Arbeiten auf einer Baustelle ©Maximilian Stock

Führen niedrigere deutsche Löhne zu Leistungs­bilanz­ungleich­gewichten im Euro-Raum? Research Brief | 2. Ausgabe – März 2016

Oft heißt es, die vor der Finanzkrise entstandenen Leistungs­bilanz­ungleich­gewichten im Euro-Raum gingen maßgeblich auf die Lohnzurückhaltung in Deutschland zurück. Eine neue Studie stellt diese These auf den Prüfstand.

Anhaltende Leistungsbilanzdefizite können problematisch sein, weil sie Volkswirtschaften aufgrund steigender Auslandsverschuldung potenziell anfälliger für Schocks machen. Leistungsbilanzdefizite entstehen, wenn die grenzüberschreitenden Ausgaben für Waren und Dienstleistungen sowie die Einkommenszahlungen und Transfers an das Ausland die entsprechenden Einnahmen in der Summe übersteigen. Im Euro-Raum hatten viele Mitgliedsländer vor allem in den Jahren vor der Finanzkrise solche Defizite, während Deutschland hohe Leistungsbilanzüberschüsse aufwies. Manche Beobachter hielten diese Ungleichgewichte sogar für die eigentliche Ursache der Staatsschuldenkrise im Euro-Raum.

Abbildung 1: Leistungsbilanzsaldo im Verhältnis zum BIP in ausgewählten EWU-Ländern
Abbildung 1: Leistungs­bilanzsaldo im Verhält­nis zum BIP in ausge­wählten EWU-Ländern
Abbildung 1 verdeutlicht für ausgewählte EWU-Länder, wie stark sich jeweils die Leistungs­bilanzsalden in Prozent des nominalen Bruttoinlands­produkts, während des Betrachtungs­zeitraums auseinander­entwickelten.

In unserer Studie überprüfen wir die These, ob die Leistungsbilanzungleichgewichte im Euro-Raum auf die Arbeitsmarktreformen in Deutschland zurückgeführt werden können. Ein vielfach vorgebrachtes Argument lautet, dass die Ungleichgewichte vor allem deshalb entstanden, weil Deutschland Ende der 1990er Jahre und Anfang der 2000er Jahre seine preisliche Wettbewerbsfähigkeit deutlich verbesserte, maßgeblich unterstützt durch vielfältige Reformen am deutschen Arbeitsmarkt (IWF (2012) und ILO (2012)): So sanken die Reallöhne in Deutschland unter anderem durch tarifvertragliche Lockerungen und Öffnungsklauseln (siehe Eichhorst und Marx (2009)). Diese erlauben unter bestimmten Bedingungen, von den allgemeinen Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern abzuweichen.

Analyse für neun Länder

Wie sich die Reallöhne im Zeitverlauf entwickeln, hängt nicht zuletzt davon ab, wie hoch die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer in den Tarifverhandlungen ist. Verringert sich diese, etwa durch Reformen am Arbeitsmarkt oder hohe Arbeitslosigkeit, so kann sich dies dämpfend auf die Entwicklung der Reallöhne auswirken. In unserer Studie untersuchen wir genau diese Verbindung zwischen der Verhandlungsmacht und der Reallohnentwicklung sowie der Leistungsbilanz. Dazu haben wir die Verhandlungsstärke der deutschen Arbeitnehmer bei Tarifgesprächen mit Reallöhnen, Leistungsbilanzen und anderen gesamtwirtschaftlichen Größen in einem Mehrländermodell in Beziehung gesetzt. In diesem "Global Vector Auto Regressive Model" (GVAR) analysieren wir für neun Länder eine Stichprobe mit Daten aus dem Zeitraum vom dritten Quartal 1992 bis zum zweiten Quartal 2007. Das Verfahren erlaubt es, bei den betrachteten Variablen endogene Bewegungen, die auf den systematischen Zusammenhang zurückgehen, von Entwicklungen zu unterscheiden, die davon unabhängig und in diesem Sinn unerwartet sind.

Auf diese Weise können wir untersuchen, wie eine unerwartete Schwächung der Verhandlungsposition der Arbeitnehmer in einem bestimmten Land die Binnenwirtschaft sowie das Ausland beeinflusst. Aktuelle Studien haben bereits gezeigt, dass preisliche Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Produktion steigen, wenn die Arbeitnehmerseite bei Tarifgesprächen nicht mehr so durchsetzungsstark ist. Dies verbessert die Leistungsbilanz des entsprechenden Landes (siehe Bettendorf und León-Ledesma (2015)).

Abbildung 2: Vierteljährliche Reaktionen der Leistungsbilanzsalden ausgewählter EWU-Länder im Verhältnis zum BIP nach Eintreten eines Schocks in Bezug auf die Verhandlungsstärke der deutschen Arbeitnehmer
Abbildung 2: Vierteljährliche Reaktionen der Leistungsbilanzsalden ausgewählter EWU-Länder im Verhältnis zum BIP nach Eintreten eines Schocks in Bezug auf die Verhandlungsstärke der deutschen Arbeitnehmer

Unsere Analyse zeigt: Wenn die Verhandlungsmacht der deutschen Arbeitnehmer unerwartet sinkt, hat das sehr unterschiedliche Effekte auf die Leistungsbilanzen in Europa. Abbildung 2 illustriert diese Entwicklung: Wie erwartet verbessert sich die deutsche Leistungsbilanz. In Griechenland und in den Niederlanden dagegen sinken die Leistungsbilanzsalden, während es positive Wirkungen in Spanien, Finnland und Frankreich gibt. Die Leistungsbilanzen in Österreich, Italien und Portugal reagieren kaum.

Ein möglicher Grund für diese Ergebnisse sind unterschiedliche Handelsbeziehungen zwischen den Ländern: Während negative Übertragungseffekte üblicherweise die Folge eines direkten Wettbewerbs zwischen Ländern sind, können positive Übertragungseffekte auf internationale Wertschöpfungsketten hindeuten. Solche liegen zum Beispiel vor, wenn ein Land ein Vorprodukt an ein anderes liefert, das dort weiter verarbeitet und exportiert wird.

Simulation zur Größe des Effekts

Die Verhandlungsmacht der deutschen Arbeitnehmer bei Tarifgesprächen wirkt also recht unterschiedlich auf die Leistungsbilanzen in anderen Euro-Ländern. Aber wie gewichtig ist dieser Effekt?

Um diese Frage zu beantworten, vergleichen wir unsere Ergebnisse mit einer fiktiven Konstellation, bei der sich im Modell die deutsche Verhandlungsstärke im gleichen Zeitraum nicht unerwartet ändert. Eine solche Analyse wird auch als kontrafaktisch bezeichnet.

Abbildung 3: Ursprüngliche und kontrafaktische Streuung aller Leistungsbilanzen im Verhältnis zum BIP
Abbildung 3: Ursprüngliche und kontrafaktische Streuung aller Leistungsbilanzen im Verhältnis zum BIP

Abbildung 3 zeigt Leistungsbilanzsalden im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt für die ursprünglichen Daten (rot) sowie die kontrafaktischen Situation (grün). Der Vergleich ergibt, dass die Verhandlungsposition deutscher Arbeitnehmer keine große Rolle für die Ungleichgewichte in Europa spielt (vgl. auch Gadatsch et al. (2015)). Sowohl die ursprünglichen als auch die kontrafaktischen Leistungsbilanzsalden entwickeln sich im gesamten Referenzzeitraum in allen Ländern sehr ähnlich.

Fazit

Unsere Studie zeigt, dass eine weniger starke Verhandlungsposition der deutschen Arbeitnehmer die deutsche Leistungsbilanz verbessert. Die Reaktionen in den anderen Euro-Ländern fallen aber gemischt aus, und insgesamt ist der Effekt nicht sehr groß. Das bedeutet: Die deutsche Lohnzurückhaltung kann nicht der Hauptgrund für die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte im Euro-Raum gewesen sein.

Haftungsausschluss
Die hier geäußerten Ansichten spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Deutschen Bundesbank oder des Eurosystems wider.

Literatur

  • T. Bettendorf and M. León-Ledesma, (2015), German wage moderation and European imbalances: feeding the global VAR with theory, Diskussionspapier der Deutschen Bundesbank, Nr. 15/2015.
  • W. Eichhorst und P. Marx, (2009), Reforming German Labor Market Institutions: A Dual Path to Flexibility, IZA-Diskussionspapier, Nr. 4100.
  • N. Gadatsch, N. Stähler und B. Weigert, (2015), German labor market and fiscal reforms 1999 to 2008: Can they be blamed for intra-Euro Area imbalances?, Diskussionspapier der Deutschen Bundesbank, Nr. 29/2015.
  • ILO (2012), Global Employment Trends 2012.
  • IWF (2012), IMF – Group of Twenty, Umbrella Report.
Die Autoren 

Timo Bettendorf ©Nils Thies

Timo Bettendorf
Forschungsökonom in der volkswirtschaft­lichen Abteilung der Deutschen 
Bundesbank

Miguel León-Ledesma ©Deutsche Bundesbank

Miguel León-Ledesma
Professor für Volkswirtschaft an der Universität Kent, UK

Neuigkeiten aus dem Forschungszentrum

Veröffentlichungen

  • What Moves Markets?” von Mark Kerßenfischer (Deutsche Bundesbank) und Mike Schmeling (Goethe Universität) wird im Journal of Monetary Economics erscheinen.
  • Leaping into the dark: A theory of policy gambles“ von Kartik Anand (Deutsche Bundesbank), Prasanna Gai (University of Auckland) und Philipp König (Deutsche Bundesbank) wird im Journal of Comparative Economics erscheinen.

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