Vertrauen durch Teilhabe am Kapitalmarkt Rede beim Ludwig Erhard Forum für Wirtschaft und Gesellschaft

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn wir heute über den deutschen Kapitalmarkt sprechen, denken wir unweigerlich an den Deutschen Aktienindex (DAX). Der DAX feiert dieses Jahr seinen 35. Geburtstag und ist unbestritten eine Erfolgsgeschichte.

Wer zu Beginn des Jahres 1988 umgerechnet 10.000 Euro in den DAX investiert hat, kann sich heute über ein Vermögen von rund 160.000 Euro freuen. Das entspricht einer durchschnittlichen Rendite von rund 8 Prozent pro Jahr und ist weit mehr, als Sparbücher und andere festverzinsliche Anlagen im gleichen Zeitraum eingebracht haben.[1]

Wie kein anderer Index steht der DAX für die Erfolgsgeschichte des deutschen Kapitalmarkts und hat sich auch international als feste Größe etabliert. Aber trotz dieses beachtlichen Erfolgs ist Deutschland nach wie vor kein Land der Aktionäre. Nur einer von fünf Erwachsenen in Deutschland hat Aktien, Aktienfonds oder ETFs in seinem Depot. Warum ist dies so? Warum gelingt es in Deutschland nicht, mehr Menschen für den Kapitalmarkt zu begeistern?

2 Kapitalmarktskepsis in Deutschland

Kleinanlegerinnen und -anleger sind in Deutschland traditionell skeptisch gegenüber Kapitalmärkten und Aktien. Schon der damalige Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard beschrieb 1957 in einem Interview mit dem Spiegel das schwierige Verhältnis der Deutschen zu Aktien: 

Es gibt in unserem Volk noch zu viele Menschen, die zu dieser Form des Eigentums, der Eigentumsbildung, bisher kein rechtes und gewiss kein inneres Verhältnis gewonnen haben. In erster Linie denke ich natürlich an die kleinen Sparer und unter ihnen besonders an jene, denen der Gedanke des Sparens in Aktien und Wertpapieren heute noch fremd ist, ja, vielleicht sogar als anrüchig gilt.“[2]

Erhard hatte die Idee, dies durch die Ausgabe von „Volksaktien“ zu ändern. Damit meinte er Aktien, die bei der Privatisierung öffentlicher Unternehmen gezielt Kleinanlegerinnen und -anlegern angeboten werden sollten. In den 50er und 60er Jahren wurde die Idee der Volksaktien mehrfach umgesetzt – beispielweise im Rahmen der Teilprivatisierung der Volkswagen AG.

Aber auch dies konnte die Zurückhaltung der Deutschen gegenüber Aktien nicht nachhaltig ändern. Und dafür gibt es auch Gründe.

3 Mangelndes Vertrauen

Ein wichtiger Grund ist mangelndes Vertrauen. Beispielsweise hat in den 90er Jahren die Ausgabe von „Volksaktien“ im Rahmen der Privatisierung der Telekom das Vertrauen in den Kapitalmarkt nachhaltig beschädigt.

Um möglichst viele Kleinanlegerinnen und -anleger zu erreichen, wurde der Börsengang der Telekom und die Ausgabe der sogenannten T-Aktien 1996 von vollmundigen Versprechungen begleitet. Die T-Aktie wird so sicher wie eine vererbbare Zusatzrente sein, verkündete etwa der damalige Telekomchef. Und der bekannte deutsche Schauspieler Manfred Krug erzählte in Werbespots: Die Telekom geht jetzt an die Börse, da geh' ich mit.

1,9 Millionen Privatpersonen investierten schließlich in T-Aktien und profitierten kurzzeitig auch massiv vom Boom am Neuen Markt Ende der 90er Jahre. Doch nachdem die Aktie ihren Kurs bis zum Jahr 2000 versiebenfachte, brach dieser in Folge der geplatzten Dotcom-Blase Anfang der 2000er dramatisch ein und die Aktie notierte jahrelang weit unter Ausgabepreis. Viele Kleinanlegerinnen und -anleger verkauften ihre Telekom-Anteile mit teils hohen Verlusten.[3]

Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin belegt eindrucksvoll, dass dies das Vertrauen der Deutschen in den Kapitalmarkt nachhaltig erschüttert hat: Demnach halten Haushalte, die die Ereignisse rund um die T-Aktie miterlebt haben, 20 Jahre nach dem ersten Telekom-Börsengang zu 60 Prozent weniger Aktien an der Börse als diejenigen, die während des Absturzes der T-Aktie jünger als 20 Jahre alt waren.[4]

Nun liegt es im Wesen des Kapitalmarkts, dass neben Gewinnen auch Verluste gemacht werden. Immer wieder sind es aber vor allem Kleinanlegerinnen und –anleger, die hohe Verluste erleiden – wie etwa in der Krise des Neuen Marktes zu Beginn der 2000er oder der globalen Finanzkrise ab 2007.

Vor allem Menschen mit mangelnden Kenntnissen und einem fehlenden Verständnis des Kapitalmarkts sind anfällig für Produkte und Anlagen, deren Risiken sie teils nicht wirklich einschätzen können. Verantwortlich ist dafür auch die Finanzindustrie selbst, die immer komplexere Spar- und Anlagemöglichkeiten entwickelt, die in ihrer Struktur nur schwer zu durchschauen sind. 

Und auch der Markt der Anbieter ist im Zuge der Digitalisierung immer unübersichtlicher geworden. Neben traditionelle Banken treten neue Akteure wie FinTechs oder Neobanken. Intransparente Kostenstrukturen oder einseitige Vertragsänderungen – wie beispielsweise bei Lebensversicherungen – tragen ebenfalls zum mangelnden Vertrauen bei.

Unbestritten aber ist: Gerade die jüngeren Generationen werden stärker eigenverantwortlich privat Geld anlegen müssen, um ihren Lebensstandard in Zukunft zu sichern. Wie können wir also Vertrauen stärken und welche Bedingungen müssen erfüllt werden, um mehr Menschen in Deutschland für den Kapitalmarkt zu begeistern?

4 Grundsätzliches zum Kapitalmarkt

Zunächst ein paar grundlegende Aspekte zur Funktionsweise des Kapitalmarkts: In der volkswirtschaftlichen Theorie gehen Ökonomen traditionell von der Idealvorstellung des „vollkommenen Markts“ aus. Dieser ist durch eine hochgradige Effizienz gekennzeichnet.

Vielleicht kennen Sie die Anekdote über zwei Ökonomen, die über die Straße gehen. Sagt der eine: Schau mal. Da liegen 100 Euro. Sagt der andere ohne hinzublicken: Wenn da 100 Euro lägen, hätte sie schon längst jemand aufgehoben, und geht unbeirrt weiter. Gerade Finanzmärkte werden für besonders effizient gehalten. Denn hier verbreiten sich Informationen schnell und können unmittelbar von den Marktteilnehmern eingepreist werden.

Doch auch die Finanzmärkte sind in der Realität – anders als in der Theorie – nicht völlig transparent und funktionieren auch nicht jederzeit reibungslos. Und Marktteilnehmer bewahren auch nicht immer einen kühlen Kopf. Informationsasymmetrien, Transaktionskosten und ungleiche Erwartungen der Marktteilnehmer über die Zukunft prägen den Kapitalmarkt. 

5 Vertrauen durch stabile Rahmenbedingungen

Wie lässt sich nun Vertrauen in den Kapitalmarkt aufbauen? Zunächst einmal gilt es, für stabile Rahmenbedingungen zu sorgen. Darauf wies schon Ludwig Erhard hin, dem die Unvollkommenheit der Märkte stets bewusst war. So wichtig ihm die Freiheit des Wettbewerbs war, so sehr betonte er die Rolle des Staates als Schiedsrichter.

Zur Sozialen Marktwirtschaft gehörte für ihn daher immer, konsequent gegen Marktmissbrauch, Monopole und Kartelle vorzugehen. Letztere waren für ihn nichts anderes als „Feinde der Verbraucher“. Finanzmärkte müssen also staatlich reguliert und ihre Akteure beaufsichtigt werden. Zudem sollten Handeln und Haften möglichst in einer Hand liegen, um Fehlanreize im Finanzsystem zu vermeiden.

Schon früh wurden entsprechende Regulierungen, Aufsichts- und Kontrollmechanismen für den Finanzsektor eingeführt. Was im Mittelalter mit drakonischen Strafen für Zinswucherei begann, ist heute eine ausdifferenzierte Banken- und Finanzaufsicht mit umfassenden Meldepflichten und Kontrollbefugnissen.

Vor allem seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise ab 2007 wurden hier im Euroraum wichtige Schritte unternommen: 2014 wurde im Rahmen der Europäischen Bankenunion ein einheitlicher Aufsichtsmechanismus unter dem Dach der Europäischen Zentralbank geschaffen. Ergänzt wird dieser durch ein einheitliches Abwicklungssystem für den Euroraum und die begonnene Harmonisierung europäischer Einlagensicherungssysteme.

Aber wir sind sicherlich noch nicht am Ziel. Handlungsbedarf sehe ich beispielsweise bei der Vertiefung der europäischen Kapitalmarktunion. Bereits 2015 hat die Europäische Kommission einen ersten Aktionsplan zur Förderung der Kapitalmarktunion auf den Weg gebracht, um durch den Abbau regulatorischer Hürden mehr privates Kapital zu mobilisieren und Anreize für grenzüberschreitende Investitionen zu schaffen. Zudem hat sie 2020 einen weiteren Aktionsplan verabschiedet mit dem Ziel, dass sich Europa zu einem echten Finanzbinnenmarkt entwickelt.

Aber trotz dieser Initiativen haben grenzüberschreitende Finanzaktivitäten in vielen Bereichen in den vergangenen Jahren nicht merklich zugenommen. Dabei könnte sich die Vertiefung der Kapitalmarktunion in doppelter Hinsicht auszahlen: Würden noch immer bestehenden Hürden für freie Kapitalmarktströme und Investitionen beseitigt, könnte dies zu einem stärkeren Wachstum beitragen – und gleichzeitig auch zu einer höheren Widerstandfähigkeit der Kapitalmärkte. Die Kapitalmarktunion sollte aus meiner Sicht daher auf EU-Ebene weiter vorangetrieben werden.

Zu den stabilen Rahmenbedingungen an den Kapitalmärkten gehört vor allem auch eine stabile Währung. Es ist Aufgabe des Eurosystems, für stabile Preise zu sorgen und so die Kapitalmärkte zu stärken. 

Um erfolgreich zu sein, benötigt die Geldpolitik auch die Unterstützung durch eine stabilitätsorientierte Finanz- und Wirtschaftspolitik. Denn solide Staatsfinanzen sind Voraussetzung dafür, dass sich die Geldpolitik auf die Sicherung der Preisstabilität konzentrieren kann. Dies sollte auch bei der anstehenden Reform der Fiskalregeln für den Euroraum bedacht werden. Glaubwürdige Fiskalregeln sind ein wichtiger Vertrauensanker an den Kapitalmärkten und sie stärken die Widerstandsfähigkeit der Staatfinanzen für Krisenzeiten.

Für stabile Rahmenbedingungen am Kapitalmarkt sorgt schließlich auch ein wirksamer Anlegerschutz, der Vertrauen schafft. Er dient nicht nur dem Schutz der Verbraucher, sondern ist im Interesse aller Kapitalmarktteilnehmer. Denn dadurch wird der Kapitalmarkt für breitere Anlegerschichten attraktiv.

6 Vertrauen durch Bildung und Aufklärung

Meine Damen und Herren,

neben einer funktionierenden Aufsicht und einem wirksamen Verbraucherschutz kommt es auch darauf an, die potenziellen Anlegerinnen und Anleger „fit“ für den Kapitalmarkt zu machen. Denn wer sich auskennt, ist eher bereit sich an den Kapitalmärkten zu engagieren.

Ein unverzichtbarer Baustein dafür ist ein ökonomisches Grundwissen und ein Mindestmaß an finanzieller Bildung, also Wissen bezogen auf den Umgang mit Geld und Finanzen im privaten Umfeld wie beispielsweise Sparen, Kreditaufnahme oder die eigene Altersvorsorge.

Bildung zu vermitteln, ist Aufgabe des Bildungssystems, in erster Linie der Schulen. Da Bildungspolitik in Deutschland Ländersache ist, sind ökonomische Inhalte in den Lehrplänen an deutschen Schulen noch immer ganz unterschiedlich verankert. Hier könnte viel getan werden, um jungen Menschen ökonomische Inhalte näher zu bringen.

Auf dem Gebiet der Finanzbildung engagieren sich neben Bildungseinrichtungen und öffentlichen Institutionen auch private Akteure, wie Geschäftsbanken, Bankenverbände, Verbraucherzentralen, Zeitungsverlage und viele weitere – teils schon seit vielen Jahren. In jüngster Zeit bringen auch sogenannte „Finfluencer“ insbesondere jungen Menschen Finanzthemen auf Social Media näher.

Ich begrüße dieses Engagement. Entscheidend ist dabei aber immer, die Menschen neutral und fachlich kompetent zu informieren. Wer seine Bildungsangebote nur zum Produkt- oder Eigenmarketing einsetzt, erweist der finanziellen Bildung einen Bärendienst und verspielt das so dringend erforderliche Vertrauen.

Allerdings wird selbst die beste finanzielle Bildung bestehende Informationsasymmetrien am Kapitalmarkt nicht vollständig beseitigen können. Neben den Regulierungsbehörden ist es daher vor allem Aufgabe der Finanzindustrie selbst, das Vertrauen in den Kapitalmarkt zu festigen. Etwa durch eine faire und nachhaltige Beratung und durch transparent strukturierte Produkte, die Chancen und Risiken klar offenlegen.

Wer also von Seiten der Finanzindustrie mangelndes Engagement am Kapitalmarkt beklagt, sollte sich auch um Lösungen bemühen: Wie können Finanzprodukte besser auf die Bedürfnisse der Kapitalanlegerinnen und -anleger zugeschnitten werden? Welche Renditeversprechen können in den aktuell unsicheren Zeiten tatsächlich gegeben werden?

Immerhin scheinen viele Menschen gerade aktuell mehr Wert auf Sicherheit und Liquidität zu legen. Vielleicht ist dies auch ein Grund dafür, weshalb – trotz der hohen Inflation – in Deutschland nach wie vor so viel Geld auf sehr einfach strukturierten Giro-, Tagesgeld- und Sparkonten schlummert.

7 Schluss

Meine Damen und Herren,

Vertrauen richtet sich immer auf eine Zukunft, die naturgemäß unsicher ist. Es wird maßgeblich geprägt durch Erfahrungen – was in der Vergangenheit vertrauenswürdig war und was sich bewährt hat, dem wird man vermutlich auch zukünftig vertrauen. 

Dabei geht es zum einen um individuelle Erfahrungen in ganz konkreten Situationen. Zum anderen geht es um ein generelles Systemvertrauen: Kann ich mich auf gesetzliche Regelungen und verantwortliche Institutionen verlassen?

Lassen Sie uns gemeinsam für dieses generelle Systemvertrauen arbeiten und dafür sorgen, dass gerade in unsicheren Zeiten positive individuelle Erfahrungen am Kapitalmarkt gemacht werden. Dann wird sich auch das Vertrauen einstellen und die Teilhabe am Kapitalmarkt wachsen.

Vielen Dank!
 

Fußnoten:

  1. Happy Birthday 35 Jahre Dax - Deutsches Aktien Institut (DAI)
  2. VOM VOLKSWAGEN ZUM VOLKSKAPITALISMUS - DER SPIEGEL
  3. Warum die T-Aktie zum Trauma wurde | tagesschau.de
  4. DIW Berlin: Der Fall der T-Aktie: Börsencrashs können dauerhaft Investitionsentscheidungen von Haushalten negativ beeinflussen