Sieben Jahre nach Lehman - Ist das Finanzsystem jetzt sicher? Rede beim Bankenabend der Hauptverwaltung Rheinland-Pfalz

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
lieber Herr Kaltenhäuser,

vielen Dank für die Einladung, heute beim Bankenabend der Hauptverwaltung Rheinland-Pfalz zu sprechen. Ich freue mich hier zu sein.

Auf den Tag sieben Jahre ist es her, dass die amerikanische Investment Bank Lehman Brothers Konkurs ging. Was folgte waren eine globale Finanzkrise, eine weltweite Rezession und die Erkenntnis, dass das Finanzsystem gründlich reformiert werden musste.

Noch im selben Jahr haben daher Regulierer weltweit damit begonnen, die Regeln für das Finanzsystem anzupassen. Ziel war es, das Finanzsystem sicherer zu machen und Krisen künftig zu verhindern. Heute, sieben Jahre später, ist diese Reformagenda noch immer nicht vollständig abgearbeitet. "Wir sind lange nicht am Ende" hat Finanzminister Schäuble vor gut zehn Tagen gesagt.

Aber ist das Ziel eines stabilen Finanzsystems überhaupt realistisch? Können wir ein Finanzsystem konstruieren, in dem es keine Krisen gibt? Um die Antwort vorwegzunehmen: Wir können ein Finanzsystem konstruieren, in dem es weniger Krisen gibt. Wir können aber kein Finanzsystem konstruieren, in dem jede Krise ausgeschlossen ist.

2 Der Mensch und seine Fehler

Warum ist es unmöglich, ein völlig stabiles Finanzsystem zu konstruieren? Ein Grund liegt sicher darin, dass das Finanzsystem sich ständig weiterentwickelt. Das bedeutet, dass ein regulatorischer Rahmen, der dem Finanzsystem heute Stabilität verschafft, morgen schon wieder gefährlich lückenhaft sein kann. In der Tat waren in der Vergangenheit oft Innovationen und neue Finanzinstrumente das Einfallstor für Krisen.

Letztlich aber liegt das Problem noch eine Ebene tiefer, in der Tatsache, dass das Finanzsystem von Menschen bevölkert ist. Und Menschen können von Natur aus sehr schlecht mit dem umgehen, was den Kern des Finanzsystems ausmacht: Risiko.

Ganz abstrakt gesprochen ist es Aufgabe des Finanzsystems, Risiken umzuverteilen – von denen, die sie nicht tragen möchten, hin zu denen, die bereit sind, sie zu tragen und dafür entsprechend entlohnt werden. Wenn eine Bank einen Kredit an einen Unternehmer gibt, übernimmt sie ein Risiko. Scheitert der Unternehmer, verliert die Bank Geld. Für dieses Risiko wird sie mit entsprechenden hohen Zinsen entlohnt.

Es ist mittlerweile eine allgemein akzeptierte Erkenntnis, dass das menschliche Gehirn große Schwierigkeiten damit hat, Wahrscheinlichkeiten und Risiken richtig zu verarbeiten. Etliche Studien zeigen, dass Menschen eine Reihe systematischer Fehler machen, wenn sie Entscheidungen unter Unsicherheit treffen müssen.

Eines der bekanntesten Beispiele ist die Prospect Theory des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman.[1] Stellen Sie sich vor, ein Freund bietet Ihnen folgendes zur Auswahl: Entweder er gibt Ihnen 50 Euro auf die Hand, oder sie werfen eine Münze und gewinnen bei Kopf 150 Euro, verlieren bei Zahl aber 30 Euro. Die meisten Menschen wählen die erste Option, also 50 Euro auf die Hand. Aber ist das auch vernünftig? Aus statistischer Sicht wäre eigentlich das Spiel vernünftig, denn der erwartete Gewinn liegt hier im Durchschnitt bei 60 Euro. Die meisten Menschen haben jedoch eine Abneigung gegen Verluste, und diese Abneigung verleitet sie dazu, Entscheidungen zu treffen, die nicht rational sind. Das tun sie übrigens selbst dann, wenn sie eigentlich in der Lage wären, die Wahrscheinlichkeiten korrekt zu berechnen.

Aber Menschen können nicht nur schlecht mit Wahrscheinlichkeiten umgehen, sie lassen sich auch leicht beeinflussen. Ein Beispiel hierfür ist der Anker-Effekt, den unter anderen Birte Englich, Thomas Mussweiler und Fritz Strack in einer Studie mit Juristen zeigen.[2] Den Kandidaten wurde der fiktive Fall einer Ladendiebin präsentiert, für die sie eine Strafe festlegen sollten. Zuvor aber wurden die Kandidaten gebeten ein Paar Würfel zu werfen. Was die Kandidaten nicht wussten: Die beiden Würfel waren so manipuliert, dass sie zusammen entweder eine drei oder eine neun zeigten. Das jeweilige Ergebnis sollten die Kandidaten als Strafforderung der Staatsanwaltschaft in ein Formular eintragen, anschließend sollten sie selbst die Strafe festlegen. Ergebnis: Diejenigen Kandidaten, die eine drei gewürfelt hatten, verhängten im Schnitt eine Strafe von 5 Monaten. Diejenigen Kandidaten, die eine neun gewürfelt hatten, verhängten im Schnitt eine Strafe von 8 Monaten. Selbst professionelle Juristen haben ihre Entscheidung also von völlig zufälligen Zahlen beeinflussen lassen. Falls Sie nun Ihren Glauben in das Rechtssystem verloren haben, meine Damen und Herren, lassen Sie uns zum Schluss eine Studie anschauen, in der Aktienprofis eine Rolle spielen.

In dieser Studie sollten eine Gruppe von Laien und eine Gruppe professioneller Investoren aus zwei Aktien diejenige auswählen, von der sie eine bessere Entwicklung erwarteten.[3] Die professionellen Investoren haben in 40 % der Fälle die bessere Aktie gewählt. Das klingt nach einer ganz soliden Quote. Allerdings: Hätten Sie eine zufällige Auswahl getroffen, hätten sie in 50 % der Fälle richtig gelegen. Zu der Studie gehörte auch, dass beide Gruppen schätzen sollten, wie oft sie selbst und die jeweils andere Gruppe die falsche Aktie wählen würden. Das Ergebnis war, dass beide Gruppen ihre eigene Fähigkeit, die bessere Aktie zu wählen, deutlich überschätzt haben.

Das waren nur drei Beispiele, die zeigen, dass Menschen im Umgang mit Risiken häufig unvernünftige Entscheidungen treffen – und sich dabei oft auch noch selbst überschätzen. Denken Sie an das klassische Muster von Finanzkrisen: Es beginnt mit einer Anlagemöglichkeit, die große Gewinnchancen verspricht – holländische Tulpen im 17. Jahrhundert, exotische Produkte aus der Südsee im 18. Jahrhundert, Internet-Unternehmen zur Jahrtausendwende oder Verbriefungen von Immobilienkrediten im Vorfeld der jüngsten Krise. Menschen laufen den vermeintlichen Gewinnchancen hinterher, unterschätzen die Risiken und produzieren eine Preisblase, die früher oder später platzt, ebenso wie der von Beginn an unrealistische Traum vom schnellen Geld.

Dieser Hang, sich bisweilen irrational zu verhalten, scheint also ein fester Bestandteil des menschlichen Charakters zu sein. Menschen sind keine Computer. Daran schließt sich natürlich die Frage an, ob nicht Computer und mathematische Modelle dazu beitragen können, das irrationale Verhalten der Menschen zu korrigieren.

In bestimmten Grenzen ist das sicherlich möglich, allerdings arbeiten die meisten Modelle mit Vereinfachungen, die ihrerseits zu Fehlern führen können. Nur ein einziges Beispiel: Modelle, die die Zukunft voraussagen sollen, tun das notgedrungen auf Basis der Vergangenheit. Eine Folge kann der von Nassim Taleb beschriebene "Truthahn-Irrtum" sein. Stellen Sie sich einen Truthahn vor, der jeden Tag von seinem Besitzer gefüttert wird. Auf Grundlage dieser Erfahrung geht der Truthahn davon aus, dass es auch in Zukunft Futter gibt, wenn der Besitzer sich blicken lässt. Diese Prognose hält aber nur bis zum Tag vor Thanksgiving. Denn an diesem Tag kommt der Besitzer nicht, um den Truthahn zu füttern, sondern um ihm den Hals umzudrehen. Auf ähnliche Art sind viele Modelle von der jüngsten Finanzkrise überrascht worden.

3 Der Mensch und seine Versuchungen

Meine Damen und Herren, Menschen und Modelle sind im Umgang mit Risiken nicht perfekt. Die Folgen können unvernünftige Entscheidungen, im schlimmsten Fall auch Krisen sein. Es gibt aber noch ein zweites Problem. Wer an den Finanzmärkten aktiv ist, arbeitet häufig nicht mit seinem eigenen Geld, sondern mit dem Geld anderer Leute – im ungünstigsten Fall mit dem Geld der Steuerzahler.

Das spätestens seit der Finanzkrise klassische Beispiel dafür sind die so genannten systemrelevanten Banken. Diese Banken sind so groß und vernetzt, dass ihr Zusammenbruch das gesamte Finanzsystem in Schieflage bringen könnte. Daher haben während der Krise viele Staaten strauchelnde Banken gestützt, um einen Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern. Die Kosten dafür haben die Steuerzahler getragen.

Aus der Sicht systemrelevanter Banken war das nichts anderes als eine kostenlose Versicherung. Die Bank weiß, dass sie im Zweifelsfall vom Staat gerettet wird. Sie hat damit einen Anreiz, diese Situation auszunutzen und übermäßige Risiken einzugehen. Geht die Rechnung auf, macht die Bank hohe Gewinne, geht die Rechnung nicht auf, kann die Bank davon ausgehen, dass die Steuerzahler einspringen.

Als kleines Zwischenfazit können wir also zwei Dinge festhalten: Menschen haben von Natur aus Schwierigkeiten im Umgang mit Risiken und sind anfällig dafür, unvernünftige Entscheidungen zu treffen. Gleichzeitig haben sie Anreize, besonders hohe Risiken einzugehen, weil im Zweifelsfall nicht ihr eigenes Geld auf dem Spiel steht. Die Frage ist jetzt: Was kann die Regulierung tun?

4 Die Regulierung und ihre Möglichkeiten

Die wichtigste Erkenntnis ist wohl, dass die Regulierung den Menschen nicht ändern kann. Was sie aber ändern kann, sind die Bedingungen, unter denen er Entscheidungen trifft. Und das betrifft vor allem das Problem der falschen Anreize.

Das Grundproblem war, dass große Banken im Zweifel vom Staat gerettet werden und damit einen Anreiz haben, übermäßig hohe Risiken einzugehen. Regulierung muss also dafür sorgen, dass auch große Banken scheitern können, ohne dabei das gesamte Finanzsystem in Schieflage zu bringen. Das würde auch für den Finanzsektor eines der Grundprinzipien der Marktwirtschaft wieder herstellen: die Möglichkeit des Scheiterns. Um den Ökonomen Allan Meltzer zu zitieren: Kapitalismus ohne Scheitern ist wie Religion ohne Sünde – es funktioniert einfach nicht.

Im Euro-Raum wird es ab 2016 einen gemeinsamen Abwicklungsmechanismus geben, den Single Resolution Mechanism. Scheitert in Zukunft eine Bank, so greift dieser Mechanismus ein und wickelt diese Bank ab – egal wie groß sie ist, egal in wie vielen Ländern sie aktiv ist und egal wie kompliziert ihre Struktur ist. Die Frage ist hier natürlich: Wer trägt die Verluste, wenn eine Bank scheitert?

Um sicherzustellen, dass im Falle einer Abwicklung ausreichend Mittel vorhanden sind, um die Verluste zu tragen, müssen Banken ihre Bilanz verändern. Sie müssen in Zukunft über das Eigenkapital hinaus Mittel vorhalten, die im Falle des Scheiterns Verluste tragen können. Ein Beispiel dafür sind so genannte Contingent Convertibles, oder CoCos. Das sind Anleihen, die in bestimmten Situationen in Eigenkapital umgewandelt werden und genauso wie Eigenkapital Verluste tragen müssen.

Die entsprechenden Regeln sollen Ende diesen Jahres auf dem Gipfel der G20-Staaten in Antalya verabschiedet werden. In Zukunft ist es also nicht mehr das Geld der Steuerzahler, das auf dem Spiel steht, sondern das der Eigentümer und Kreditgeber. Damit haben die Banken einen Anreiz, sich risikobewusster zu verhalten.

Letztlich wird aber das auch Krisen nicht völlig verhindern können. Darum müssen wir versuchen, die Banken so aufzustellen, dass sie im Falle einer Krise nicht sofort zusammenbrechen – wir müssen die Banken also widerstandsfähiger machen. Der wichtigste Baustein ist hier das Eigenkapital. Je höher das Eigenkapital einer Bank, desto mehr Verluste kann die Bank tragen, bevor sie zusammenbricht. Und hier haben wir schon viel erreicht. In Zukunft müssen die Banken nicht nur mehr Eigenkapital vorhalten, sondern auch Eigenkapital von höherer Qualität.

Das Grundprinzip ist dabei, dass Banken umso mehr Eigenkapital vorhalten müssen, je risikoreicher ihre Investitionen sind. Ein Kredit an ein etabliertes Industrieunternehmen ist im Allgemeinen eine relativ sichere Investition und muss daher mit entsprechend wenig Eigenkapital unterlegt werden. Ein Kredit an ein Start-Up der Internetbranche ist schon weniger sicher, daher muss er mit mehr Eigenkapital unterlegt werden.

Dieses Prinzip der Risikogewichtung wird allerdings an einer Stelle durchbrochen, und das ist zugleich eine der letzten großen Baustellen der Regulierungsreform. Kredite an Staaten müssen nicht mit Eigenkapital unterlegt werden; es wird pauschal argumentiert, dass sie risikolos seien. Die Krise im Euro-Raum hat allerdings sehr deutlich gezeigt, dass auch Kredite an Staaten nicht risikolos sind. Kredite an Staaten sollten daher ebenso mit Eigenkapital unterlegt werden müssen wie Kredite an den Privatsektor. Diese Diskussion wird zurzeit in verschiedenen internationalen und europäischen Gremien geführt, was die Bundesbank sehr begrüßt.

5 Fazit

Meine Damen und Herren, seit der globalen Finanzkrise von 2008 haben wir viel getan, um das Finanzsystem sicherer zu machen.

Wir haben erstens dafür gesorgt, dass Banken ganz allgemein widerstandsfähiger werden. Sie müssen in Zukunft mehr und besseres Eigenkapital halten. Unabhängig davon, woher die nächste Krise kommt, sind Banken wesentlich besser gerüstet als vor sieben Jahren.

Doch ganz ausschließen lässt sich natürlich nicht, dass eine Bank scheitert. Darum haben wir zweitens dafür gesorgt, dass ein solches Scheitern möglich ist, ohne das gesamte Finanzsystem in Schieflage zu bringen. Wir haben also die Prinzipien der Markwirtschaft gestärkt. Das sollte vor allem dafür sorgen, dass die Banken sich risikobewusster verhalten. Denn in Zukunft steht das Geld ihrer Eigentümer und Kreditgeber auf dem Spiel, nicht mehr das der Steuerzahler.

Aber ist das Finanzsystem damit völlig sicher? Die amerikanische Schriftstellerin Helen Keller hat gesagt: "Sicherheit ist im Großen und Ganzen eine Illusion". Und das gilt sicherlich auch für das Finanzsystem. Davon auszugehen, dass Krisen nun für alle Zeiten ausgeschlossen sind, wäre meiner Ansicht nach verantwortungslos. Die gute Nachricht ist, dass das Finanzsystem heute viel besser aufgestellt ist, um mit Krisen umzugehen. Es ist also nicht völlig sicher, aber zumindest deutlich sicherer als noch vor sieben Jahren.

Vielen Dank.


Fußnoten:

  1. Kahneman, D.; Tversky, A. (1979), Prospect Theory: an analysis of decision under risk. In: Econometrica, Vol. 47, Nr. 2, S. 263-291.

  2. Englich, B.; Mussweiler, T.; Strack, F. (2006), Playing Dice with Criminal Sentences: The Influence of Irrelevant Anchors on Experts’ Judicial Decision-Making. In: Personality and Social Psychology Bulletin, Vol. 32, Nr. 2, S. 188-200.
  3. Törngren, G; Montgomery, H (2004), Worse Than Chance? Performance and Confidence Among Professionals and Laypeople in the Stock Market. In The Journal of Behavioral Finance, Vol. 5, Nr. 3, S. 148-153.