Wettbewerbsfähigkeit und marktwirtschaftliche Ordnung Rede beim Neujahrsempfang des Verbands der Automobilindustrie

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Sehr geehrter Herr Wissmann,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich bedanke mich für die Einladung, und ich freue mich, heute hier zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Mittlerweile zählt der VDA mehr als 600 Mitglieder. All diese Unternehmen machen zusammengenommen den Mythos des Autos „made in Germany“ aus, das vielleicht wie kaum ein zweites Produkt mit dem Ruf Deutschlands als Industriestandort verbunden ist.

Diese steile Karriere des Autos war nicht unbedingt vorgezeichnet. So befürchteten manche, die Verbreitung des Automobils würde an der Verfügbarkeit von qualifizierten Chauffeuren scheitern. Und angeblich sollen Ärzte bei der Vorstellung der ersten motorisierten Wagen sogar ausdrücklich vor den vermeintlichen Gesundheitsgefahren des Autofahrens gewarnt haben. Die hohe Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern drohe das Gehirn zu überfordern.

Auch diese Sorge hat sich eher als unbegründet herausgestellt und zeigt die Schwierigkeiten von Langfristprognosen. Und für die deutsche Wirtschaft gilt erwiesenermaßen sogar die umgekehrte Beziehung: Nimmt die Automobilindustrie Fahrt auf, stärkt dies die Konstitution der Gesamtwirtschaft ungemein. Denn wie der große Mitgliederkreis des VDA zeigt, macht die Automobilindustrie viel mehr aus als nur die Fahrzeughersteller, und gerade auch unter den Zulieferern gibt es einige Weltmarktführer in ihrem jeweiligen Bereich.

2 Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands am Beispiel der Automobilindustrie

Im vergangenen Jahr konnten die deutschen Hersteller ihr bereits beachtliches Tempo noch ein ganzes Stück steigern. Mehrere Hersteller erzielten neue Rekordabsätze. Die Entwicklung in der Automobilindustrie in den vergangenen Jahren steht dabei beispielhaft für den Weg der deutschen Volkswirtschaft insgesamt.

Nach dem Ende des Wiedervereinigungsbooms war die Automobilindustrie 1993 in einer Krise. Deutschland war nach der Wiedervereinigung ebenfalls in eine schwierige wirtschaftliche Lage geraten. Es gab Strukturprobleme, sinkende Wettbewerbsfähigkeit, hohe Arbeitslosigkeit, angespannte Sozialsysteme und wachsende Haushaltsdefizite.

Nach Beginn der Währungsunion und dem Platzen der Dotcom-Blase nahmen die Probleme zunächst noch zu. Deutschland galt manchen schon als Verlierer der Währungsunion oder gar als kranker Mann Europas. Doch Unternehmen, Tarifpartner und die Politik haben große Anstrengungen unternommen, um die Probleme zu bewältigen und verlorene Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen.

Die Politik hat mit der Agenda 2010 und den Arbeitsmarktreformen als ihrem Kernstück wesentliche Beiträge geleistet. Mitentscheidend für den Erfolg all dieser Bemühungen und das wirtschaftliche Wiedererstarken war und ist aber auch die gelungene Sozialpartnerschaft. Maßvolle Tarifabschlüsse haben die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen gestärkt und so die Rentabilität erhöht – nicht nur, aber auch in der Automobilindustrie. Die Arbeitnehmerseite profitierte ebenfalls: Bestehende Arbeitsplätze wurden gesichert, neue Arbeitsplätze wurden geschaffen, und mit dem wiederkehrenden unternehmerischen Erfolg stiegen auch die Einkommen, in vielen Fällen auf Grund von beachtlichen Erfolgsprämien.

Ein weiterer Baustein des Erfolgs sind die seit dem „Pforzheimer Abschluss“ im Jahr 2004 gängigen Tariföffnungsklauseln zur Beschäftigungssicherung und nicht zuletzt die Hersteller selbst, die Forschung und Entwicklung entschlossen vorangetrieben haben. In gewisser Weise ist Nachahmung das ehrlichste Kompliment von allen. So gesehen stellen die jüngst vorgestellten Reformen des französischen Arbeitsmarktes dem deutschen Ansatz ein sehr gutes Zeugnis aus.

Diese vergleichsweise komfortable wirtschaftliche Lage ist allerdings kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Dies gilt umso mehr, als die öffentliche Wahrnehmung häufig zu sehr vom Status quo, der gerade nun einmal erfreulich ist, geprägt ist. Doch wie vergänglich solche Momentaufnahmen sein können hat nicht zuletzt die Kehrtwende in der Berichterstattung über die Lage der deutschen Wirtschaft gezeigt. Aus dem Verlierer der Währungsunion ist das ökonomische Kraftzentrum der Währungsunion geworden. Sie kennen vermutlich ähnliche Begebenheiten aus Ihren Unternehmen. Und während vor einigen Jahren eine zu geringe Rolle des modernen, zukunftsweisenden Finanzsektors beklagt und die Industrie als „old economy“ belächelt wurde, steht nun, ebenfalls mit Verweis auf Deutschland, das Verarbeitende Gewerbe weltweit wieder hoch im Kurs.

Doch so berechtigt Zuversicht und ein gesundes Selbstvertrauen angesichts der derzeitigen Lage auch sind: Die Zukunft hält genug Herausforderungen bereit. Neben Fachkräftemangel und aufschließenden Wettbewerbern aus und in den Schwellenländern wird gerade die Automobilbranche maßgeblich von der Entwicklung der Energiepreise beeinflusst werden.

Die Energiepreise nehmen die Automobilindustrie dabei von zwei Seiten in die Zange: zum einen als Standortfaktor für die Produktion – BDI-Präsident Grillo hat ja jüngst auf die zunehmende Schere der Energiekosten zwischen Deutschland und den USA hingewiesen – zum anderen über die Nachfrage der Endkunden.

Die Energiepreise sind zumindest kurzfristig stark nachfragegetrieben. Eine entsprechende weltwirtschaftliche Dynamik vorausgesetzt ist daher eine Entwicklung der Energiepreise wie in den Jahren 2007/2008 durchaus im Bereich des Möglichen. Und selbst wenn das Angebot an fossilen Energieträgern durch neue Funde oder Fördertechniken mithalten könnte, bedingt die klimapolitisch gebotene Begrenzung der CO2-Emissionen eine weitere Verteuerung fossiler Kraftstoffe.

Sie und Ihre Mitarbeiter stellen sich diesen Herausforderungen, und die Bemühungen zur Verringerung des Kraftstoffverbrauchs tragen durchaus schon Früchte: Ein besonders schöner Beleg ist die laut Deutscher Umwelthilfe in puncto CO2 vorbildliche Fahrzeugflotte der Bundesbank. Die Flotte besteht ausschließlich aus Modellen von VDA-Mitgliedern. Das Lob der deutschen Umwelthilfe gilt daher auch Ihnen!

3 Wettbewerbsfähigkeit und marktwirtschaftliche Ordnung

Die Erklärung der Erfolge hält jedoch noch allgemeingültigere Einsichten bereit. Lassen sie uns daher die Ausgangslage der Autobranche zu Beginn der 1990er Jahre noch ein wenig genauer betrachten. Nicht nur die Wiedervereinigung und der Zusammenbruch der Sowjetunion prägten damals die Rahmenbedingungen, der gesamte europäische Wirtschaftsraum war im Umbruch.

Denn die Vollendung des europäischen Binnenmarktes und der, im weiteren Verlauf, Markteintritt neuer, außereuropäischer Wettbewerber erhöhten die Wettbewerbsintensität auch des europäischen Automobilmarktes noch einmal spürbar. Aber es zeigte sich wieder einmal, dass Wettbewerb in Marktwirtschaften ein wichtiger Innovationstreiber ist.

Die Zahlen zur Entwicklung der Arbeitsproduktivität in der deutschen Fahrzeugindustrie stützen diesen Befund. In den 15 Jahren vor Vollendung des gemeinsamen Marktes (1978-1992) ist die Arbeitsproduktivität um 17 % gestiegen, in den 15 Jahren danach (1992-2006) um 37 %. Die gegenwärtige Stärke ist das Ergebnis dauerhafter Anstrengungen der Unternehmen und ihrer Beschäftigten – Anstrengungen, um im Wettbewerb mit Konkurrenten, die ebenfalls kreativ und engagiert sind, trotzdem die Nase vorn zu behalten.

Die gegenwärtige Stärke ist nicht etwa das Resultat staatlicher Interventionen oder Industriepolitik. Unternehmerischer Erfolg lässt sich nicht zentral planen und festlegen, vor allem dann nicht, wenn man den Anspruch hat, an der Spitze mitzuhalten statt bloß im Peloton mitzufahren. Dieser Punkt wird bei der immer wieder aufkommenden Diskussion um die vermeintlichen Segnungen stärker gelenkter, weniger liberaler Systeme leider zu wenig gewürdigt.

Die Entwicklung der Automobilindustrie ist daher ein wichtiges Beispiel für das Funktionieren und die Leistungsfähigkeit unserer marktwirtschaftlichen Ordnung. Wettbewerb ist die Triebfeder neuen Wohlstands. In dieser Allgemeinheit erntet die Aussage vermutlich wenig Widerspruch.

Aber diese Lehre sollten wir auch beherzigen, wenn es darum geht, die künftige Ordnung der Währungsunion zu formen. Denn diese Ordnung ist durch die Krise in Bewegung geraten, und um ihre Grundlinien wird gerungen. Bei diesem Ringen geht es letztlich um die richtige Balance von Freiheit und Verantwortung oder von Haftung und Kontrolle.

Das Einstehen für die Folgen des eigenen Handelns – also selbst den Nutzen aus den eigenen Bemühungen zu ziehen, aber auch die Kosten selbst zu tragen – ist ein konstitutives Merkmal jeder marktwirtschaftlichen Ordnung. Und auch für die Währungsunion muss es ein Eckpfeiler bleiben.

Gut austariert ist die Balance derzeit leider nicht: Denn das Too-big-too-fail-Problem im Finanzsystem und das Risiko von Ansteckungseffekten haben dazu geführt, dass die Kosten von Fehlentscheidungen einzelner Unternehmen oder Mitgliedstaaten nicht mehr primär von diesen selbst, sondern von anderen, den nationalen Steuerzahlern oder der Staatengemeinschaft getragen werden.

Bliebe es dabei, könnten die Folgen unsolider Politik zu leicht auf andere überwälzt werden. Das ergäbe keinen stabilen Handlungsrahmen für die Währungsunion. Im Gegenteil, über kurz oder lang würden auch die wirtschaftlich soliden Volkswirtschaften geschwächt. Die Weichen dafür, dass es nicht so weit kommt, müssen bereits jetzt gestellt werden, um Haftung und Kontrolle in die Balance zu bringen.

Als Reaktion auf die Krise wurden unter anderem Änderungen am Stabilitäts- und Wachstumspakt, der Fiskalpakt und der dauerhafte Rettungsschirm ESM verabschiedet. So soll die Haushaltsdisziplin zusätzlich gestärkt und akute Gefahren für die Finanzstabilität der gesamten Währungsunion sollen wirksamer bekämpft werden. Diese Neuerungen sind richtige, wenn auch nicht ausreichende Schritte, um die Währungsunion als Stabilitätsunion zu erhalten.

Es muss sich nun aber zeigen, ob die neuen Regeln auch gelebt werden. Weicht man die Regeln gleich bei der ersten Anwendung auf, beschädigt dies am Ende Solidität und Solidarität in der Währungsunion gleichermaßen.

Derzeit sehen wir ein Patt: Eine umfassende explizite Gemeinschaftshaftung steht vorerst nicht mehr auf der Agenda, allerdings haben die – hoffentlich nur vorübergehenden – vergemeinschafteten Risiken aus den Finanzhilfen und den Sondermaßnahmen der Notenbanken beträchtliche Höhen erreicht. Bleiben diese Risiken bestehen oder steigen sie sogar noch weiter, könnten sie im gegenwärtigen Rahmen der Währungsunion die Stabilitätskultur aber in ähnlicher Weise aushöhlen wie bei einer expliziten Gemeinschaftshaftung.

In gewisser Weise ist auch die Diskussion um die gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Währungsunion davon geprägt, wie viel Gewicht auf eine gleichmäßigere Verteilung der Anpassungslasten im Unterschied zu letztlich wettbewerbsfähigeren, solider aufgestellten Volkswirtschaften gelegt wird.

Häufig wird gefordert, dass Deutschland als Land mit einem hohen Leistungsbilanzüberschuss durch überproportionale Lohnsteigerungen einen größeren Beitrag zum Abbau der Leistungsbilanzungleichgewichte im Euro-Raum leisten soll. So soll sich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft künstlich verringern und damit die relative Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer erhöhen. Im Ergebnis würde also ein Teil der Anpassungslasten von den Krisenländern zu Ländern wie Deutschland umverteilt.

Kürzlich wurde vorgeschlagen, in der kommenden Tarifrunde die Löhne durchschnittlich um 5 % anzuheben. Davon sollen zwei Prozentpunkte dem Euro-Raum zu Gute kommen. Wir haben diesen Vorschlag mit unseren Modellen durchgerechnet: Die Reaktion auf das BIP der Krisenländer wäre nahezu gleich null. Deutschland hingegen würde dadurch ärmer: Je nach Berechnungsverfahren wäre die Beschäftigung langfristig um 1 % und das BIP um ¾ % niedriger. Es gäbe zwar ein Strohfeuer bei Einkommen und Konsum, aber die Unternehmen würden auch weniger investieren und zudem Beschäftigte entlassen. Außerdem stiege die Inflation, so dass eine stabilitätsorientierte Geldpolitik gegensteuern müsste, was das BIP zusätzlich dämpfen würde.

Letztlich trüge die gesamte Währungsunion den Schaden davon, denn relativ wettbewerbsfähiger würden die Krisenländer primär im Verhältnis zu Deutschland, nicht aber gegenüber Ländern außerhalb der Währungsunion.

Die EWU ist eben keine Insel, sondern Teil einer überaus dynamischen Weltwirtschaft. Um dort zu bestehen und Wohlstand zu sichern, das zeigen das Beispiel Deutschlands und seiner Industrie, kommen die EWU insgesamt und die Krisenländer allen voran nicht daran vorbei, ihre eigentlichen, tiefer liegenden Probleme zu beseitigen.

Das erfordert Disziplin bei der Sanierung der Staatsfinanzen. Und es erfordert Entschlossenheit bei der Wiedergewinnung von Wettbewerbsfähigkeit – und damit mehr Raum für die Entfaltung des Erfindungsreichtums und Ehrgeizes der Unternehmen und Arbeitnehmer. Dies war eines der Kernanliegen der Rede des britischen Premierministers David Cameron, und in diesem – von vielen weniger beachteten Punkt – stimme ich ihm ausdrücklich zu. Der dazu nötige Reform- und Anpassungsprozess ist schwierig und nicht frei von Rückschlägen. Rettungspakete können ihn begleiten und abfedern – und das tun sie. Aber ersetzen können sie ihn nicht.

4 Schluss

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Erfahrungen der deutschen Volkswirtschaft und der Automobilindustrie zeigen: Eine marktwirtschaftliche Ordnung ist nach wie vor am besten geeignet, dauerhaft Wachstumskräfte freizusetzen und Wohlstand sichern. Das Haftungsprinzip gehört zu dieser marktwirtschaftlichen Ordnung zwingend dazu. Es muss auch und gerade in der Währungsunion fest verankert bleiben, damit diese dauerhaft stark und stabil ist. Dafür setzt sich die Bundesbank mit allem Nachdruck ein.

Ich hatte eingangs die Anekdote von den vermeintlichen Gesundheitsgefahren des Automobils erwähnt, vor denen man in den Anfangsjahren warnte. Angeblich stammte diese Warnung nicht von unabhängigen Medizinern, sondern von einigen Herstellern von Pferdekutschen. Diese spürten die neue Konkurrenz des Automobils und versuchten, dem Druck auf diese Weise zu entgehen.

Das Ergebnis ist bekannt: Kutschen gibt es nur noch für Hochzeitspaare oder Touristen. Der Wettbewerb hat sie verdrängt und die Menschen im Ergebnis mobiler und zufriedener gemacht.

Dies sollte uns Vertrauen in unsere Wirtschaftsordnung und ihre Grundprinzipien geben – im unternehmerischen Alltag wie auf der größeren Bühne der Wirtschaftspolitik.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.