Haben wir es schon geschafft? Keynote-Rede auf dem 33. Europäischen Bankenkongress Frankfurt

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich freue mich sehr, heute wieder bei Ihnen zu Gast zu sein. Lassen Sie mich zunächst den Veranstaltern des Europäischen Bankenkongresses für die Gelegenheit danken, an dieser Stelle vor einem so erlesenen Publikum sprechen zu dürfen.

Haben Sie schon einmal etwas von „postprandialer Somnolenz“ gehört? Umgangssprachlich spricht man auch vom „Mittagstief“ oder vom „Suppenkoma“. Auch wenn es in der Forschung noch keine endgültige Erklärung dafür gibt, warum sich Menschen nach dem Mittagessen müde fühlen, existieren doch mehrere Erklärungsansätze. Einer davon ist die Umverteilung des Blutes: Beim Essen wird das Blut vom Gehirn und von den Muskeln zum Verdauungstrakt umgeleitet. Dies kann dazu führen, dass wir uns müde und unkonzentriert fühlen.

Ein weiterer Grund liegt darin, dass ein Verzehr größerer Mengen von Kohlenhydraten und Fett den Blutzuckerspiegel rasch ansteigen lässt. Wenn dieser dann plötzlich wieder abfällt, kann das ebenfalls zu Ermüdungserscheinungen führen. Die Verdauung ist also gewissermaßen ein Transmissionsmechanismus, bei dem Nahrung in Energie umgewandelt wird.

Selbstverständlich bin ich kein Ernährungsexperte. Daher konzentriere ich mich in meinen folgenden Ausführungen auf einen Transmissionsmechanismus, der mir vertrauter ist, nämlich auf die geldpolitische Transmission. Ich hoffe natürlich, dass Sie während meines Vortrags – so kurz nach der Mittagspause – nicht ins Suppenkoma fallen.

2 Geldpolitische Reaktion auf den sprunghaften Anstieg der Inflation

Im vergangenen Jahr verzeichnete der Euroraum die höchsten Teuerungsraten seit der Einführung der Gemeinschaftswährung. Dieser Inflationsschub erforderte eine entschlossene geldpolitische Reaktion, und der EZB-Rat hat entsprechend gehandelt. Zwischen Juli 2022 und September 2023 haben wir die Leitzinsen der Europäischen Zentralbank (EZB) um insgesamt 450 Basispunkte angehoben. Dies ist die stärkste Anhebung in der Geschichte der Wirtschafts- und Währungsunion.

Seit die Gesamtinflation im Euroraum im Oktober 2022 einen zweistelligen Höchststand erreichte, ist sie wieder deutlich zurückgegangen. Dies ist vor allem auf die niedrigeren Energiepreise zurückzuführen, aber auch auf die bereits eingeleiteten Schritte zur Straffung der Geldpolitik. Haben wir es also schon geschafft? Haben die Zinsen ihren Höchststand bereits erreicht? Das ist noch unklar.

Derzeit sind die Gesamtinflation und die Kerninflation mit Raten von 2,9 Prozent beziehungsweise 4,2 Prozent im Oktober 2023 immer noch zu hoch. Der EZB-Rat ist entschlossen, sie zeitnah auf das mittelfristige Inflationsziel von 2 Prozent zurückzuführen.

Auf Grundlage unserer aktuellen Beurteilung sind wir der Auffassung, dass sich die Leitzinsen der EZB auf einem Niveau befinden, das einen erheblichen Beitrag zu diesem Ziel leisten wird. Voraussetzung dabei ist, dass dieses Niveau lange genug aufrechterhalten wird.

Unsere künftigen Beschlüsse werden auch weiterhin auf unserer Einschätzung der mittelfristigen Inflationsaussichten vor dem Hintergrund eingehender Daten, der Entwicklung der zugrunde liegenden Inflation und unserer Beurteilung der Stärke der geldpolitischen Transmission basieren.

Was die Inflationsaussichten und die Dynamik der zugrunde liegenden Inflation anbelangt, so gingen die Fachleute der EZB in ihren gesamtwirtschaftlichen Projektionen vom September davon aus, dass die Inflationsraten nicht vor Ende 2025 wieder einen Wert von rund 2 Prozent erreichen werden. Diese Zahlen wurden jedoch vor den schrecklichen Ereignissen im Nahen Osten veröffentlicht. Die damit verbundenen geopolitischen Spannungen haben zur Folge, dass die mittelfristigen Aussichten mit größerer Unsicherheit behaftet sind.

Aktuelle Daten und die Dezember-Projektionen werden für unsere Entscheidungsfindung auf der kommenden EZB-Ratssitzung wichtige Informationen liefern.

3 Transmission der jüngsten Straffung des geldpolitischen Kurses

Was die Stärke der geldpolitischen Transmission betrifft, so lässt sich anhand einiger weniger Indikatoren noch kein vollständiges Bild zeichnen. Im Folgenden möchte ich Ihnen meine Einschätzung darlegen, wie die Zinserhöhungen derzeit durchwirken und ob die Befürchtungen einer zu starken Straffung gerechtfertigt sein könnten.

Die geldpolitische Transmission ist ein komplexer Prozess, bei dem eine ganze Reihe von „Kanälen“ eine Rolle spielen, darunter der Wechselkurskanal, der Kanal der Inflationserwartungen und der Kreditkanal.

Die Transmission ist zudem durch variable und nicht genau vorhersagbare Zeitverzögerungen gekennzeichnet. Wie sich geldpolitische Maßnahmen auf die Wirtschaft und das Preisniveau auswirken, lässt sich stets nur schwer vorhersagen. In Anbetracht des äußerst unsicheren außenwirtschaftlichen Umfelds, der beispiellosen geldpolitischen Straffung sowie der Möglichkeit, dass Unternehmen und Verbraucher angesichts der hohen Inflation ihr Verhalten ändern könnten, dürfte eine solche Vorhersage derzeit sogar noch schwieriger sein.

Die strukturellen Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften des Euroraums haben überdies zur Folge, dass die einheitliche Geldpolitik nicht überall die gleichen Auswirkungen auf Preise oder Produktion zeitigt. Sie unterscheiden sich vielmehr von Land zu Land. In Deutschland beispielsweise wirken sich Zinsänderungen stärker auf das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) aus als etwa in Spanien, wie eine aktuelle Untersuchung der Bundesbank zeigt.[1]

Dies könnte daran liegen, dass in Deutschland zinssensitive Branchen eine größere Rolle spielen, der Arbeitsmarkt flexibler ist, die Wirtschaft exportorientierter ist oder ein stärkerer Wettbewerb im Bankensystem herrscht. Dagegen reagieren die Verbraucherpreise in Spanien stärker als in Deutschland. Italien und Frankreich liegen irgendwo dazwischen.

Der wichtigste Transmissionskanal ist der Zinskanal. Die Weitergabe der Zinssätze durch die Banken ist vor allem im bankbasierten Finanzsystem des Euroraums von entscheidender Bedeutung. Bisher haben sich die Zinssätze im Kreditgeschäft der Banken rascher angepasst als im Einlagengeschäft. Dies führte, nebenbei bemerkt, zu höheren Zinsmargen und damit auch zu steigenden Gewinnen der Banken. Die Kreditzinsen sind deutlich gestiegen – sowohl für Unternehmensdarlehen als auch für Wohnungsbaukredite.

Die Straffung der Geldpolitik schlägt sich in einer geringeren Kreditnachfrage ebenso wie in einem geringeren Kreditangebot nieder. Die Verlangsamung der Kreditvergabe steht jedoch im Einklang mit dem, was unsere Modelle auf der Grundlage der in der Vergangenheit beobachteten Muster nahegelegt haben.

Bedenken, dass die restriktiveren Kreditbedingungen die geldpolitische Transmission verstärken könnten, sind noch nicht zum Tragen gekommen. Dennoch beobachten wir die eingehenden Daten genau. Dazu gehören auch die Daten aus dem Bank Lending Survey. Bislang bewegt sich die Straffung innerhalb der zu erwartenden Bandbreite.

Bei den Einlagen ist eine differenziertere Betrachtung nötig. So sind die Zinsen für täglich fällige Einlagen seit Beginn der geldpolitischen Straffung kaum gestiegen. Seit Juli 2022 haben die Banken diese Zinssätze durchschnittlich um gerade einmal etwa 30 Basispunkte erhöht. Damit sind sie weniger stark gestiegen, als die historische Entwicklung nahelegen würde. Ich kenne viele Bankkundinnen und -kunden, die über diese Entwicklung enttäuscht sind.

Die Zinssätze für Termineinlagen sind dagegen entsprechend unseren Modellprognosen deutlich gestiegen. Dies hat zu erheblichen Umschichtungen von täglich fälligen Einlagen hin zu Termineinlagen geführt.[2]

Dennoch ist der Bestand an täglich fälligen Einlagen immer noch beträchtlich. Das ist wirklich sehr bemerkenswert. Hier wären größere Umschichtungen in rentablere, aber ebenso sichere Anlagen zu erwarten gewesen.

Es bleibt abzuwarten, ob der Wettbewerb um Kundengelder dazu führen wird, dass die Zinsen für täglich fällige Einlagen in Zukunft stärker steigen werden. Vorerst profitieren die Banken natürlich von der trägen Reaktion ihrer Privatkundschaft.

Darüber hinaus sind die Banken weniger auf Kundeneinlagen angewiesen als früher, da sie immer noch über erhebliche Überschussreserven beim Eurosystem verfügen. Diese werden zum Zinssatz für die Einlagefazilität der EZB verzinst.

Die Verzinsung von Reserven ist Teil unseres geldpolitischen Instrumentariums. Neuere Untersuchungen der Bundesbank haben gezeigt, dass die Verzinsung von Reserven selbst Einfluss auf die Transmission haben kann.[3]

Das hat mit einem anderen Transmissionskanal zu tun, dem Bilanzkanal. Eine geldpolitische Straffung geht in der Regel mit einem Rückgang des Reinvermögens der Banken einher. Dies kann sich in niedrigeren Aktienkursen widerspiegeln. Und Banken mit einem geringeren Reinvermögen neigen dazu, ihr Kreditangebot zu verringern.

Die Autoren zeigen jedoch, dass Banken mit hohen Überschussreserven in erheblichem Maße von der gestiegenen Verzinsung profitiert haben. Diese Institute verzeichneten einen weitaus stärkeren Anstieg ihrer Nettozinserträge – und letztlich ihres Reinvermögens – als ihre Konkurrenten mit geringen Reserveguthaben. Weiter stellen die Autoren fest, dass das Kreditangebot der Banken mit höheren Reserven weniger stark auf den jüngsten Zinserhöhungszyklus reagiert hat als das Kreditangebot der Banken mit niedrigen Reserven.

Anders ausgedrückt: Unter sonst gleichen Bedingungen kann die steigende Verzinsung der Reserveguthaben die geldpolitische Transmission beeinträchtigen. Die Mindestreservepflicht ist ein bewährtes geldpolitisches Instrument, das dazu beitragen könnte, diesem Effekt entgegenzuwirken.

Hier gibt es für mich keinen Grund, eine moderate Anhebung zur Verbesserung der Wirksamkeit der Geldpolitik auszuschließen. Nur zur Erinnerung: In den ersten 13 Jahren nach der Einführung des Euro lag der Mindestreservesatz bei 2 Prozent.

Für eine umfassende Bewertung der Transmission reicht es allerdings nicht, nur die Zinssätze im Neugeschäft der Banken zu analysieren. Entscheidend ist auch, wie lange es dauert, bis Zinsänderungen auf die ausstehenden Kredite durchwirken. In der Niedrigzinsphase haben viele Kreditnehmer mit ihren Kreditgebern lange Zinsbindungsfristen vereinbart. Dies schützt sie für einige Zeit vor höheren Zinsen.

Aus Sicht der Finanzstabilität mag dies zwar positiv sein, es verlangsamt aber die Transmission der Geldpolitik. Alles in allem können wir jedoch feststellen, dass die Transmission über die Finanzmärkte derzeit gut funktioniert. Von einer zu starken Straffung kann nicht die Rede sein.

Es versteht sich allerdings von selbst, dass die finanzielle Transmission nur die erste Stufe des Transmissionsprozesses darstellt. Die zweite Stufe besteht in der Übertragung der geldpolitischen Impulse auf die Realwirtschaft und letztlich auf die Preise.

Wenn die Straffung der Geldpolitik den Preisdruck verringern soll, ist eine Dämpfung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage unvermeidlich. Unter diesem Gesichtspunkt ist es ermutigend, dass sich die geldpolitische Straffung auf die Realwirtschaft auswirkt.

Eine Dämpfung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass es zu einer Rezession kommen muss. Ich bin optimistisch, dass wir eine harte Landung der Wirtschaft vermeiden können. Denn mehrere Faktoren dämpfen die Transmission: ungewöhnlich stabile, wenngleich angespannte Arbeitsmärkte, ein unkritischer Verschuldungsgrad von Unternehmen und Haushalten und eine hohe Investitionstätigkeit.

Die Modellschätzungen der Bundesbank zeigen, dass die geldpolitische Straffung ihren stärksten Einfluss auf die Konjunktur voraussichtlich bereits im Jahr 2023 entfalten wird. Für die Inflation wird dies erst im Jahr 2024 der Fall sein. Demnach ist ein Großteil des von der restriktiveren Geldpolitik ausgehenden inflationsdämpfenden Effekts noch nicht zum Tragen gekommen. Es ist jedoch notwendig, dass er zum Tragen kommt. Und dies wird nur geschehen, wenn wir ihn wirken lassen.

Vor diesem Hintergrund wäre es unklug, zu früh mit einer Senkung der Zinsen zu beginnen. Das wäre so, als würde man den Ofen ausschalten, bevor die Weihnachtsplätzchen fertig gebacken sind. Wenn man merkt, dass sie nicht durchgebacken sind, muss man den Backofen erst wieder aufheizen und verbraucht am Ende viel mehr Strom.

Nun gilt es, geduldig zu sein und den Kurs beizubehalten, damit die Straffung ihre Wirkung entfalten kann – die Inflation also sinkt. Die Leitzinsen müssen daher für einen ausreichend langen Zeitraum auf hohem Niveau bleiben. Eine genaue Vorhersage darüber, wie lang dieser Zeitraum sein wird, ist nicht möglich. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass er in absehbarer Zeit endet.

4 Fazit

Meine Damen und Herren, zu Beginn habe ich erwähnt, dass die genauen Ursachen des „Suppenkomas“ unbekannt sind. Aber Sie können sicher sein, dass es hilfreiche Ratschläge gibt, wie Sie dem Mittagstief entgegenwirken können. Essen Sie weniger, wählen Sie kohlenhydrat- und fettarme Speisen oder entscheiden Sie sich für „postprandiale Bewegung“ – also einen kleinen Verdauungsspaziergang!

Und auch für die Bekämpfung einer hohen Inflation gibt es gute Ratschläge. Der beste ist, die Geldpolitik zu straffen und nicht nachzugeben – bis eine zeitnahe Rückkehr zu unserem Preisstabilitätsziel gewährleistet ist.

Die Wiederherstellung von Preisstabilität ist unabdingbar, um den wirtschaftlichen Schaden zu vermeiden, den eine zu hohe Inflation über einen zu langen Zeitraum verursacht. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch zu früh, um vom Sieg über die Inflation zu sprechen.

Auf jeden Fall dürfen wir die geldpolitischen Zügel so lange nicht lockern, bis wir absolut sicher sind, dass wir dauerhaft zur Preisstabilität zurückkehren. Daher würde ich die titelgebende Frage „Haben wir es schon geschafft?“ gerne im Kontext der Wiederherstellung von Preisstabilität beantworten. Und meine Antwort würde hier „nein“ lauten.

Werden wir es denn schaffen? Ja, das werden wir.


 

Fußnoten:

  1. Deutsche Bundesbank, Heterogene Wirkungen der Geldpolitik im Euroraum?, Monatsbericht, September 2023, S. 37–61.
  2. Deutsche Bundesbank, Entwicklung der Bankzinssätze in Deutschland während der geldpolitischen Straffung, Monatsbericht, Juni 2023, S. 39–62.
  3. Fricke, D., S. Greppmair, K. Paludkiewicz, Transmission der Zinserhöhungen hängt von der Höhe der Zentralbankreserven von Banken ab, Bundesbank Research Brief, 61. Ausgabe, Oktober 2023.