitsplätzen der EU-Zuwanderinnen und Zuwanderer ergänzten.

Diese Studie verwendet die schwach anonymisierte Version der Stichprobe der Integrierten Arbeitsmarktbiographien (SIAB) – Version 1517 v1. Der Datenzugang erfolgte über einen Gastaufenthalt am Forschungsdatenzentrum der Bundesagentur für Arbeit im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (FDZ) und anschließend mittels kontrollierter Datenfernverarbeitung beim FDZ: DOI:10.5164/IAB.FDZD.1902.de.v1. Datendokumentation: Antoni et al. (2019).

Haftungsausschluss
Die hier geäußerten Ansichten spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Deutschen Bundesbank oder des Eurosystems wider.

Referenzen

  • Antoni, M. & A. Schmucker & S. Seth & P. vom Berge (2019): Stichprobe der Integrierten Arbeitsmarktbiografien (SIAB) 1975 - 2017. FDZ Datenreport, 02/2019 (de), Nürnberg.
  • BA Statistik (2022a). Eingeschränkte Bezugsgröße nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten, Deutschland. Statistik der Bundesagentur für Arbeit.
  • BA Statistik (2022b). Migrationsmonitor, Deutschland (Monatszahlen). Statistik der Bundesagentur für Arbeit.
  • Chassamboulli, A. & T. Palivos (2014). A search-equilibrium approach to the effects of immigration on labor market outcomes. International Economic Review 55, 111–129.
  • D’Amuri, F., G. I. Ottaviano, & G. Peri (2010). The labor market impact of immigration in Western Germany in the 1990s. European Economic Review 54(4), 550–570.
  • Destatis (2022). Wanderungen zwischen Deutschland und dem Ausland: Deutschland, Jahre, Staatsangehörigkeit, Tabelle 12711-0007. Statistisches Bundesamt.
  • Dustmann, C., T. Frattini, & I. P. Preston (2013). The effect of immigration along the distribution of wages. Review of Economic Studies 80(1), 145–173.
  • Hammer, L. & M. S. Hertweck (2022). EU enlargement and (temporary) migration: Effects on outcomes on labour market outcomes in Germany. Discussion Paper No. 02/2022, Deutsche Bundesbank.
  • Jaeger, D. A., J. Ruist, & J. Stuhler (2018). Shift-share instruments and the impact of immigration. NBER Working Papers No. 24285, National Bureau of Economic Research.
Die Autoren 
Luisa Hammer ©Johann Gluschko
Matthias Sebastian Hertweck ©Deutsche Bundesbank
Luisa Hammer
Doktorandin an der Professur für Empirische Wirtschaftsforschung und Gender, Freie Universität Berlin
Matthias Sebastian Hertweck 
Forschungsökonom in der volkswirtschaftlichen Abteilung der Deutschen Bundesbank

Neuigkeiten aus dem Forschungszentrum

Veröffentlichungen

  • What Drives Startup Valuations?“ von Björn Imbierowicz (Deutsche Bundesbank) und Christian Rauch (American University of Sharjah) wird im Journal of Banking and Finance erscheinen.
  • Are Tax Cuts Contractionary at the Zero Lower Bound? Evidence from a Century of Data“ von James Cloyne (University of California, Davis), Nicholas Dimsdale (Oxford University) und Patrick Hürtgen (Deutsche Bundesbank) wird im Journal of Political Economy erscheinen.

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