Höhepunkt der Inflationswelle überschritten – wie geht es weiter? Rede bei der Central Bank of Cyprus

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte mich zunächst ganz herzlich für die Einladung nach Zypern bedanken. Es ist mir eine Freude, hier zu sein, verschiedene Wirtschaftsthemen zu erörtern und Ihnen meine Ansichten darzulegen.

Nikosia ist die östlichste Hauptstadt der Europäischen Union und des Euroraums. Auf meinem Flug hierher habe ich gelernt, dass wir uns mehr als zwei volle Längengrade östlich der Großen Pyramide von Gizeh befinden. Manch einer mag denken, dass Zypern so ziemlich am äußersten Rand Europas gelegen ist. Der Meinung bin ich nicht. Zypern liegt im Herzen Europas, hier finden sich einige der ältesten und tiefsten Wurzeln des europäischen Kontinents.

Berühmte Legenden der Antike besagen, dass die Göttin Aphrodite in Paphos, hier in Zypern, dem Meer entstieg. Schenkt man dem antiken griechischen Dichter Moschos Glauben, so ist es einem prophetischen Traum Aphrodites zu verdanken, dass unser Kontinent den Namen der phönizischen Königstochter Europa trägt.[1] Das Antlitz dieser mythischen Königstochter ziert heute jede Euro-Banknote. Es sind jedoch nicht nur die Mythen: Auch die tatsächliche antike Geschichte Zyperns ist sehr reichhaltig. Dies spiegelt sich ebenfalls in unserer gemeinsamen Währung wider, denn auf den Euro-Münzen Zyperns ist das Idol von Pomos abgebildet. Diese prähistorische Skulptur geht in etwa auf das Jahr 3.000 vor Christus zurück und ist damit älter als die Große Pyramide von Gizeh.

Meiner Ansicht nach ist es für uns Europäerinnen und Europäer wichtig, uns unseres gemeinsamen historischen und kulturellen Erbes bewusst zu sein. Der Euro erinnert uns an dieses Erbe. Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank, hat es einmal so auf den Punkt gebracht: Diese Banknoten sind Teil unserer Wirtschaft, unserer Identität und unserer Kultur.[2]

Ich möchte nun das Reich der Antike und Legenden verlassen und mich den Herausforderungen der Gegenwart zuwenden. Als Zentralbanker treibt mich natürlich das Thema Preisstabilität in besonderem Maße um. Im Verlauf dieser Rede werde ich Ihnen meine Einschätzung der aktuellen Inflationsentwicklung im Euroraum und der jüngsten geldpolitischen Beschlüsse der EZB erläutern. Bevor ich damit aber beginne, lassen Sie mich kurz auf die Konjunkturaussichten im Eurogebiet eingehen.

2 Konjunkturaussichten

Momentan haben wir es im Euroraum mit einer ausgeprägten wirtschaftlichen Schwächephase zu tun. Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im bisherigen Jahresverlauf nur geringfügig gestiegen, und größere Fortschritte sind auch im vierten Quartal nicht in Sicht. Zum einen drosselt die restriktivere Geldpolitik die Konjunktur. Zum anderen dämpfen Faktoren wie der schwache private Konsum, der durch die hohe Inflation belastet wird, und die schleppende Auslandsnachfrage die Entwicklung. Diese Schwäche greift nun auch zunehmend auf den Dienstleistungssektor über.

Die EZB geht in ihren gesamtwirtschaftlichen Projektionen vom September davon aus, dass das reale BIP im Euroraum dieses Jahr um 0,7 Prozent zunehmen wird. Damit wurden die Projektionen vom Sommer um 0,2 Prozentpunkte nach unten korrigiert. Die Wirtschaft des Eurogebiets wird aber wohl nicht in eine Rezession rutschen. Vielmehr wird erwartet, dass das Wirtschaftswachstum im Verlauf des Jahres 2024 anziehen wird. Erstens dürfte sich der private Konsum dank hoher Lohnsteigerungen und sinkender Inflationsraten erholen. Und zweitens dürfte die Exporttätigkeit an Dynamik gewinnen. Die Fachleute der EZB erwarten, dass das reale BIP im Euroraum im kommenden Jahr um 1 Prozent und 2025 um 1,5 Prozent steigen wird.

In Deutschland wird der Industriesektor von der verhaltenen Auslandsnachfrage, aber auch den hohen Energiepreisen stark belastet. Die Deutsche Bundesbank rechnet damit, dass die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr schrumpfen wird. Im Gegensatz dazu kam der zyprischen Wirtschaft eine rege Inlandsnachfrage zugute. Den jüngsten Prognosen der Zentralbank von Zypern zufolge wird sich das reale BIP in Zypern dieses Jahr um 2,4 Prozent erhöhen.[3]

3 Aktuelle Inflationswelle

Die Inflationsraten werden den Annahmen zufolge in den kommenden zwei Jahren sinken. Das ist ermutigend. Allerdings ist die Inflation schon zu lange zu hoch. Daher ist es noch zu früh, die Inflation für besiegt zu erklären. Die Geldpolitik muss auf Kurs bleiben. Doch lassen Sie uns zunächst einen Blick zurückwerfen.

Nach einer längeren Phase mit dauerhaft niedrigen Teuerungsraten nahm die Inflation im Euroraum das gesamte Jahr 2021 hindurch rasch zu. Im Juli überstieg die Inflationsrate mit 2,2 Prozent unser mittelfristiges Ziel. Ende 2021 hatte sie einen Wert von 5 Prozent erreicht. Zu dieser Zeit wiesen die Wirtschaftsprognosen aber immer noch auf einen raschen Rückgang der Inflation hin. Man ging davon aus, dass die Lieferkettenstörungen und die veränderte Zusammensetzung der Nachfrage nur von kurzer Dauer sein würden. Dementsprechend wurde der Inflationsanstieg als vorübergehendes Phänomen eingeschätzt, das auf spezifische Umstände im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zurückzuführen war und sich somit bald auflösen würde. Dies erwies sich als Irrtum. Nachdem Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hatte, schnellten die Energie- und Nahrungsmittelpreise in die Höhe. Dadurch erhielt die Inflation weiteren Auftrieb. Es bestand ein beträchtliches Risiko, dass sich die hohe Inflation verfestigen könnte.

4 Reaktion der Geldpolitik

Es lag also klar auf der Hand, dass die Geldpolitik entschlossen handeln musste. Schon vor der ersten Zinsanhebung stellten wir den Ankauf weiterer Wertpapiere im Einklang mit der Forward Guidance des EZB-Rats ein. Nachdem wir den Nettoerwerb von Vermögenswerten im Juli 2022 beendet hatten, erhöhten wir die Leitzinsen um 50 Basispunkte. Mit nur einem einzigen Schritt setzten wir der Negativzinsphase damit ein Ende. Es folgten nacheinander neun weitere Zinserhöhungen. Mittlerweile haben wir die Zinssätze um insgesamt 450 Basispunkte angehoben. Dies ist die stärkste und schnellste Erhöhung in der Geschichte der Europäischen Währungsunion.

Darüber hinaus verkleinert sich unsere Bilanz allmählich. In den vergangenen zwölf Monaten ist das Bilanzvolumen um 1.700 Milliarden Euro – und damit um ein Fünftel – gesunken. Ausschlaggebend hierfür war bislang in erster Linie das Auslaufen der dritten Reihe gezielter längerfristiger Refinanzierungsgeschäfte (GLRG III). Außerdem haben wir die Wiederanlage der Tilgungsbeträge fällig werdender Wertpapiere im Rahmen des Programms zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) nach und nach eingestellt. Mittlerweile verringert sich der APP-Bestand Monat für Monat um rund 25 Milliarden Euro. Mir ist allerdings klar, dass die umfangreiche Bilanz erheblich weiter verringert werden muss.

Selbstverständlich sind und bleiben die Zinsbeschlüsse unser wichtigstes Instrument zur Bekämpfung einer hohen Inflation. Diesbezüglich gehen wir im EZB-Rat derzeit davon aus, dass sich die Zinssätze auf einem Niveau befinden, das einen erheblichen Beitrag zu einer zeitnahen Rückkehr der Inflation zum Zielwert leisten wird. Dieses Niveau muss allerdings lange genug aufrechterhalten werden.

Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass der aktuelle Zinserhöhungszyklus nun vorbei ist. Sollten sich die Inflationsaussichten verschlechtern, könnten wir natürlich unter Umständen gezwungen sein, die Zinsen erneut anzuheben. Den umgekehrten Fall, dass die Teuerung wesentlich schneller auf den Zielwert von 2 Prozent zurückkehrt, halte ich indes für viel weniger wahrscheinlich. Daher wäre es verfrüht, die Zinsen bald zu senken oder über solche Schritte auch nur zu spekulieren. Schließlich ist nicht nur die Höhe der Zinssätze für den geldpolitischen Kurs maßgeblich, auch die Erwartungen zum künftigen Zinspfad spielen eine Rolle. Der Haupteffekt der geldpolitischen Straffung auf die Inflationsrate muss sich erst noch entfalten.

Zwar ist die Gesamtinflation in den vergangenen Monaten deutlich gesunken, doch können wir nicht sicher davon ausgehen, dass es auch so weitergeht. Die disinflationären Effekte der gesunkenen Energiepreise sind abgeklungen, und wir sind noch ein gutes Stück von unserem Zielwert entfernt. Wir rechnen damit, dass der Weg holprig und in nächster Zeit von einem Auf und Ab der Inflation geprägt sein wird.

Im Oktober lag die Teuerungsrate erstmals seit Juli 2021 etwas unter 3 Prozent. Wir werden aber zu Werten mit einer drei vor dem Komma zurückkehren. Dies ist vor allem einem Basiseffekt zuzuschreiben. So übernahm die Bundesregierung im Dezember 2022 die Abschlagszahlung für die Gasrechnung der privaten Haushalte, was zu einem sehr starken Rückgang des Preisniveaus führte. Unterdessen geht aus den Indikatoren der zugrundeliegenden Inflation – wie der Kernrate – eine anhaltend starke Inflationsdynamik hervor. Im Oktober lag die Kerninflation, die die volatilen Energie- und Nahrungsmittelpreise unberücksichtigt lässt, bei 4,2 Prozent.

Eine zeitnahe Rückkehr der Teuerung auf 2 Prozent ist wichtig, um die Inflationserwartungen unter Kontrolle zu halten. Gelingt uns dies nicht, könnte die feste Verankerung der mittel- bis langfristigen Inflationserwartungen auf einem mit Preisstabilität vereinbaren Niveau verloren gehen. In einem solchen Fall wären Auswirkungen auf das Preis- und Lohnsetzungsverhalten zu erwarten. Letztlich würde dies eine umso stärkere geldpolitische Reaktion erfordern.

Natürlich nehmen wir Bedenken zur Kenntnis, der aktuelle geldpolitische Kurs könne zu restriktiv für die Wirtschaft sein. Einige sind der Auffassung, dass wir mit niedrigeren Zinsen das Wirtschaftswachstum steigern könnten, ohne die Preisstabilität zu gefährden. Davon bin ich aber nicht überzeugt. Zunächst einmal bin ich zuversichtlich, dass wir eine „harte Landung“ vermeiden können. Die angespannte Arbeitsmarktlage, die geringe Verschuldung der Unternehmen und privaten Haushalte sowie die rege Investitionstätigkeit lassen darauf schließen, dass die Voraussetzungen für eine „weiche Landung“ gegeben sind. Auch könnte es der Wirtschaft mehr schaden, wenn wir die Geldpolitik zu früh lockern würden und sie anschließend umso stärker straffen müssten. Mit Blick auf eine Risikoabwägung würde ich es vorziehen, Vorsicht walten zu lassen und eine zeitnahe Rückkehr zur Preisstabilität zu gewährleisten. 

Bei der nächsten Sitzung des EZB-Rats im Dezember werden neue gesamtwirtschaftliche Projektionen vorliegen, die uns wichtige Informationen für die Entscheidungsfindung liefern. Unsere Beschlüsse werden auch künftig auf drei Säulen beruhen: erstens unserer Einschätzung der mittelfristigen Inflationsaussichten vor dem Hintergrund aktueller Daten, zweitens der Entwicklung der zugrundeliegenden Inflation und drittens unserer Beurteilung der Stärke der geldpolitischen Transmission. Was die Übertragung der geldpolitischen Impulse betrifft, so stelle ich keine übermäßige Straffung fest. Die Transmission über die Finanzmärkte funktioniert derzeit gut, und in Bezug auf die Realwirtschaft und die Inflation schreitet sie voran. 

5 Schlussbemerkungen

Meine Damen und Herren,

die Haupteffekte der geldpolitischen Straffung des Eurosystems auf die Inflation müssen sich erst noch entfalten. Diese sind weiterhin notwendig, da der zugrundeliegende Preisdruck nach wie vor hoch ist. Daher müssen wir auf Kurs bleiben. Ich bin davon überzeugt, dass wir die geldpolitischen Zügel erst dann lockern dürfen, wenn wir sicher sind, dass wir dauerhaft zur Preisstabilität zurückkehren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


 

Fußnoten:

  1. Kuhlmann, P. (2004), Moschos’ Europa zwischen Artifizialität und Klassizismus: Der Mythos als verkehrte Welt, Rheinisches Museum für Philologie, 147, S. 276-293.
  2. Lagarde, C., Begrüßungsrede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, anlässlich der Unterzeichnung der Euro-Banknoten, 27. November 2019.
  3. Herodotou, C., Begrüßungsrede des Gouverneurs anlässlich der 1. Jahreskonferenz der Central Bank of Cyprus, The Role of Monetary Policy in Tackling Inflationary Pressures, 4. Oktober 2023.