Nicht genug oder zu viel des Guten? Die Bedeutung von Finanzmärkten für die Wirtschaft Vortrag bei der Graduiertenfeier des Master of Finance an der Goethe Business School in Frankfurt am Main

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Absolventinnen und Absolventen,

wir sind heute hier, weil Sie Ausgezeichnetes geleistet haben. Sie haben den Abschluss "Master of Finance" errungen. Und dies möchte ich gebührend würdigen.

Vor nicht allzu langer Zeit, nämlich vor der jüngsten Finanzkrise, die im Jahr 2008 begann, haben vermutlich manche Absolventen mit ähnlichen Abschlüssen eher daran gedacht, dass sie "Master of the Universe" sein würden. Manch einer kennt vielleicht diesen Ausdruck, der aus dem Roman "The Bonfire of the Vanities" von Tom Wolfe stammt. In diesem Buch wird der moralische Abgrund der Wall Street durch den Investment Banker Sherman McCoy verkörpert, der sich selber als "Master of the Universe" bezeichnet. Der Begriff spiegelte die vermeintliche Allmacht wider – die sich später als ungeheure Vermessenheit herausstellte.

Heute sind wir zum Glück ein Stück weiter. Die Vermessenheit im Finanzwesen hat deutlich abgenommen. Aber die Gefahr, dass sich Finanzkrisen wiederholen, ist nicht gebannt. Das liegt auch daran, dass das Verständnis der Ursachen für die Finanzkrise vielfach zu kurz greift: Zu oft werden nach wie vor moralischer Verfall und Gier einiger Banker als Hauptproblem angesehen.

Nun hat solch ein Fehlverhalten eine gewisse Rolle gespielt – wie immer, wenn es menschengemachte Krisen gibt. Dabei ist mir persönlich wohl bewusst, welche Herausforderung es ist, Renditeerwartungen von Kunden und Besitzern einerseits sowie Nachhaltigkeit und Fairness andererseits zu balancieren.

Was wir aber oft vergessen, ist die deutlich kompliziertere und unangenehmere Erklärung für Finanzkrisen. Nämlich, dass unsere Wirtschaftspolitik darauf aufbaut, dass es von Finanzmärkten getriebenes Wachstum gibt. Und das ist heute leider noch nicht so viel anders als vor der Krise.

2 Rückfall in alte Zeiten?

Direkt nach der Finanzkrise galt eine strenge Finanzmarktregulierung als Wunderwaffe gegen die Exzesse der Finanzindustrie. Strikte Regeln sollten riskantem Verhalten Einhalt gebieten, damit nicht noch einmal ganze Volkswirtschaften mit in den Abgrund gerissen würden.

Je weiter die Erinnerung an die Krise verblasst, desto seltener sehen wir diese Haltung. Bei Bürgern und bei Politikern überwiegen andere Sorgen – im wirtschaftlichen Bereich insbesondere Wachstumssorgen. Auch wenn wir diese Sorgen in Deutschland nicht so stark spüren, so wird doch auch hier das weltweite Wirtschaftswachstum als zu niedrig angesehen. Dabei wird vor allem auf Schwellenländer wie China sowie auf die Eurozone geschaut. Niedriges Wachstum wird beklagt, weil Wachstum als maßgebliche Quelle für Arbeitsplätze und Wohlstand gesehen wird.

Diese Logik der Politik führt leider immer wieder zur Suche nach kurzfristigen, leicht verständlichen, einleuchtenden Lösungen. Da kommt das Wachstum-durch-Finanzmärkte-Mantra gerade recht.

3 Mehr Wachstum durch Finanzmärkte?

Mehr Wachstum durch mehr Kredit und mehr Finanzmarktaktivität ist seit langem eine attraktive politische Idee. Sie gilt als magische Formel für wirtschaftliche Entwicklung. Danach führt ein höherer Grad an Verschuldung und Liquidität in Finanzinstituten zu erhöhter Kreditvergabe; diese wiederum fördert Investitionen und dadurch Wachstum und schlussendlich die wirtschaftliche Entwicklung.

Allzu oft werden politische Entscheidungen durch dieses verlockende Angebot bestimmt – oder durch die Angst davor, das versprochene Wachstum zu verpassen.

Das Problem an dieser Idee ist aber, dass sie falsch ist.

Mehr Wachstum durch Finanzmärkte ist deshalb ein durchaus gefährliches Mantra. Gleichzeitig ist es aber auch blauäugig zu glauben, dass das hohe Maß an wirtschaftlicher Entwicklung, das wir genießen, ohne Banken und Finanzmärkte auskäme. Deswegen müssen wir besser verstehen, wie Finanzmärkte zur Mehrung des Wohlstands beitragen können – und wie nicht.

Ich bin davon überzeugt, dass Sie als Master of Finance wichtige Funktionen in unserer Volkswirtschaft ausfüllen werden. Genau deswegen möchte ich mit Ihnen darüber reden, welche Rolle Finanzmärkte für die wirtschaftliche Entwicklung spielen können – und welche nicht.

4 Wie viel ist genug?

An das Mantra glaubend, dass mehr Wachstum vor allem durch Finanzmärkte entsteht, fordern viele einen nachsichtigeren Umgang mit Finanzinstitutionen. Kreditinstitute sollen also weniger streng reguliert und beaufsichtigt werden.

Ähnliches haben wir vor der letzten Finanzkrise gesehen. Im Zuge der Forderung nach größeren und liquideren Finanzmärkten, die Investitionen und Kreditvergabe an Private fördern und so zu mehr Wachstum führen würden, standen Deregulierung und nachsichtige Aufsicht auf der politischen Agenda.

Wissenschaftliche Theorie und Empirie stützten diese Politik. Diverse Studien zeigten, dass das Volumen an privaten Krediten positiv mit der wirtschaftlichen Entwicklung zusammenhängt.[1] Diese Ergebnisse schienen die Annahmen des Wachstum-durch-Finanzmärkte-Mantras zu bestätigen.

Erst mit der Finanzkrise wurde dieses Mantra hinterfragt. Dazu gibt es neuere wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass mehr Kredit und mehr Finanztransaktionen auch negative Effekte haben können. Hierfür gibt es zwei Gründe:

Erstens führt ein höheres Kreditvolumen zu häufigeren und schwereren Finanzkrisen.[2] Mit anderen Worten: Je mehr Kredite vergeben werden und je mehr Finanztransaktionen es gibt, desto krisenanfälliger wird ein Finanzsystem.

Zweitens: Je größer der bis zu einer Krise aufgebaute Schuldenberg ist, desto schwerer und desto länger kann eine solche Krise andauern.[3] Auch vor der jüngsten Krise war die Verschuldung sehr hoch – der europäische Bankensektor leidet bekanntlich noch immer unter den Altlasten.

Aus dem Mehr-Wachstum-durch-Finanzmärkte-Mantra wurde der Mehr-Krisen-durch-Finanzmärkte-Albtraum. Aber über die gestiegene Krisenanfälligkeit hinaus gibt es noch einen weiteren negativen Effekt von übersteigertem Kreditwachstum. So belegen neueste Studien, dass es tatsächlich so etwas wie zu viel des Guten – also zu viel Kredit und zu viel Finanzmarkt – gibt.

Es gibt diverse Untersuchungen, die zeigen, dass Volkswirtschaften langsamer wachsen, wenn sie ein nicht nachhaltiges, zu hohes Kreditvolumen erreichen.[4] Es wird keine allgemeingültige Grenze genannt, aber die Studien legen nahe, dass sich zusätzliches Kreditwachstum dann negativ auf das Wachstum einer Volkswirtschaft auswirkt, wenn das Volumen privater Kredite im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt 90 bis 100 Prozent übersteigt. Das ist ein Niveau, das viele der entwickelten Volkswirtschaften vor der Krise überschritten haben – und es leider auch weiterhin überschreiten.

Zusammengefasst heißt das: Ein Mehr an Kreditvergabe und eine Ausweitung von Finanzmarktaktivitäten ist nicht uneingeschränkt positiv, sondern folgt eher einem bogenförmigen Verlauf: In Phasen geringer volkswirtschaftlicher Entwicklung kann das Wachstum zulegen; in späteren Entwicklungsphasen kann ein weiterer Anstieg sehr hohe negative Auswirkungen haben. Das heißt für entwickelte Staaten, dass ein einfaches Mehr an Finanzmarkt wenig hilfreich sein wird, um den Wohlstand auszuweiten.

5 Qualität statt Quantität

Liebe Absolventinnen und Absolventen, ich empfehle allen am Gemeinwohl orientierten Teilnehmern an den Finanzmärkten, diese Erkenntnisse zu berücksichtigen.

Aber wie John Maynard Keynes einmal über den Einfluss wissenschaftlicher Ratschläge gesagt hat: Pragmatische Entscheidungsträger, die sich selbst frei von intellektuellem Einfluss fühlten, seien meistens Sklaven eines überholten Ökonomen. Sie würden ihre Entscheidungen auf falschen, veralteten Annahmen verstorbener Ökonomen aufbauen. Ich verzichte hier bewusst darauf, wörtlich zu zitieren, denn der Wortlaut war nicht sehr diplomatisch gewählt.[5] Aber leider traf Keynes mit dieser Aussage ins Schwarze.

Das zentrale Problem hinter Keynes Aussage ist, dass einfache Theorien mit klaren, allgemeingültigen Empfehlungen verlockend für Politiker sind. Hingegen werden Erkenntnisse, die nützlich wären, aber komplizierter und unbequemer sind, im Eifer des politischen Gefechtes leider häufig außer Acht gelassen.

Wenn wir also darüber nachdenken, welche Rolle Finanzmärkte in unserer Volkswirtschaft spielen sollen, müssen wir uns von der einfachen Vorstellung trennen, dass ein Mehr an Finanzmarkt automatisch zu einem Mehr an Entwicklung führt.

Was wir stattdessen brauchen, ist eine bessere Qualität der Finanzmärkte. Was heißt das? Finanzmärkte dienen der Volkswirtschaft im Wesentlichen durch fünf Mechanismen der Qualitätssicherung. Erstens: Zahlungsdienste erleichtern den täglichen Tausch von Waren und Dienstleistungen. Zweitens: Das Zusammenführen von Ersparnissen hilft dabei, große Projekte zu finanzieren. Drittens: Die systematische Überprüfung von Investitionen und Krediten reduziert den Aufwand für den Einzelnen und führt so zu mehr Investitionen und Krediten. Viertens: Diese Überprüfung wird auch nach Vergabe von Krediten in Form einer Kontrolle fortgesetzt. Fünftens: Durch viele unterschiedliche Produkte in einem Institut werden die Risiken gestreut und so besser tragbar.

Keine dieser Funktionen trägt direkt zum Wirtschaftswachstum bei. Sie sind vielmehr unterstützende Funktionen für die wirtschaftliche Entwicklung. Diese Mechanismen sind vor allem dafür da, Entwicklung zu ermöglichen, indem sie die effiziente Verteilung von Ressourcen unterstützen.

Finanzmärkte sind zwar kein Wachstumsmotor, aber jeder Wachstumsmotor braucht einen guten Katalysator. Genau diese Funktion muss unser Finanzsystem wieder mehr übernehmen. Und hier kommen qualifizierte Absolventinnen und Absolventen wie Sie ins Spiel. Nur wenn Sie das Finanzgeschäft ökonomisch und gesellschaftlich nachhaltig denken und lenken, wird das Finanzsystem seine unterstützende Funktion erfolgreich leisten.

Wir brauchen keine Finanztransaktionen in einem Finanzsystem, das sich nur um sich selbst dreht. Wir brauchen Banken und andere Institute, die ihre Aufgabe ernst nehmen und durch effiziente Verteilung von Mitteln die richtigen, zukunftsweisenden Investitionen fördern. Und wir brauchen Geldhäuser, die umsichtig bei der Vergabe von Krediten sind – hierfür brauchen wir talentierte und gut ausgebildete junge Menschen wie Sie, die in ihrer Arbeit im Finanzwesen nicht zuletzt auch eine wichtige Funktion für die Gesellschaft sehen.

6 Schluss

Meine Damen und Herren,

Sie schließen heute einen bedeutenden Schritt in Ihrer beruflichen Entwicklung ab. Masters of Finance, aber nicht "Master of the Universe". In diesem Sinne vertraue ich darauf, dass Sie daran mitarbeiten werden, dass die Qualität und nicht die Quantität der Finanzmärkte zunimmt.

Aber nun das Wichtigste zum Schluss: im Namen der Deutschen Bundesbank, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Leistung und zu Ihrem Erfolg. In diesem Sinne: Genießen Sie diesen, Ihren Tag.

Fußnoten

  1. R Levine (2005), Finance and Growth: Theory and Evidence, in: Handbook of Economic Growth.

  2. A Turner (2015), Between Debt and the Devil: Money, Credit, and Fixing Global Finance, Princeton University Press.

  3. C M Reinhart and K S Rogoff (2008), This Time is Different. Eight Centuries of Financial Folly, Princeton University Press.

  4. J L Arcand, E Berkes and U Panizza (2015), Too much finance? Journal of Economic Growth, 20(2): 105-148; European Systemic Risk Board (2014), Is Europe Overbanked? Report of the Advisory Scientific Committee No 4/June 2014; SG Cecchetti, E Kharroubi (2012), Reassessing the impact of finance on growth. BIS Working Paper No 381; SG Cecchetti, E Kharroubi (2015), Why does financial sector growth crowd out real economic growth? BIS Working Paper No 490.

  5. Practical men who believe themselves to be quite exempt from any intellectual influence, are usually the slaves of some defunct economist. Madmen in authority, who hear voices in the air, are distilling their frenzy from some academic scribbler of a few years back […]” (JM Keynes (1936) The General Theory of Employment, Interest and Money. Macmillan, p. 383).