Wie bekommt man die Inflation in turbulenten Zeiten in den Griff? Rede am Peterson Institute for International Economics
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Einleitung
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
lieber Adam,
vielen Dank für die freundlichen Begrüßungsworte.
Es ist mir eine Freude, hier am Peterson Institute for International Economics in Washington D. C. sprechen zu dürfen. Herzlichen Dank, Adam, für die Einladung.
Auf der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank haben wir in den vergangenen Tagen die aktuellen wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklungen intensiv erörtert. Nun freue ich mich darauf, Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, meine Ansichten darzulegen und sie mit Ihnen zu diskutieren.
Die laufende wirtschaftspolitische Debatte hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Comeback von Schauspielerinnen und Schauspielern, die wir seit Jahren nicht mehr auf der Bühne gesehen haben. So mancher von uns hat sie sogar schon vergessen.
Der Auftritt der Inflation liegt schon sehr lange zurück. Sie war totgeglaubt. Doch die Nachrufe auf sie sind zu früh verfasst worden.
Ebenfalls ein Comeback feiern die Finanzmarktturbulenzen, die kürzlich nach längerer Abwesenheit wieder in das Rampenlicht rückten. Ich hoffe, dass es sich hier nur um einen Cameo-Auftritt handelt.
2 Comeback der Inflation
Viele Jahre lang hatten wir es mit einer dauerhaft niedrigen Inflation zu tun. In den vergangenen anderthalb Jahren waren die Inflationsraten jedoch so hoch wie seit mehreren Dekaden nicht mehr. Der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) im Euroraum ist im Vergleich zu 2021 um durchschnittlich 8,4 Prozent gestiegen.
Noch nie zuvor in der Geschichte der Gemeinschaftswährung war die Inflation im Euroraum so hoch wie 2022. Über mehrere Monate verzeichneten wir sogar zweistellige Werte.
Allerdings ist die hohe Inflation kein spezifisches Problem des Euroraums. Sie ist ein globales Phänomen. Laut IWF stiegen die Verbraucherpreise in den Industrieländern 2022 um 7,3 Prozent. Das war der höchste Zuwachs seit vier Jahrzehnten.
Zunächst entstanden Lieferengpässe, die auf Lieferkettenstörungen und die hohe Warennachfrage während der Pandemie zurückzuführen waren. Sie wurden anfangs von vielen als vorübergehende Erscheinung betrachtet. Doch mit der Zeit zeigte sich immer deutlicher, dass die Inflation länger als erwartet hoch bleiben könnte.
Die Energie- und Nahrungsmittelkrise – ausgelöst durch den furchtbaren Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine – führte im weiteren Verlauf dazu, dass sich der Preisanstieg merklich beschleunigte. Das betraf sowohl den Euroraum insgesamt als auch speziell Deutschland, das zu stark von russischem Gas abhängig geworden war. Die Energie- und Nahrungsmittelpreise zogen kräftig an, sodass die Gesamtinflation im Euroraum zweistellige Werte erreichte.
Mittlerweile ist diese Rate wieder einstellig, doch die zugrunde liegende Inflation gewinnt fortlaufend an Breite. Des Weiteren wird die Inflation zunehmend von der Nachfrage bestimmt. Die Kerninflation, gemessen am HVPI ohne Energie und Nahrungsmittel, ist im März auf 5,7 Prozent gestiegen. Hier handelt es sich nicht nur um ein neues Allzeithoch, sondern um das vierte Allzeithoch in Folge.
Wenn es um das Thema Kerninflation geht, werden Notenbankerinnen und Notenbanker bisweilen unverblümt gefragt, ob sie denn selbst weder essen noch heizen. Seien Sie versichert: Sie tun beides.
Die EZB hat freilich nicht die Kerninflation im Visier. Das Zwei-Prozent-Ziel bezieht sich auf die Gesamtinflation. Wenn wir nur auf die aktuelle Gesamtinflationsrate blicken, könnte dies jedoch zu vorschnellen Schlussfolgerungen führen.
Die Messgrößen der Kerninflation ermöglichen es indes, Signale vom Rauschen zu unterscheiden, und liefern daher wertvolle Informationen über den zugrunde liegenden Inflationstrend.[1] Sie signalisieren, auf welchem Niveau sich die Gesamtinflation auf mittlere Sicht einpendeln wird. Und daher ist es ratsam, auf die Kerninflation zu achten.
3 Reaktion der Geldpolitik
Als sich herausstellte, dass der Inflationsschub länger anhielt als zunächst gedacht, folgte eine entschlossene Reaktion. Nach mehreren Jahren einer sehr lockeren Geldpolitik änderte der EZB-Rat seinen Kurs grundlegend.
- Wir haben den zusätzlichen Erwerb von Vermögenswerten eingestellt.
- Innerhalb von nur acht Monaten haben wir die Leitzinsen um 350 Basispunkte erhöht.
Derzeit liegt der relevante Leitzins – der Zinssatz für die Einlagefazilität – bei 3 Prozent. - Mit dem Instrument zur Absicherung der Transmission (TPI) haben wir ein Instrument geschaffen, das die effektive Transmission der Geldpolitik unterstützen soll.
Es kann aktiviert werden, wenn die Staatsanleiherenditen zu stark voneinander abweichen und diese Abweichung nicht fundamental gerechtfertigt ist und die Preisstabilität gefährdet. Die Aktivierung des TPI soll sicherstellen, dass die Transmission des geldpolitischen Kurses in allen Ländern des Euroraums reibungslos erfolgt. - Außerdem haben wir begonnen, unsere Bilanz zu verkleinern.
Im vergangenen Monat haben wir die vollumfängliche Wiederanlage fällig werdender Wertpapiere, die im Rahmen des Programms zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) erworben wurden, eingestellt. Dies bedeutet, dass sich unser APP-Portfolio von März bis Juni um 15 Milliarden Euro pro Monat verringern wird.
Es ist klar, dass die Geldpolitik noch eine Wegstrecke vor sich hat, bis sich die volle Wirkung auf die Inflation entfaltet.
Ich möchte Ihnen das gerne veranschaulichen: Vor etwa einem Monat haben wir eine Schätzung vorgenommen, inwieweit sich die derzeitige geldpolitische Straffung bereits in einigen wichtigen Variablen niederschlägt.
Wir können demnach davon ausgehen, dass die Maßnahmen vollständig auf die Geld- und Kapitalmarktzinsen übertragen wurden, jedoch nur zu etwa 80 Prozent auf die Kreditzinsen. Mit Blick auf das Kreditvolumen liegt der Transmissionsgrad bei etwa 40 Prozent, in Bezug auf das BIP bei etwa 30 Prozent und mit Blick auf die Inflation bei rund 20 Prozent.
Damit steht der größte Teil der Wirkung auf die Inflation noch aus.
Gleichwohl hat sich die Inflation im Euroraum in den vergangenen Monaten leicht verringert. Der Kampf um Preisstabilität ist aber noch nicht gewonnen, denn im März ist der Verbraucherpreisindex im Euroraum um 6,9 Prozent gestiegen.
Der jüngste Inflationsrückgang ist vor allem auf niedrigere Energiepreise und einen günstigen Basiseffekt zurückzuführen, der sich wie folgt erklären lässt: Durch den Angriff Russlands auf die Ukraine stiegen die Energiepreise im März 2022 drastisch an. Das zeigte sich bislang in einer deutlich erhöhten Inflationsrate gegenüber dem Vorjahr. Seit März bildet dagegen das erhöhte Preisniveau die Basis für die Berechnung der Inflationsrate. Und dies schlägt sich in einer niedrigeren Gesamtrate nieder.
In ihren aktuellen Projektionen erwarten die Fachleute der EZB, dass die Inflation weiter sinken wird, wenn auch nur allmählich. Dabei wird auch berücksichtigt, dass die geldpolitischen Maßnahmen noch nicht vollumfänglich ihre Wirkung entfaltet haben.
Für dieses Jahr rechnen die Fachleute mit einer Inflation von durchschnittlich 5,3 Prozent und für 2024 mit einer Rate von 2,9 Prozent. Erst in der zweiten Jahreshälfte 2025 dürfte die Inflation wieder auf 2 Prozent zurückkehren. Zwei Prozent ist unser mittelfristiges Inflationsziel. Die HVPI-Rate ohne Energie und Nahrungsmittel wird den Projektionen zufolge bis Ende 2025 nach wie vor bei über 2 Prozent liegen.
Einschränkend ist festzuhalten, dass die Projektionen vor dem Auftreten der jüngsten Marktturbulenzen fertiggestellt wurden. Die Inflationsprognosen für 2023 und 2024 decken sich jedoch mit denen im aktuellen World Economic Outlook des IWF, der gerade erst diese Woche veröffentlicht wurde.
Dennoch sind die Risiken für die Preisstabilität meines Erachtens derzeit aufwärtsgerichtet. Daher ist es nicht selbstverständlich, dass wir auf mittlere Sicht zu Preisstabilität zurückkehren.
4 Argumente für höhere Zinsen und Bedenken
Ich glaube deshalb, dass unsere Arbeit noch längst nicht getan ist. Vielmehr werden meiner Meinung nach weitere Zinserhöhungen erforderlich sein.
Kritiker warnen hingegen, dass eine weitere Straffung der Geldpolitik einerseits der Wirtschaft schaden werde und andererseits die Finanzmärkte zu stark belasten werde. Beide Positionen müssen ernst genommen werden. Mich überzeugt jedoch weder die eine noch die andere Argumentation.
4.1 Wirtschaftliche Bedenken
Was die Wirtschaft des Euroraums betrifft, so hat die geldpolitische Straffung hier bislang keinen ernsthaften Schaden angerichtet.
Es steht außer Frage, dass sich Angebot und Nachfrage auf aggregierter Ebene angleichen müssen, um Preisstabilität wiederherzustellen. In der Tat wirkt sich die geldpolitische Straffung schon jetzt dämpfend auf die Nachfrage aus, und dies ist – um es klar zu sagen – ein beabsichtigter Effekt.
Dadurch wird es aber nicht zwangsläufig zu einer Rezession kommen. Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin recht zuversichtlich, dass wir auf diese Weise eine harte Landung vermeiden können.
Die EZB hat in ihren Projektionen das für 2023 erwartete durchschnittliche Wirtschaftswachstum auf 1,0 Prozent nach oben korrigiert. Der Rückgang der Energiepreise wird sich günstig auf die Konjunktur auswirken. Und für 2024 und 2025 erwarten die Fachleute der EZB einen weiteren Anstieg des Wachstums auf 1,6 Prozent. Die Projektionen des IWF sind im Übrigen ähnlich.
Der Arbeitsmarkt im Euroraum ist robust, die Arbeitslosenquote historisch niedrig, und der Fachkräftemangel ist nach wie vor sehr ausgeprägt. Das Risiko, dass die Konjunktur durch eine Verschärfung der monetären Bedingungen abgewürgt werden könnte, ist daher eher begrenzt.
Kenneth Rogoff und Carme Reinhart sehen das möglicherweise skeptisch, aber ich denke: Dieses Mal ist wirklich alles anders. Für die Wirtschaft würde tatsächlich ein größerer Schaden entstehen, wenn die Inflation dauerhaft hoch bleibt. Mit anderen Worten: Wenn die Inflation hartnäckig ist, müssen wir einfach noch hartnäckiger sein.
4.2 Bedenken hinsichtlich der Finanzstabilität
Das zweite Argument gegen weitere Zinserhöhungen betrifft die Finanzstabilität.
Manche Beobachter sehen den starken Zinsanstieg als Auslöser für die jüngsten Turbulenzen an den Finanzmärkten. Würden die Zentralbanken die Geldpolitik noch stärker straffen, so die Argumentation, würde dies die Finanzstabilität gefährden.
Es stimmt zwar, dass die rasche Abfolge von Zinsanhebungen einzelne Banken vor eine Herausforderung gestellt hat, aber das Risiko ist beherrschbar. Auf mittlere Sicht profitieren die Geschäftsbanken sogar von höheren Zinsen, denn sie können ihre Margen wieder ausweiten, nachdem diese in der Zeit der Negativzinsen geschrumpft waren.
Insofern sehe ich die spezifischen Probleme einzelner Banken wie etwa der Silicon Valley Bank oder der Credit Suisse nicht als Anzeichen einer systemischen Krise. Insgesamt hat das Finanzsystem die Marktturbulenzen bislang gut überstanden.
Das soll nicht heißen, dass keine entschlossenen geldpolitischen Maßnahmen notwendig gewesen wären, um die Auswirkungen dieser Turbulenzen einzudämmen. Und die jüngsten Ereignisse haben zweifelsohne Risiken im Finanzsektor ans Licht gebracht.
So hat sich gezeigt, dass Risiken insbesondere dann zum Tragen kommen können, wenn folgende Faktoren zusammentreffen:
- eine übermäßige Fristentransformation,
- das plötzliche Eintreten hoher unrealisierter Verluste,
- geringe Liquiditätspuffer,
- eine hohe Konzentration nicht versicherter Einlagen im Technologiesektor sowie
- das Zusammenspiel von sozialen Medien, Digital-Finance-Tools und nervösen Einlegern.
Nun stellt sich die Frage, ob wir den Rahmen für die globale Finanzmarktregulierung anpassen müssen. Aus meiner Sicht ist es jetzt umso wichtiger, die Basel‑III‑Regelungen weltweit ohne Abstriche umzusetzen.
In der langen Phase sehr niedriger Zinsen haben sich Anfälligkeiten im Finanzsystem aufgebaut. Für Europa und insbesondere für Deutschland kann ich sagen, dass die Regulierungsbehörden darauf reagiert haben. So wurden beispielsweise zusätzliche bankspezifische Kapitalzuschläge und makroprudenzielle Kapitalpuffer eingeführt.
Die jüngsten Ereignisse haben zudem gezeigt, dass wir den Einfluss von sozialen Medien und Social Trading auf die Finanzmärkte untersuchen sollten. Schließlich sehen manche im Zusammenbruch der Silicon Valley Bank den ersten Bank-Run, der durch die sozialen Medien, vor allem durch Kurznachrichten (Tweets), geschürt wurde. Die interessante Frage lautet: Wie können wir verhindern, dass Tweets dermaßen verheerende Auswirkungen haben?
Es wird auch behauptet, dass Single-Name-CDS auf bestimmte Banken zu Marktreaktionen geführt haben könnten. Aber das ist noch nicht abschließend geklärt. Single-Name-CDS sind Derivate, die auf dem Kreditrisiko eines einzelnen Kreditnehmers basieren. Der Handel in diesem Marktsegment, das eine bemerkenswert niedrige Liquidität aufweist, erfolgt überwiegend außerbörslich.
Auf alle Fälle sollten wir prüfen, wie die Liquidität und Transparenz der CDS‑Märkte verbessert werden kann. Wichtig wären vor allem eine wirksame Überwachung von Marktmissbrauch sowie erweiterte Berichtspflichten. Dies würde dazu beitragen, dass die Marktteilnehmer auch in Stressphasen Vertrauen in die Integrität und Zuverlässigkeit der Finanzmärkte haben.
Jedenfalls stehen uns alle geldpolitischen Instrumente zur Verfügung, um das Finanzsystem des Euroraums bei Bedarf mit Liquidität zu unterstützen. Wir beobachten die Situation genau und sind bereit zu handeln. Das Bankensystem im Euroraum ist widerstandsfähig, gut kapitalisiert und liquide.
Gleichwohl müssen Entscheidungen in Zeiten von Marktturbulenzen besonders sorgfältig abgewogen werden. Umso wichtiger ist es, dass wir uns nicht von vornherein auf eine bestimmte Handlungsoption festlegen und dass wir geldpolitische Beschlüsse auf Basis der jeweils aktuellen Daten fassen. Wir müssen von Sitzung zu Sitzung entscheiden.
Im Vorfeld unserer nächsten Sitzung müssen wir beurteilen, ob die jüngsten Turbulenzen zu einer übermäßigen Verschärfung der Kreditbedingungen geführt haben. Wenn ja, könnten sich daraus Implikationen für unseren geldpolitischen Kurs ergeben.
Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Die Geldpolitik ist nicht das Instrument der Wahl, wenn es um Fragen der Finanzstabilität geht. Das vorrangige Ziel der Geldpolitik der EZB ist die Gewährleistung von Preisstabilität. Und dieses Ziel ist definitiv noch nicht erreicht.
5 Risiken einer zu lange über dem Zielwert verharrenden Inflation
Sollte sich also das Basisszenario unserer Projektionen bewahrheiten, dann liegt noch ein gutes Stück Weg vor uns, wie Christine Lagarde jüngst richtigerweise betonte.[2]
Mit anderen Worten: Wenn sich die Inflationsaussichten nicht deutlich verbessern, können Sie davon ausgehen, dass wir die Zinsen weiter anheben werden.
Wir sind nicht von vornherein auf weitere Zinserhöhungen festgelegt, wohl aber darauf, Preisstabilität zu gewährleisten. Deshalb ist es noch viel zu früh, den Zinserhöhungszyklus zu beenden oder gar über Zinssenkungen nachzudenken.
Um die Inflation in den Griff zu bekommen, müssen wir ein ausreichend hohes und restriktives Zinsniveau erreichen. Und dieses Niveau muss so lange beibehalten werden, bis die Daten und Projektionen hinreichende Belege dafür liefern, dass die Inflation wieder auf unseren mittelfristigen Zielwert von 2 Prozent zusteuert. Außerdem muss sich diese Entwicklung auch in der zugrundeliegenden Inflation niederschlagen.
Ansonsten könnte sich die hohe Inflation verfestigen, und die Inflationserwartungen könnten sich entankern. Je länger der Inflationsschock anhält, desto eher wird er Narben in den Erinnerungen der Menschen hinterlassen.
Auf diese Vernarbungseffekte, die durch aktuelle Studien untermauert werden, bin ich bereits in einer Rede im vergangenen Jahr etwas näher eingegangen.[3]
So hat beispielsweise eine Studie zu den Vereinigten Staaten ergeben, dass die Inflationserwartungen der über Sechzigjährigen in den vergangenen zehn Jahren höher waren als die der jüngeren Bevölkerung.[4] Offensichtlich haben die hohen Teuerungsraten der 1970er- und frühen 1980er-Jahre ihre Spuren hinterlassen.
Die Generation meiner Teenager-Kinder erlebt derzeit zum ersten Mal in ihrem Leben eine hohe Inflation. Je länger wir mit deutlich über dem Zielwert liegenden Inflationsraten auskommen müssen, desto größere Spuren wird auch dies hinterlassen. Die Inflationserfahrung wird sich nicht nur in der Erinnerung festsetzen, sie wird sich auch auf das wirtschaftliche Verhalten auswirken. Sie kann noch lange, nachdem die Inflation wieder zurückgegangen ist, die Erwartungen und Entscheidungen der Menschen beeinflussen.
Durch die hohe Inflation stehen die Notenbanken zurzeit ziemlich im Rampenlicht. Meine Kolleginnen und Kollegen und ich wären wirklich sehr froh, wenn die Teuerung so niedrig wäre, dass die Menschen ihr weniger Beachtung schenken würden.
Wenn die Inflation hinreichend niedrig ist, dann ist es für die Verbraucher sinnvoll, sie weitgehend zu ignorieren. Diese „rationale Unaufmerksamkeit“ beschrieb Fed-Präsident Powell in seiner Rede auf dem jüngsten Jackson Hole Symposium wie folgt:
„Ist die Inflation hartnäckig hoch, müssen die privaten Haushalte und Unternehmen gut aufpassen und die Teuerung bei ihren wirtschaftlichen Entscheidungen berücksichtigen. Ist die Inflation niedrig und stabil, können sie ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf andere Bereiche lenken.“[5]
In einer aktuellen Studie wurden Google-Suchanfragen nach dem Begriff „Inflation“ analysiert. Es wurde gezeigt, dass der Schwellenwert, ab dem die Bevölkerung der Inflation Aufmerksamkeit schenkt, von Land zu Land unterschiedlich ist.[6]
In den meisten Ländern des Euroraums liegt er zwischen 2 % und 3 %. Übersteigt die Inflation diesen Schwellenwert, dann wird der Teuerung verstärkt Beachtung geschenkt, und auch die Sorge darüber nimmt zu.
Wenn sich die Menschen der höheren Inflation bewusst sind und ihre Erwartungen entsprechend anpassen, kann allein das schon inflationssteigernd wirken. In der Folge kann es zu einer weiteren Zunahme und Verfestigung der hohen Inflation kommen.
Die Genauigkeit der ermittelten Schwellenwerte sollte natürlich nicht überschätzt werden. Gleichwohl bietet das von der EZB verfolgte Inflationsziel von 2 Prozent eine hinreichende Sicherheitsmarge, um zu gewährleisten, dass der Schwellenwert für eine verstärkte Beachtung unterschritten wird. Dies ist nur einer von mehreren guten Gründen, warum wir schnellstmöglich zu unserem Zielwert zurückkehren sollten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Fußnoten:
- Lane, P. R., Underlying Inflation, Vortrag am Trinity College, Dublin, 6. März 2023.
- Lagarde, C., EZB-Pressekonferenz am 16. März 2023.
- Nagel, J., Der lange Schatten der hohen Inflation, Rede auf dem 32. Europäischen Bankenkongress, Frankfurt am Main, 18. November 2022.
- D’Acunto, F., U. Malmendier and M. Weber, What Do the Data Tell Us About Inflation Expectations?, Working Paper des NBER, Nr. 29825, März 2022.
- Powell J. H., Monetary Policy and Price Stability, Rede anlässlich des Jackson Hole Economic Policy Symposium der Federal Reserve Bank of Kansas City, Jackson Hole, 26. August 2022.
- Korenok, O., D. Munro und J. Chen, Inflation and attention thresholds, GLO Discussion Paper, Nr. 1175, Oktober 2022.