Resilientes Retail Banking: Weichenstellung für einen robusten Finanzsektor Keynote, 21. Retail-Bankentag der Börsen-Zeitung „Next level banking - digital, smart and sustainable”

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr, heute anlässlich des 21. Retail-Bankentags der Börsen-Zeitung zu Ihnen zu sprechen. 

Die vergangenen Wochen waren für die Finanzmärkte alles andere als der entspannte Beginn des Frühlings: Schieflagen von Banken, Interventionen von Regierungen und Notenbanken und die Sorge, dass eine Finanzkrise drohen könne erinnerten eher an aufziehende Herbststürme.

Wie berechtigt sind diese Sorgen? Welche Lehren müssen aus den Erfahrungen der letzten Wochen gezogen werden – sowohl für das Risikomanagement und die Governance der Banken als auch auf Seiten der Aufsicht und Regulierung? Haben wir das Risiko von Finanzkrisen unterschätzt? Ist das Finanzsystem ausreichend resilient gegenüber Schocks? 

Es ist sicherlich zu früh, um abschließende Antworten auf diese Fragen zu geben. In der vergangenen Woche haben die amerikanischen Aufsichtsbehörden ihre Lessons Learned vorgelegt;[2] in der Schweiz werden die Konsequenzen der aktuellen Entwicklungen intensiv diskutiert. Und auch in anderen Ländern werden Aufsicht und Regulierung reagieren.  

Denn die Entwicklungen auf den internationalen Märkten stehen exemplarisch dafür, dass das Finanzsystem in den vergangenen Jahren verwundbarer geworden ist. Das makroökonomische Umfeld hat sich stark gewandelt – höhere Zinsen und eine gestiegene Unsicherheit werden uns noch länger begleiten. Mit den großen Schocks der vergangenen Jahre konnten Wirtschaft und Finanzsystem vergleichsweise gut umgehen, nicht zuletzt aufgrund umfangreicher fiskalischer und geldpolitischer Maßnahmen. Kreditrisiken und Insolvenzen im Unternehmenssektor waren bisher gering. Das birgt aber die Gefahr, dass künftige Risiken unterschätzt werden.

Diese Verwundbarkeiten betreffen auch das Retailgeschäft. In Deutschland und Europa profitieren insbesondere kleine und mittelgroße Unternehmen vom direkten Kontakt zu Banken vor Ort. [3] Aktuell werden Kredite nach strengeren Kriterien vergeben – das ist Ausdruck höherer Zinsen, steigender Kreditrisiken und einer erhöhten Unsicherheit.[4] In unsicheren Zeiten kann gerade eine bessere Informationslage vor Ort ein stabilisierender Faktor bei der Kreditvergabe sein.

Wir stehen an einer kritischen Wegmarke, und es müssen die Weichen für den Umgang mit künftigen Unsicherheiten gestellt werden. Für mich stehen drei Aspekte im Vordergrund:

Erstens brauchen wir einen starke Retailbanken. Wir brauchen Banken, die Zinsänderungs- und Kreditrisiken aus eigener Kraft abfedern und die Wirtschaft zuverlässig mit Krediten versorgen können. So kann der Finanzsektor seine Funktion für die Realwirtschaft erfüllen – genau darum geht es, wenn wir über „Finanzstabilität“ sprechen.

Das erfordert, zweitens, ein starkes Risikomanagement und eine gute Governance in den Banken. Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer Umbruchphase. Kreditrisiken können steigen, Wirtschaft und Banken müssen mit gestiegenen Zinsen umgehen. Prävention ist wichtig – um nicht später von unerwarteten Entwicklungen überrascht zu werden. 

Drittens passen sich Aufsicht und Regulierung an die neuen Rahmenbedingungen an. Reformen der Regulierung haben das System stabiler gemacht, die bestehenden Regeln müssen konsequent angewendet werden. Aber natürlich müssen wir, wo es noch Lücken gibt, auch gezielt nachjustieren, wenn es die Risikolage erfordert.

Doch lassen Sie mich mit einem Lagebild beginnen.

1 Von der Finanzkrise bis zur Pandemie: Woher kommen wir?

Die Phase nach der globalen Finanzkrise bis zum Ausbruch der Pandemie war aus makroökonomischer Perspektive außergewöhnlich stabil. Finanzierungskosten und reale Zinsen waren niedriger als in den vergangenen 150 Jahren.[5] Die Volatilität war gering, das Wachstum stabil.[6] In vielen Ländern sind die Insolvenzen im Unternehmenssektor zurückgegangen. Vor der globalen Finanzkrise wurden in Deutschland pro Jahr im Schnitt 13 von 1.000 Unternehmen insolvent. Danach waren es nur neun, mit stark rückläufiger Tendenz. [7] Entsprechend sanken die Kreditrisiken. 

In dieser Phase hat die Resilienz des Finanzsystems gegenüber negativen Entwicklungen zugenommen. Die durchschnittliche Kernkapitalquote deutscher Banken ist seit dem Jahr 2008 von weniger als 10 auf rund 17 Prozent gestiegen.[8] Auch die nicht-risikogewichtete Quote ist gestiegen. Sie liegt  bei kleineren Banken mit Schwerpunkt im Retailgeschäft mit rund 8 Prozent fast doppelt so hoch wie bei den großen, systemrelevanten Banken. [9] 

Ein wesentlicher Treiber der verbesserten Resilienz war die nach der Finanzkrise beschlossene Reformagenda:[10]  

  • Resilienz stärken durch höhere Anforderungen an das Eigenkapital der Banken und eine bessere Berücksichtigung systemischer Risiken;
  • Too-big-to-fail beenden, die Abwicklung und Restrukturierung systemrelevanter Banken ermöglichen – und Steuerzahler:innen aus der Haftung für Risiken im privaten Sektor entlassen;
  • Transparenz erhöhen und Anreize schaffen für ein zentrales Clearing von Derivaten; und
  • Aufsicht verbessern, gerade über systemrelevante Institute.

Auch die Unternehmen haben in dieser Phase finanzielle Puffer aufgebaut. Die Eigenkapitalquote deutscher Unternehmen ist seit dem Jahr 2008 von rund 25 auf knapp über 30 Prozent gestiegen. Die Liquidität der Unternehmen war im historischen Vergleich sehr gut, die Finanzierungssituation stabil.[11] 

Insgesamt gingen in dieser Phase eine erhöhte Resilienz des Finanzsystems und eine stabile wirtschaftliche Entwicklung Hand-in-Hand. Die Kreditversorgung hat nicht unter den Reformen nach der Finanzkrise gelitten – ganz im Gegenteil: Die Kreditvergabe an Unternehmen und Haushalte ist beständig gestiegen und hat sich in Relation zum Wirtschaftswachstum dynamisch entwickelt.

Aber gerade weil die Lage lange stabil war, haben sich auch Verwundbarkeiten im Finanzsystem aufgebaut. Modelle, mit denen Risiken eingeschätzt werden – seien es formale Modelle, seien es einfache Heuristiken und Daumenregeln – beruhen letztlich auf Erfahrungen der Vergangenheit. Die Wahrscheinlichkeit, dass Zinsen, Kreditrisiken und Volatilitäten künftig steigen werden, unterschätzen die meisten Modelle.

2 Die Krisenjahre seit Ausbruch der Pandemie

Der Ausbruch der Corona-Pandemie setzte dieser stabilen Phase ein abruptes Ende. Anders als die globale Finanzkrise traf die Pandemie die gesamte Weltwirtschaft – allein im Jahr 2020 ging das Bruttoinlandsprodukt (BIP) weltweit um knapp drei Prozent zurück. In Deutschland sogar um fast vier Prozent. [12] 

Angesichts dieses wirtschaftlichen Einbruchs ist es bemerkenswert, dass die Insolvenzen nicht gestiegen, sondern sogar weiter gefallen sind. Im Jahr 2020 lagen sie in Deutschland niedriger als zuvor, bei fünf von 1.000 Unternehmen. [13] Wir hatten das anders erwartet –unsere Modelle hatten einen deutlichen Anstieg der Insolvenzen prognostiziert. [14]

Was erklärt diese Diskrepanz?

Ein wichtiger Faktor waren die wirtschaftspolitischen Reaktionen auf die Krise. Fiskalische Maßnahmen zur Abfederung der Pandemiefolgen, die expansive Geldpolitik und mehr Flexibilität der Regulierung – all dies sind Sonderfaktoren, die von den Modellen nicht erfasst wurden. [15] Modelle, auch mathematische Modelle, haben ihren Nutzen. Gerade in sehr unsicheren wirtschaftlichen Umbruchzeiten sollten Modellergebnisse aber vorsichtig interpretiert werden.

Weitere Schocks kamen hinzu. Geopolitische Spannungen beeinflussen die künftigen globalen Wirtschaftsbeziehungen; der Ausbruch des russischen Kriegs gegen die Ukraine erfordert einen sicherheits- und energiepolitischen Paradigmenwechsel; die Eindämmung des Klimawandels drängt.

Inzwischen sind Szenarien eingetreten, die bisher als „advers“ galten. Die Inflation in Deutschland ist mit 6,9 Prozent im vergangenen Jahr und zuletzt 7,6 Prozent im April weiterhin deutlich zu hoch.[16] Allein im vergangenen Jahr sind die Zinsen um rund 300 Basispunkte gestiegen. Zum Vergleich: Bei der Berechnung des Baseler Zinsänderungskoeffizienten wird ein Anstieg der Zinsen um 200 Basispunkte unterstellt. 

Kurzfristig erscheint die deutsche Wirtschaft relativ robust.  Für das Jahr 2023 wird für Deutschland eine leichte Zunahme des BIP um 0,4 Prozent erwartet. [17] Die finanzielle Lage der Unternehmen wurde durch die Pandemie und die Energiekrise kaum beeinträchtigt. Das gilt selbst für energieintensive Branchen – dank vielfältiger wirtschaftspolitischer Maßnahmen und zuletzt wieder gesunkener Energiepreise. Die Gewinne der Unternehmen sind im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. [18] 

Während dieser Phase unerwarteter Schocks hat sich der Finanzzyklus weiter aufgebaut. Der Finanzzyklus unterscheidet sich vom Konjunkturzyklus: In seiner Aufbauphase steigen Kreditvergabe und Vermögenspreise, die Risikobereitschaft nimmt zu; im Abschwung kann das die Realwirtschaft stark in Mitleidenschaft ziehen. 

So ist die Kreditvergabe in den letzten Jahren stark gestiegen. Die Kredite an den Privatsektor lagen zu Beginn der Pandemie bei rund 82 Prozent des BIP, heute sind es 87 Prozent. [19] Der Bestand an Wohnungsbaukrediten erreichte mit fast 42 Prozent des BIP im Jahr 2020 seinen Höhepunkt – auch wenn die Dynamik der Neukreditvergabe zuletzt im Einklang mit gestiegenen Marktzinsen stark nachgelassen hat. [20]

Die Kapitalisierung der Banken ist in dieser Phase sogar gestiegen. Die deutschen Banken hatten zuletzt ein Überschusskapital von rund 165 Milliarden Euro CET 1 [21] – das sind rund 36 Mrd. Euro mehr als zu Beginn der Pandemie. [22] Da gleichzeitig die Verwundbarkeiten im System gestiegen sind, verkündete die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) Anfang 2022 ein Maßnahmenpaket, das ab Februar 2023 knapp 23 Milliarden Euro (Überschusskapital) in Form von makroprudenziellen Puffern konserviert. [23]  

Diese Kapitalpuffer stabilisieren die Kreditvergabe im Falle eines Schocks. Denn die Puffer können durch die Aufsicht freigegeben werden, wenn hohe Verluste eintreten oder drohen und die Banken die Kreditvergabe stark zurückfahren müssten. In einer solchen Situation haben die Banken nun größere Puffer, um Schocks auf die Realwirtschaft aufzufangen und die Kreditvergabe zu stabilisieren. [24] Aber dieser Spielraum entsteht nicht von alleine: Puffer müssen präventiv aufgebaut werden, um in Krisenzeiten nutzbar zu sein. 

3 Weichenstellungen für das „neue Normal“ und einen resilienten Finanzsektor

Insgesamt hat sich die Konjunktur besser entwickelt, als es fast alle Prognosen hatten erwarten lassen. Das ist eine gute Nachricht. Es wäre aber verfrüht, von einer besseren konjunkturellen Lage auf einen erfolgreichen Umgang mit dem Strukturwandel zu schließen. 

Die Konturen der künftigen Rahmenbedingungen zeichnen sich bereits recht deutlich ab: Zukünftige Planungen werden von höheren Preisen für Energie, höheren Finanzierungskosten, höherer geopolitischer Unsicherheit, und vermutlich einem Rückgang des Potenzialwachstums [25] ausgehen müssen. Die Spielräume für Fiskal- und Geldpolitik, Schocks wie in der Vergangenheit abzufedern, werden geringer.

Die Realwirtschaft muss sich an diese neuen Rahmenbedingungen anpassen. Produktionsfaktoren müssen sich teils von energieintensiven in weniger energieintensive Bereiche verlagern, Unternehmen ihre globalen Lieferketten resilienter aufstellen und mit den Folgen von Digitalisierung und demographischem Wandel umgehen.

Wie stark der nötige Strukturwandel bereits vorangeschritten ist, lässt sich nicht verlässlich abschätzen. Der deutsche Arbeitsmarkt ist beispielsweise geprägt von Fachkräftemangel und Personalengpässen, offene Stellen können nur schwer besetzt werden. [26] Die Folgen der Pandemie sind noch spürbar: Einstellungen, die zunächst aufgeschoben wurden, werden nachgeholt, viele Personen haben ihre Tätigkeit gewechselt und kehren nur langsam zurück. Das überlagert längerfristige, strukturelle Anpassungen. [27]

Die Vielzahl von Krisen fordert Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – und damit das Finanzsystem, das Herz- und Kreislaufsystem einer funktionierenden Realwirtschaft. Um das System nicht zu überfordern, müssen jetzt die richtigen Weichen gestellt werden. In welche Richtung sich die Wirtschaft bewegen wird, welche Schocks das System noch treffen werden, kann niemand verlässlich prognostizieren. Wir werden mit Szenarien arbeiten und immer wieder kurzfristig auf Krisen reagieren müssen.

Umso wichtiger ist ein verlässlicher Kompass, der Orientierung gibt. Unsere institutionelle Ordnung steckt diesen ordnungspolitischen Rahmen ab. Solide Bankenregulierung und –aufsicht sind wichtige Elemente dieses Kompasses.

Hinsichtlich der Regulierung haben die jüngsten Turbulenzen an den Finanzmärkten deutlich gemacht, dass aktuell nicht die Zeit für eine Deregulierungsdebatte ist. Im Gegenteil: Es waren gerade die Reformen der vergangenen 15 Jahre, die den Bankensektor resilienter gemacht haben und ihn relativ glimpflich durch die Krisenjahre haben kommen lassen. 

Resilienz bedeutet, mit unerwarteten Entwicklungen aus eigener Kraft gut umgehen zu können. Was können also Banken, Aufsicht und Regulierung konkret tun, um Resilienz zu erhalten?

3.1 Risikomanagement und Governance der Institute auf negative Szenarien ausrichten 

Das Rückgrat eines stabilen, resilienten Finanzsektors ist das Risikomanagement der Institute selbst. Eine funktionsfähige Überwachung, Steuerung und Kontrolle interner Prozesse reduziert Risiken, auf die Banken selbst einen Einfluss haben. Gerade in sehr unsicheren Zeiten ist das der beste Schutz vor Risiken, die von außen kommen. Im operativen Bereich sehen wir deutlich zunehmende Risiken aus dem virtuellen Umfeld, nicht zuletzt durch Cyber-Angriffe.

Gerade jetzt müssen die klassischen Zinsänderungs- und Kreditrisiken gut gesteuert werden. Auf das makroökonomische Umfeld haben die Banken selbst keinen direkten Einfluss. Gleichzeitig haben starke Veränderungen der Marktzinsen beträchtliche Auswirkungen auf die Zinsspanne, den Barwert der Eigenmittel und auf die Kreditrisiken. 

Bei der Abschätzung künftiger Risiken muss berücksichtigt werden, dass die Zinsen bereits deutlich gestiegen sind. Je höher das Niveau der Zinsen, desto weniger stark scheint – relativ gesehen – ein Anstieg um 200 Basispunkte zu wirken. Aktuell weist der Baseler Koeffizient daher bei vielen Instituten auf zurückgehende Risiken hin. Die tatsächlichen Risiken im Bestand der Kredite sind aber keinesfalls geringer geworden. Denn die bereits erfolgten Zinserhöhungen bergen vielmehr Risiken und drohende Verluste, die sich noch nicht in vollem Maße in den Bilanzen niedergeschlagen haben.

Und auch wenn die Banken längerfristig von steigenden Zinsen profitieren, könnten die Zinsmargen zunächst sinken. Auf der Einlagenseite nimmt der Druck der Kunden zu, höhere Zinsen zu erhalten. Die intensivere Nutzung von Onlinebanking und digitalen Vergleichsportalen erhöht den Wettbewerb um Einlagen. Eine Untersuchung des Single Supervisory Mechanism (SSM) zeigt, dass Gelder auf Onlinekonten volatiler sind als auf herkömmlichen Konten. [28] Auf der Kreditseite begrenzt eine eher schwache Nachfrage die Möglichkeit der Banken, steigende Kosten an ihre Kunden weiterzugeben.

Ausreichendes Eigenkapital ist der beste Schutz gegenüber Risiken. Und bei vielen Zukunftsthemen geht es nicht allein um Risiken, die berechenbar sind, sondern um fundamentale Unsicherheiten. [29] Stresstests und Szenario-Analysen können dabei helfen, Anfälligkeiten gegenüber außergewöhnlichen, aber durchaus plausiblen Ereignissen zu identifizieren. Gutes Risikomanagement setzt genau hier an – bei der Frage, wo Schwachpunkte liegen, welche Szenarien eine Bank besonders unter Druck setzen, was präventiv getan werden kann, um Risiken zu senken. 

Die internen Risikomodelle der größeren Banken spielen dabei eine wichtige Rolle. Rückläufige Kreditrisiken der Vergangenheit bedeuten niedrigere Risikogewichte in den internen Modellen. Die Banken müssen daher sehr genau prüfen, ob ihnen die internen Modelle aktuell verlässliche Informationen über künftige Kreditrisiken liefern. Auch generell gilt es, verantwortungsvoll und wachsam mit internen Modell-Verfahren zu arbeiten, denn deren Prognosefähigkeit ist in Zeiten der grundlegenden Veränderung geschwächt.

3.2 Aufsicht stärken, um Risiken zu erkennen und zu adressieren

Genau wie die Banken, muss auch die Aufsicht auf makroökonomische Entwicklungen und Änderungen des wettbewerblichen Umfelds reagieren. Bankenaufsicht prüft nicht allein die Einhaltung von Regeln – die Aufsicht übernimmt vielmehr eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. Wir müssen diskutieren, was der Strukturwandel für den Finanzsektor bedeutet. Wir brauchen einen intensiven Dialog mit allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen über deren Erwartungen an Finanzsektor und Aufsicht. Genau diesen Dialog wollen wir künftig noch stärker ausbauen.

Was kann die Aufsicht konkret im Umgang mit Risiken tun? Zinsänderungsrisiken sind ein zentrales Thema für die Aufsicht. Rund zwei Drittel der durch die Bundesbank beaufsichtigten Institute müssen bereits jetzt zusätzliche Anforderungen an das Eigenkapital erfüllen, um gestiegene Zinsänderungsrisiken abzudecken. Die laufende Aufsicht trägt dafür Sorge, dass die Institute Zinsänderungsrisiken konservativ modellieren. Weitere Erkenntnisse wird der Stresstest der European Banking Authority (EBA) liefern, der Ende Juli vorgestellt wird. Im Kern geht es in diesem Stresstest darum, Auswirkungen einer starken Eintrübung des makroökonomischen Umfelds auf die Widerstandsfähigkeit der Banken zu untersuchen.

Flankiert werden diese Maßnahmen von Anpassungen der Regulierung. In diesem Jahr treten in der EU strengere regulatorische Vorgaben zu Zinsänderungsrisiken in der EU in Kraft. [30] Risiken von Zinsüberschüssen und Abschreibungsrisiken auf Wertpapiere müssen künftig stärker im internen Risikomanagement berücksichtigt werden. Zudem wurde die MaRisk mit dem Ziel überarbeitet, die Überwachung und Steuerung von Kreditrisiken zu verbessern. [31]

3.3 Regulierung der Finanzmärkte evaluieren, um Resilienz zu stärken

Die Ziele der G20 Reformen der globalen Finanzmärkte geben klare Leitplanken für die Regulierung vor: Resilienz, Schutz der Steuerzahler:innen, Transparenz und gute Aufsicht sind sehr universelle Ziele, die an Relevanz sicher nicht eingebüßt haben.
Klare Leitplanken bedeuten aber nicht, dass Regulierung starr ist. Regulierung muss sich an Änderungen des Umfelds anpassen, ohne dabei ihre Ziele aus den Augen zu verlieren. Das Financial Stability Board (FSB) hat daher im Jahr 2017 mit der Evaluierung der Reformen begonnen. [32] Demnach haben die G20-Reformen im Großen und Ganzen ihre Ziele erreicht, ohne dabei relevante Nebenwirkungen zu haben. [33]

Gerade die jüngsten Schieflagen von Banken in den USA und in der Schweiz haben ein Schlaglicht auf die Frage geworfen, wie gut das too-big-to-fail Problem gelöst wurde, oder ob es im Zweifel nicht doch staatliche Stellen sind, die schwache Institute stützen. 

Eine Evaluierung des Financial Stability Boards zeigt: [34] Wir haben heute einen deutlich besseren institutionellen Rahmen, um mit Schieflagen größerer Finanzinstitute umzugehen. Abwicklungsregime wurden gestärkt, es stehen mehr Mittel zur Verfügung, um Verluste aufzufangen (TLACtotal loss absorbing capacity), Risiken werden auf den Märkten besser bepreist.

Nach wie vor profitiert aber der Finanzsektor von impliziten Subventionen. [35] Das heißt: Im Fall einer Schieflage großer Institute erwarten die Märkte, dass fiskalische Mittel zur Verfügung stehen. Das senkt die Risikoprämien der betroffenen Institute, und kann Anreize erhöhen, Risiken einzugehen. Die jüngsten Reaktionen auf Schieflagen im Bankensektor dürften an diesem Befund wenig ändern, sondern, im Gegenteil, die Erwartung staatlicher Interventionen im Krisenfall eher erhöht haben. 

Umso wichtiger ist es, bestehende Lücken im Regulierungsrahmen zu schließen. Die TBTF-Evaluierung hat klar gezeigt, wo es noch Lücken gibt: national systemrelevante Banken werden unterschiedlich behandelt, und es sind kaum international vergleichbare Informationen über diese Institute verfügbar. Wenig Informationen gibt es auch über die Halter bail-in-fähiger Finanztitel, von denen gleichwohl globale Ansteckungseffekte ausgehen könnten. Die Frage, wie im Abwicklungsfall Liquidität bereitgestellt wird, ist hochaktuell.

Einen ähnlichen Prozess der Evaluierung von Reformen hat das Basler Komitee für Bankenaufsicht etabliert. Das Basel III Reformpaket hat demnach den Bankensektor widerstandsfähiger gemacht.  Gleichzeitig wird dieser Rahmen weiterentwickelt, beispielsweise mit neuen Standards zur Regulierung von Krypto-Asset Exposures bei Banken.  Aktuell werden die regulatorischen und aufsichtlichen Auswirkungen im Lichte der jüngsten Entwicklungen im Bankensektor überprüft. [38]

4 Fazit

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

vor uns liegen fordernde Zeiten. Banken sind eine zentrale Schnittstelle bei Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft. Und gerade gutes, traditionelles Retailgeschäft ist wichtig und keinesfalls „boring banking“, als das es Nobelpreisträgers Paul Krugman bezeichnet hat. [39] 

Die Wirtschaft befindet sich in einer Umbruchphase, in der Risiken steigen und die Unsicherheit hoch ist. Ein solides, vorausschauendes Management von Zinsänderungs- und Kreditrisiken hilft den Banken, die Realwirtschaft gut durch diese Phase zu begleiten. Der Einsatz neuer, innovativer Technologien kann dabei unterstützten, sollte aber kein Selbstzweck sein. 

Nach einer langen Phase relativ stabiler Rahmenbedingungen besteht die Gefahr, dass künftige Risiken unterschätzt werden. 

Die Aufsicht wird nicht nur, aber vor allem bei Zinsänderungs- und Kreditrisiken wachsam sein, Modellananahmen überprüfen, hinterfragen und stress-testen und mit Ihnen zusammen auf ein starkes Risikomanagement hinarbeiten.

Die Aufsicht arbeitet im Auftrag der Gesellschaft – daher freuen wir uns darauf, den Dialog mit allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen noch weiter auszubauen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. 

5 Quellen

Basel Committee on Banking Supervision (2022). Evaluation of the impact and efficacy of the Basel III reforms. Basel.

Bennewitz, Emanuel, Silke Klinge, Ute Leber & Barbara Schwengler (2022). Zwei Jahre Corona-Pandemie: Die deutsche Wirtschaft zwischen Krisenstimmung und Erholung – Ein Vergleich der Jahre 2019 und 2021 – Ergebnisse des IAB-Betriebspanels. (IAB-Forschungsbericht 20/2022), Nürnberg, 176 S. DOI:10.48720/IAB.FB.2220.

Buch, Claudia M. (2022). Was bedeutet die Pandemie für die Finanzstabilität? International Economic Policy Lecture an der Universität Würzburg vom 13.01.2022. Online verfügbar unter Was bedeutet die Pandemie für die Finanzstabilität? | Deutsche Bundesbank.

Buch, Claudia M. (2023). Finanzstabilität in Zeiten des Strukturwandels. Rede anlässlich des Bankenabends der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbank in Baden-Württemberg am 28. Februar 2023. Abrufbar unter: Finanzstabilität in Zeiten des Strukturwandels | Deutsche Bundesbank

Buch, Claudia M. und Linda S. Goldberg (2017). Cross-Border Prudential Policy Spillovers: How Much? How Important? Evidence from the International Banking Research Network. International Journal of Central Banking 13(2): 505-558.

Buch, Claudia M., Angélica Dominguez-Cardoza und Martin Völpel (2021). Too-big-to-fail and funding costs: A repository of research studies. Bundesbank Technical Paper 01/2021,

Deutsche Bundesbank (2020). Finanzstabilitätsbericht 2020. Frankfurt a.M.

Deutsche Bundesbank (2021). Finanzstabilitätsbericht 2021. Frankfurt a.M.

Deutsche Bundesbank (2022). Finanzstabilitätsbericht 2022. Frankfurt a.M.

Deutsche Bundesbank (2023). Monatsbericht, März 2023. Frankfurt a.M.

European Systemic Risk Board (2020). Enhancing the Macroprudential Dimension of Solvency II. Frankfurt a. M.

Financial Stability Board (2017). Framework for Post-Implementation Evaluation of the Effects of the G20 Financial Regulatory Reforms

Financial Stability Board (2020). Holistic Review of the March Market Turmoil. Basel.

Financial Stability Board (2019). Evaluation of the effects of financial regulatory reforms on small and medium-sized enterprise (SME) financing. Final Report. Basel.

Financial Stability Board (2021). Evaluation of the Effects of Too-Big-To-Fail Reforms. Final Report. Basel.

Financial Stability Board (2022a). Assessment of the Effectiveness of the FSB’s 2017 Recommendations on Liquidity Mismatch in Open-Ended Funds. Basel.

Financial Stability Board (2022b). Enhancing the Resilience of Non-Bank Financial Intermediation. Progress Report. Basel.

Grimm, Maximilian, Oscar Jorda, Moritz Schularick und Alan M. Taylor (2023). Loose Monetary Policy and Financial Instability. National Bureau of Economic Research (NBER). Working Paper 30958. Cambridge MA

Hahn, Sascha, Paul P. Momtaz und Axel Wieandt (2022). The economics of banking regulation in Europe: does the post-GFC bail-in regime effectively eliminate implicit government guarantees?, The European Journal of Finance, 
Ifo Institut für Wirtschaftsforschung (2022). ifo Schnelldienst Sonderausgabe, Juni 2022. München.

Kay, John Anderson, and Mervyn A. King (2020). Radical uncertainty. Decision‐making beyond the numbers: Bridge Street Press. 

Kieler Institut für Weltwirtschaft (2022). Kieler Konjunkturbericht Mittelfristprojektion, No. 90. Kiel.

Reis, Ricardo (2022). The Burst of High Inflation in 2021–22: How and Why Did We Get Here? London School of Economics. Mimeo.

Single Resolution Board (2022). European Banks: Resolvable and Ready for Crisis? Conference Report. Luxembourg.

Fußnoten:

  1. Mein herzlicher Dank gilt Robert Düll, Roman Goldbach, Jakob Hartmann, Marcel Heires, Aaron Janowski, Marta Kemter, Alexandra Mitschke, Manuel Pelzer, Berit Pfister, Marit Pössiger, Beate Sonnenberg, Janine van Kisfeld, Kamil Pliszka und Karlheinz Walch für Beiträge und Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Textes. Alle verbliebenen Fehler und Ungenauigkeiten liegen in meiner Verantwortung.
  2. Vgl. https://www.federalreserve.gov/publications/files/svb-review-20230428.pdf und https://www.fdic.gov/news/press-releases/2023/pr23033a.pdf.
  3. Vgl. Financial Stability Board (2019), S. 9.
  4. Vgl. die Ergebnisse des Bank Lending Survey   https://www.bundesbank.de/de/aufgaben/geldpolitik/volkswirtschaftliche-analysen/-/bank-lending-survey-fuer-deutschland-602486.
  5. Vgl. Grimm, Jora, Schularick und Taylor (2023).
  6. Laut Reis (2022) war die Volatilität der Inflation im Vereinigten Königreich im Zeitraum von 1997 bis 2016 niedriger als in den acht Jahrhunderten zuvor.
  7. Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 2, Reihe 4.1. Der Vergleich bezieht sich auf die Jahre 2001-2006 und 2009-2013. 
  8. Vgl. Deutsche Bundesbank (2020), S.52. 
  9. Vgl. Deutsche Bundesbank (2021), S. 48.
  10. Vgl. https://www.fsb.org/multimedia/safersimplerfairer/; https://www.fsb.org/work-of-the-fsb/assessing-the-effects-of-reforms/
  11. Die letzten verfügbaren Informationen zur Kapitalisierung der Unternehmen beziehen sich auf das Jahr 2021. Vgl. Deutsche Bundesbank (2023), S. 74.
  12. Vgl. IMF World Economic Outlook. Der Rückgang des BIP betrug im Jahr 2020 in Deutschland 3,7 Prozent und weltweit 2,8 Prozent (https://www.imf.org/external/datamapper/NGDP_RPCH@WEO/OEMDC/ADVEC/WEOWORLD)
  13. Vgl. Deutsche Bundesbank (2021), S. 26.
  14. Deutsche Bundesbank (2020), S. 43.
  15. Vgl. Buch (2023).
  16. Vgl. Deutsche Bundesbank (2023) sowie Statistisches Bundesamt für den aktuellen Wert; betrachtet wird die Änderung des harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI).
  17. Vgl. Gemeinschaftsdiagnose vom 26. April 2023; https://gemeinschaftsdiagnose.de/wp-content/uploads/2023/04/Befuerwortung_Fruehjahrsprojektion_2023_Bundesregierung.pdf.
  18. In vielen Branchen lag die Brutto-Umsatzrendite nahe der Höchstwerte der letzten beiden Jahrzehnte. Vgl. Bundesbank (2023), S. 76. 
  19. Vgl. Deutsche Bundesbank (2023).
  20. Vgl. Indikatorensystem zum Wohnimmobilienmarkt, aktualisiert 3. März 2023,  https://www.bundesbank.de/content/775496. Betrachtet werden die Zahlen Ende 2019 und Ende 2022. Kredite sind definiert als Buchkreditvergabe inländischer Banken an inländische Unternehmen und Privatpersonen.
  21. Die Anforderungen an das harte Kernkapital (CET 1) setzen sich zusammen aus den Mindestanforderungen, den kombinierten Anforderungen an Kapitalpuffer und den Anforderung der institutsindividuellen aufsichtlichen Eigenmittelzielkennziffer (EMZK gemäß der Pillar-2-Guidance, P2G).
  22. Diese Angaben beziehen sich auf den Stichtag 31.12.2022 bzw. 31.03.2020 für die Angabe vor der Pandemie; die Angaben beruhen auf eigenen Berechnungen und beinhalten keine Zweigstellen ausländischer Institute.
  23. [Vgl. https://www.bafin.de/
  24. Vgl. Deutsche Bundesbank (2022), S. 77.
  25. Vgl.  Kieler Institut für Weltwirtschaft (2022) und ifo Institut für Wirtschaftsforschung (2022).
  26. Vgl. IAB-Stellenerhebung, online verfügbar unter https://iab.de/das-iab/befragungen/iab-stellenerhebung/aktuelle-ergebnisse/
  27. Vgl. Bennewitz, Klinge, Leber und Schwengler (2022).
  28. Vgl. https://www.bankingsupervision.europa.eu/
  29. Vgl. Kay und King (2020).
  30. Vgl. https://www.eba.europa.eu/eba-publishes-final-standards-and-guidelines-interest-rate-risk-arising-non-trading-book-activities
  31. Die 7. MaRisk-Novelle wird im zweiten Quartal 2023 veröffentlicht werden; das bereits abgeschlossene Konsultationsverfahren findet sich hier: https://www.bundesbank.de/content/799514
  32. Vgl. Financial Stability Board (2017).
  33. [1] Für einen Überblick über die Evaluierungsarbeiten des FSB siehe: https://www.fsb.org/work-of-the-fsb/assessing-the-effects-of-reforms/
  34. Vgl. Financial Stability Board (2021).
  35. Vgl. Hahn, Momtaz und Wielandt (2022); sowie für einen Überblick zu weiterer Literatur: Buch, Dominguez-Cardoza und Völpel (2021).
  36. Vgl. Basel Committee on Banking Supervision (2022).
  37. Auf EU-Ebene schafft die Verordnung über Kryptowerte (Markets in Crypto-Assets Regulation) und DORA, der Digital Operational Resilience Act, harmonisierte Regulierungsrahmen, die Innovationen unter Wahrung der Finanzstabilität und des Anlegerschutzes fördern und die digitale Widerstandsfähigkeit des Finanzsektors stärken.
  38. Vgl. https://www.bis.org/press/p230323a.htm
  39. Vgl. https://pages.stern.nyu.edu/~tphilipp/papers/NYT_Krugman.pdf