Regulierungsagenda des internationalen Finanzsystems - eine geschlossene Konzeption Rede bei der Bankenkonferenz der Österreichischen Bankwissenschaftlichen Gesellschaft
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Begrüßung
Lieber Herr Professor Lucius,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
zunächst einmal recht herzlichen Dank für die Einladung, heute zur Eröffnung der Bankenkonferenz zu Ihnen zu sprechen.
Auch wenn der Schwerpunkt der heutigen Veranstaltung auf dem Bankensektor liegt, erlauben Sie mir bitte, dass ich in meinem Vortrag eine übergeordnete Perspektive einnehme und den Blick auf das Finanzsystem als Ganzes richte. Denn die engen Vernetzungen im Finanzsystem – sowohl innerhalb von Sektoren als auch sektoren- und länderübergreifend – machen es erforderlich, bestehende Zusammenhänge und Querverbindungen auch bei der Regulierung zu berücksichtigen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass einzelne Regulierungsmaßnahmen in entgegengesetzte Richtungen wirken oder sich gar gegenseitig aufheben. Statt von einer geschlossenen Konzeption müssten wir dann vielmehr über einen Flickenteppich sprechen.
2 Die Regulierungsagenda für das internationale Finanzsystem
Die Staats- und Regierungschefs der G20 hatten auf ihrem Gipfel in Washington im November 2008 einen umfassenden Ansatz gewählt. Sie beschlossen damals, alle systemisch relevanten Finanzinstitute, Finanzmärkte und Finanzinstrumente einer angemessenen Regulierung und Überwachung zu unterziehen. Die Finanzkrise hatte schließlich Schwächen im gesamten Finanzsystem und seiner Regulierung offen gelegt. Die Regulierungsagenda zielt folglich darauf ab, diese Schwächen zu beseitigen und das Finanzsystem insgesamt widerstandsfähiger zu machen.
Der Beschluss von Washington markiert sozusagen die Geburtsstunde der Regulierungsagenda. Auf den folgenden G20-Gipfeln wurde diese Agenda sukzessive weiterentwickelt und abgearbeitet. Dabei kommt dem internationalen Finanzstabilitätsrat FSB eine zentrale koordinierende Rolle zu. Denn die Regulierungsagenda besteht aus mehreren Bausteinen, an denen die relevanten Standardsetzer und internationalen Gremien parallel arbeiten. Dabei reicht die Bandbreite der in Angriff genommenen Reformen von der Stärkung der Finanzaufsicht über verbesserte Transparenzvorschriften bis hin zu Maßnahmen, die darauf abzielen, die von Vergütungssystemen ausgehenden Fehlanreize zu korrigieren. Die Koordination aller Arbeitsstränge ist Aufgabe des FSB, der auch die regelmäßige Berichterstattung an die G20 verantwortet.
Die Vielzahl von Arbeitssträngen und Regulierungsvorschriften mag den Eindruck erwecken, dass die vor der Krise bisweilen übertriebene Marktgläubigkeit nun von übertriebener Staatsgläubigkeit abgelöst wird. Lassen Sie mich klarstellen: Es kommt uns nicht auf die schiere Anzahl von Regulierungsvorschriften an, sondern auf deren Qualität.
Regulierungsvorschriften sollen schließlich dazu dienen, einen konsistenten und verlässlichen Ordnungsrahmen zu schaffen, der die richtigen Anreize für Marktteilnehmer zu risikobewusstem Verhalten setzt. Die von den G20 angestoßenen Regulierungsreformen zielen daher auch darauf ab, marktwirtschaftlichen Prinzipien – wie insbesondere der Einheit von Haftung und Kontrolle – wieder Geltung zu verschaffen. Schließlich sind funktionierende Finanzmärkte für unser volkswirtschaftliches Gemeinwohl unverzichtbar, sie gewährleisten die effiziente Allokation von Risiken und Kapital.
3 Querverbindungen und Zusammenhänge
Die engen Verflechtungen innerhalb des internationalen Finanzsystems führen dazu, dass sektorspezifische Regulierungsvorschriften auch Auswirkungen auf andere Bereiche und Marktteilnehmer haben können. Die einzelnen Elemente der Regulierungsagenda müssen daher nicht nur aufeinander aufbauen, sondern auch ineinandergreifen.
So bestehen zum Beispiel zwischen dem Banken- und dem Versicherungssektor enge Verbindungen, unter anderem weil Versicherer in bedeutendem Maße in Bankanleihen investieren. Die Regulierung des einen Sektors hat daher immer auch Auswirkungen auf den anderen Sektor. Etwaige Wechselwirkungen zwischen dem Solvenzregime für Versicherer und der Bankenregulierung müssen wir daher im Auge behalten, wenn wir eine in sich schlüssige Regulierungsagenda verfolgen.
Das Rahmenwerk für die sogenannten SIFIs, also für die systemisch relevanten Finanzinstitute, liefert ein Beispiel für die sektorenübergreifende Anwendbarkeit von Regulierungsvorschriften. Das Rahmenwerk wurde unter Federführung des FSB entwickelt und im November 2011 von den G20 verabschiedet. Es zielt darauf ab, die von SIFIs ausgehenden systemischen Risiken einzudämmen. Zu diesem Zweck beruht das Rahmenwerk auf zwei Pfeilern: Der erste Pfeiler umfasst eine im Vergleich zu anderen Instituten verbesserte Verlusttragfähigkeit. Dazu dienen über Basel III hinausgehende Kapitalzuschläge, die sich an der Systemrelevanz des jeweiligen Instituts bemessen. Den zweiten Pfeiler bildet die Entwicklung von Sanierungs- und Abwicklungsverfahren, um die Restrukturierung oder Abwicklung von SIFIs zu ermöglichen, ohne die Finanzmärkte in Turbulenzen zu stürzen. Das Beispiel der jüngst verstaatlichten SNS Reaal in den Niederlanden zeigt, wie wichtig es ist, dass wir in diesem Bereich Fortschritte machen.
Das SIFI-Rahmenwerk wurde zunächst auf global systemrelevante Banken angewendet. In einem weiteren Schritt erfolgte die Ausdehnung auf national systemrelevante Banken. Derzeit wird schließlich intensiv an der Übertragung auf global systemrelevante Versicherer und Finanzmarktinfrastrukturen gearbeitet. Das Rahmenwerk ist in seiner Anwendung also nicht auf einen spezifischen Sektor beschränkt. Außerdem kann es sowohl auf international systemrelevante Banken angewendet werden als auch auf Banken, die zwar nicht auf globaler, aber auf nationaler Ebene systemrelevant sind. Damit trägt das SIFI-Rahmenwerk nicht nur den Querverbindungen über Sektoren hinweg Rechnung, sondern auch dem engen Zusammenhang zwischen nationaler und supranationaler Ebene.
Auch bei der Ausgestaltung des neuen Baseler Rahmenwerks, Basel III, sind die engen Vernetzungen im Finanzsystem – sowohl zwischen Sektoren als auch zwischen Jurisdiktionen – zu berücksichtigen, um Regulierungsarbitrage zu verhindern. Denn die neuen Eigenkapital- und Liquiditätsstandards für Banken werden nicht nur zu einer Erhöhung der Qualität und Quantität des Eigenkapitals und zu einer besseren Liquiditätsausstattung führen. Zugleich setzen diese verschärften Vorschriften möglicherweise Anreize, Geschäfte zu verlagern und damit die strengere Bankenregulierung zu umgehen. Dabei denke ich nicht nur an Verlagerungen in weniger strikt regulierte Jurisdiktionen, sondern insbesondere auch an eine Verschiebung von Geschäften hin zu weniger stark regulierten Akteuren des Schattenbankensystems.
Anhand dieser Beispiele wird auch deutlich, dass wir bei der Finanzmarktregulierung zwar schon einige wichtige Meilensteine erreicht haben, aber noch lange nicht am Ziel sind. Die Arbeiten an den verschiedenen Elementen der Reformagenda sind unterschiedlich weit fortgeschritten. Einige Reformen liegen bereits in Gesetzesform vor oder sind schon in Kraft, andere werden dieses Jahr folgen. Dennoch haben wir noch sehr viel zu tun.
Neben der Lösung des Too-big-to-fail-Problems zählt die Entwicklung umfassender Empfehlungen zur Regulierung des Schattenbankensystems zu den in diesem Jahr anstehenden wichtigen Projekten. Hier rechne ich mit einer Veröffentlichung unseres Endberichts im September. Auch die Zukunftsfähigkeit der Geschäftsmodelle einer Reihe von Banken wird auf den Prüfstand gestellt werden – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der anhaltenden Diskussion um die Einführung eines Trennbankenmodells beziehungsweise der Volcker Rule.
Und dann haben wir auch bei der Regulierung des außerbörslichen Derivatehandels noch viel Arbeit zu erledigen. Der ursprüngliche Zeitplan der G20, die Empfehlungen zur Reform der OTC-Derivatemärkte bis Jahresende des vergangenen Jahres umzusetzen, wurde zwar verfehlt. Umso wichtiger ist es, an dieser Stelle nicht nachzulassen und die Umsetzung weiterhin entschieden voranzutreiben. Verzögerungen im Zeitplan lassen sich zwar nicht immer vermeiden. Sie dürfen aber nicht zur Verwässerung der angedachten Reformen führen. Ansonsten gefährden wir unser Ziel, das Finanzsystem insgesamt krisenfester zu machen.
4 Konsistente Implementierung rückt in den Vordergrund
Obwohl wir also noch ein gutes Stück Wegstrecke vor uns haben, verschiebt sich der Fokus bereits zusehends von der Entwicklung von Regulierungsmaßnahmen hin zu ihrer Umsetzung. Die Überwachung der Umsetzung wird in Zukunft sicher noch stärker in den Vordergrund rücken.
Denn damit die auf internationaler Ebene vereinbarten Regulierungsmaßnahmen ihre beabsichtigte Wirkung entfalten können, kommt es ganz entscheidend darauf an, dass sie in den einzelnen Ländern auch konsistent umgesetzt werden. Dazu zählt auch, die vereinbarten Zeitpläne zur Implementierung möglichst einzuhalten, um Wettbewerbsverzerrungen möglichst zu vermeiden. Damit kein Regulierungsgefälle entsteht, sollten die Regelungen auch nicht nur in den G20-Ländern, sondern möglichst in allen Ländern mit entwickelten Finanzsystemen angewandt werden.
Regulierer und Aufseher sind sich der Bedeutung konsistenter nationaler Umsetzung bewusst. Wir haben daher unsere Aktivitäten im Bereich der Überwachung der nationalen Implementierung in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut. So werden die Selbstverpflichtung der FSB-Mitgliedsländer, bei der Umsetzung internationaler Standards mit gutem Beispiel voran zu gehen, regelmäßig überprüft und die Ergebnisse veröffentlicht. Ergänzend überprüfen die FSB-Mitgliedsländer seit mittlerweile drei Jahren im Rahmen sogenannter Peer Reviews gegenseitig, inwieweit sie international vereinbarte Standards und Grundsätze national umsetzen. In Zusammenarbeit mit internationalen Standardsetzern hat der FSB im Oktober 2011 ein koordinierendes Rahmenwerk vorgestellt, das die sorgfältige Überwachung der Implementierung vereinbarter Politiken gewährleistet. Besonders wichtigen Reformbereichen, wie dem Baseler Rahmenwerk und Maßnahmen in Bezug auf SIFIs, aber auch dem Schattenbankensystem, wird dabei erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet. Die intensive Überwachung und regelmäßige Veröffentlichung in Form von Fortschrittsberichten an die G20 tragen dazu bei, den Implementierungsdruck aufrecht zu erhalten.
Um Regulierungsarbitrage zwischen Sektoren und Ländern zu verhindern, müssen wir unser Augenmerk aber noch stärker auf die systemischen Aspekte der Regulierung richten. Dazu müssen insbesondere die Gesamtwirkungen der Regulierungsmaßnahmen abgeschätzt und mögliche Wechselwirkungen zwischen ihnen analysiert werden.
Auswirkungsstudien leisten einen wichtigen Beitrag zur Abschätzung der makroökonomischen Gesamtwirkungen neuer Regulierungsvorhaben. Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass sämtliche Baseler Reformen – also auch die neuen Liquiditätsstandards im Rahmen von Basel III – von Untersuchungen begleitet werden, die sowohl die kurz- als auch die langfristigen Auswirkungen auf Banken und auf die Realwirtschaft abschätzen.
Von Seiten der Finanzwirtschaft wurde wiederholt die Sorge geäußert, dass das Zusammenwirken der verschärften Basel III-Anforderungen in Verbindung mit den darüber hinausgehenden Anforderungen für SIFIs zu einer Einschränkung des Kreditangebots führen könnte. Der Baseler Ausschuss ist dieser Frage nachgegangen und kommt zu dem Ergebnis, dass die Vorteile – nämlich der Gewinn an Stabilität und die Verringerung der Wahrscheinlichkeit künftiger Krisen – die Nachteile überwiegen. Eine maßvolle Verteuerung der Kreditvergabe und geringfügige Wachstumseinbußen gefährden demnach nicht die Kreditversorgung der Wirtschaft.
Die parallel vorangetriebenen Arbeiten an den verschiedenen Elementen der Reformagenda bergen außerdem die Gefahr, dass einzelne Maßnahmen im Widerspruch zueinander stehen. Der Fokus auf sektorspezifische Maßnahmen kann in unserem eng vernetzten Finanzsystem leicht dazu führen, dass unbeabsichtigte Wechselwirkungen auftreten oder gar widersprüchliche Anreize gesetzt werden. Diese fehlende Konsistenz könnte die angestrebten Wirkungen der Neuregelungen verringern oder sogar dazu führen, dass diese ganz ausbleiben.
Ein Beispiel für unerwünschte Wechselwirkungen könnte das Zusammenspiel der europäischen Bankenregulierung und des europäischen Solvenzregimes für Versicherer liefern. Denn während die Bankenregulierung darauf abzielt, die Bankenfinanzierung auf eine stabile, das heißt auf eine langfristige Basis zu stellen, bevorzugt das Solvenzregime unter bestimmten Voraussetzungen Bankanleihen mit kurzen Laufzeiten. Die Eigenmittelanforderungen steigen bei größerer Duration der von Versicherungsunternehmen gehaltenen Bankschuldverschreibungen relativ stark an – zumindest wenn diese die Standardformel nutzen. Als Folge könnten Versicherer ihre Vermögensallokation zulasten von Bankschuldverschreibungen ändern. Da Versicherer zu den bedeutendsten Investoren in Bankanleihen zählen, könnte dies letztlich zu einer Erhöhung der Finanzierungskosten der Banken führen.
Auch innerhalb eines Sektors können unterschiedliche Regulierungsmaßnahmen widersprüchliche Anreize setzen. Das Zusammenspiel der europäischen Krisenmanagementrichtlinie und der geplanten Vorgaben zur Liquiditätskennziffer könnte hier möglicherweise ein Beispiel liefern. Denn der Entwurf der Krisenmanagementrichtlinie sieht die Ausnahme kurzfristiger Verbindlichkeiten vom Bail-in vor und setzt damit Anreize zu einer kurzfristigen Finanzierung. Dies steht dem Ziel der Liquiditätsregulierung, die Vorhaltung liquider Mittel auch unter ungünstigen Umständen und für längere Zeiträume sicherzustellen, diametral entgegen.
Ein abschließendes Urteil über die Effekte der jeweiligen Regulierungsinitiativen kann aber natürlich erst dann gefällt werden, wenn Klarheit über die jeweilige Ausgestaltung herrscht und sobald aussagekräftige empirische Evidenz vorliegt.
Damit die Regulierungsreformen letztlich ihre beabsichtigte Wirkung entfalten können, kommt es ganz entscheidend darauf an, dass wir solche Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Regulierungsmaßnahmen erkennen und möglichst vermeiden. Dies ist ganz offenkundig alles andere als eine leichte Aufgabe. Sie erfordert sorgfältiges Abwägen zwischen den Zielen und Wirkungen verschiedener Maßnahmen. Unter Umständen kann dies auch bedeuten, dass bereits beschlossene Maßnahmen während oder kurz nach ihrer Umsetzung nochmals nachgebessert und überarbeitet werden müssen. Das jüngste Beispiel hierzu liefert die Überarbeitung des Liquiditätsstandards durch den Baseler Ausschuss. Dabei sollte aber sowohl der Öffentlichkeit als auch den von der Regulierung Betroffenen klar sein, dass es dabei nicht darum geht, bereits beschlossene Maßnahmen zu verwässern. Vielmehr wird den systemischen Aspekten der Regulierung Rechnung getragen, um mögliche unerwünschte Auswirkungen zu vermeiden.
5 Fazit
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die internationale Regulierungsagenda ist kein Flickwerk, sondern ein sehr umfassender Ansatz, der einen weiten Bogen von Instituten zu Finanzmärkten bis hin zu einzelnen Instrumenten schlägt. Diese geschlossene Konzeption besteht aus mehreren ineinandergreifenden oder aufeinander aufbauenden Elementen, deren Gesamtwirkungen und deren mögliche Wechselwirkungen genau beobachtet werden müssen. Denn wir können das internationale Finanzsystem nur mit einer in sich schlüssigen Regulierungsagenda stabiler und krisenfester machen.
Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die auf internationaler Ebene getroffenen Vereinbarungen nun in konsistenter Weise in nationale Regelungen und Gesetze überführt werden. Denn auch wenn sich leichte Verzögerungen der ursprünglichen Zeitpläne nicht immer vermeiden lassen: Es darf kein Zweifel daran aufkommen, dass alle G20-Länder einschließlich der EU ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der Reformen auch weiterhin entschlossen nachkommen.
Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf die nun folgende Diskussion.