Grußwort zum Bundesbank-Symposium "Bankenaufsicht im Dialog"

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste,

ich heiße Sie herzlich willkommen beim diesjährigen Bundesbank-Symposium „Bankenaufsicht im Dialog“ und bedauere wirklich, dass ich heute nicht persönlich vor Ort zu Ihnen sprechen kann.

Unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort, insbesondere Herr Walch und Frau Braun-Munzinger, werden uns allerdings bestens vertreten. Claudia Buch und ich sind heute Vormittag im Bundeskabinett eingeladen und beraten die Bundesregierung zum Bundeshaushalt, der später vom Kabinett beschlossen wird. Frau Buch, unsere Vize-Präsidentin und zugleich seit April die neue Dezernentin für Banken- und Finanzaufsicht, wird auch gleich die erste virtuelle Keynote des Tages halten. Mein besonderer Dank gilt dem Präsidenten der BaFin, Mark Branson, der unser zweiter Keynote-Speaker ist.

Meine Damen und Herren, am 8. Oktober 2020, also noch im ersten Pandemie-Jahr, veröffentlichte die Wochenzeitung The Economist einen Beitrag mit einem aussagekräftigen Titel: „The eternal zero“ – die ewige Null.[1] Noch aussagekräftiger war die Unterüberschrift: Die Pandemie wird das Vermächtnis von noch niedrigeren Zinsen hinterlassen. Nun, diese Ewigkeit währte nicht besonders lange. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es gerade die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie waren, die ein wichtiger Grund für die aktuelle Zinswende waren.

Vor genau zwei Jahren übertrat die Inflationsrate im Euroraum die 2 %-Grenze, nachdem wir im ersten Pandemie-Jahr kurzfristig sogar negative Raten beobachtet hatten. Es sollte sich zeigen, dass dies der Anfang eines dramatischen Anstiegs über fünfzehn Monate war, an dessen vorläufigem Gipfel eine zweistellige Inflationsrate stand. 

Der EZB-Rat musste reagieren, und er hat entschieden reagiert. Die geldpolitische Zinswende wird mit Sicherheit Auswirkungen auf die Lage im Bankensektor haben – und hat es bereits jetzt. Das ist auch ein wichtiges Thema dieses Symposiums – und gleich im Anschluss an die beiden Reden heute Vormittag. In meiner Rede möchte ich den Rahmen dafür setzen, indem ich unsere geldpolitischen Entscheidungen erläutere und kurz diskutiere, wie es mit unserer Geldpolitik weitergehen könnte. Ohne eine kurze Beschreibung der aktuellen Konjunktur und der Inflationsentwicklung wäre meine Einordnung allerdings unvollständig. Lassen Sie mich damit beginnen.

2 Konjunktur

Die Energiekrise belastete die deutsche Konjunktur im Winterhalbjahr erheblich. Zwar ist es im vergangenen Jahr gelungen, die Auswirkungen der Energiekrise deutlich abzumildern. Dennoch befand sich die deutsche Wirtschaft um die Jahreswende in einer sogenannten „technischen“ Rezession. Von einer technischen Rezession wird gesprochen, wenn das reale Bruttoinlandsprodukt in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen zurückgeht.

Dabei belastete die hohe Inflation vor allem den privaten Verbrauch. Ab dem Frühjahr dürfte die deutsche Wirtschaft wieder auf einen – wenn auch verhaltenen – Expansionskurs zurückgekehrt sein. So sollten die starken Lohnsteigerungen die Konsumausgaben trotz hoher Inflation stabilisiert haben.

Laut der Juni-Prognose der Bundesbank wird das reale Bruttoinlandsprodukt hierzulande im Jahresdurchschnitt 2023 allerdings um 0,3 % zurückgehen.[2] Hier macht sich noch der schwache Einstieg ins Jahr bemerkbar. Für das kommende Jahr erwarten unsere Konjunkturexperten ein Wachstum von 1,2 %.

3 Inflation

Dabei zeigt vor allem der Blick auf die Preise, wie außergewöhnlich das Wirtschaftsgeschehen im vergangenen Jahr war. Gemäß dem nationalen Verbraucherpreisindex sind die Verbraucherpreise 2022 in Deutschland durchschnittlich um 6,9 % gestiegen – so stark wie seit 1974 nicht mehr. Und gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex waren es sogar 8,7 %. Im Euroraum insgesamt stieg der HVPI um 8,4 % – die höchste Rate seit Einführung des Euro.

In der öffentlichen Wahrnehmung wird die aktuelle Inflationswelle vor allem mit dem russischen Angriff auf die Ukraine in Verbindung gebracht. Tatsächlich führte der geopolitische Konflikt vor mehr als einem Jahr zu einem drastischen Anstieg der Energiepreise. Jedoch hat sich die Inflation schon früher verstärkt, in der zweiten Jahreshälfte 2021.

Wie ist es dazu gekommen? Die Weltwirtschaft hat sich damals unerwartet schnell vom pandemiebedingten Einbruch erholt. Daraufhin zogen die Energiepreise stark an. Zudem führte die Pandemie zu einer Überschussnachfrage nach bestimmten Konsumgütern. Die Industrie ist mit dem Angebot nicht mehr nachgekommen. Lieferengpässe in einigen Branchen waren die Folge – teilweise auch wegen pandemiebedingter Schließungen. Das hat den Preisdruck weiter erhöht.

Inzwischen sind die Energiepreise wieder deutlich gesunken. Daher lässt die Teuerung allmählich wieder nach. Allerdings ist es zu früh für eine Entwarnung. Denn die Inflation hat insgesamt an Breite gewonnen. Laut unserer Juni-Projektion wird die Inflationsrate in Deutschland vorerst hoch bleiben. Ähnliches ergibt die Juni-Projektion der EZB für den Euroraum.[3] Demnach dürfte die HVPI-Rate im Euroraum in diesem Jahr 5,4 % betragen. Erst 2025 wird sie sich unserem Zielwert von 2 % wieder annähern.

4 Aktuelle Geldpolitik

Preisstabilität wird sich allerdings nicht wie von Zauberhand und ganz von alleine einstellen. Die Geldpolitik muss entschieden reagieren. Das haben wir im EZB-Rat auch getan. In den vergangenen zwölf Monaten haben wir unsere Leitzinsen um insgesamt 400 Basispunkte angehoben. Das ist die größte und schnellste Folge von Zinsanhebungen in der Geschichte des Euroraums. Wir haben die Nettokäufe von Anleihen beendet. Darüber hinaus haben wir seit Anfang dieses Monats auch die Reinvestitionen beim APP-Programm komplett eingestellt.

5 Zur weiteren Zinsentwicklung

Dennoch sind wir aus meiner Sicht noch nicht am Ende des Straffungsweges angelangt. Aus heutiger Sicht müssen die Zinsen weiter steigen. Die Frage, wie weit die Zinsen noch steigen müssen, lässt sich aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantworten. Wir können auch nicht sagen, wie lange sie hoch bleiben und wie sie sich danach entwickeln. Das hängt von der Inflationsentwicklung ab, und die ist hochgradig unsicher. Vor dem Hintergrund dieser Unsicherheit verzichten wir aktuell auch auf einen exakten „Zinsausblick“ oder Forward Guidance bei unserer geldpolitischen Kommunikation.

Dabei betrifft die hohe Unsicherheit aus meiner Sicht nicht nur die kurze, sondern auch die lange Frist. Kurzfristig könnten beispielsweise die Löhne stärker steigen als erwartet. Das würde die Inflationswelle über Zweitrundeneffekte verlängern. Die hohen Preise für Energie, Rohstoffe und andere Vorprodukte könnten ebenfalls stärker an Endkunden überwälzt werden als in den aktuellen Projektionen angelegt.

Was die längere Frist betrifft, gibt es ebenfalls einige Entwicklungen, die die Inflation erhöhen könnten. Lassen Sie mich dazu zwei Beispiele geben: Erstens beobachten wir gerade eine geopolitische Transformation, die im laufenden Jahrhundert vermutlich ohne Beispiel ist. Der russische Angriffskrieg ist hierbei ein bedeutender Faktor, und es gibt weitere geopolitische Spannungen und insgesamt das Risiko einer geopolitischen Fragmentierung. Zweitens erfordern der Klimawandel und die nötige Dekarbonisierung der Wirtschaft umfassende Anpassungsmaßnahmen.

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ist deshalb von hoher Unsicherheit geprägt. Ein Blick in die Geschichte kann dabei helfen, die richtigen Lehren zu ziehen. Die Hochinflationsphase der 1970er war ebenfalls von geopolitischen Turbulenzen und Herausforderungen bei der Energieversorgung begleitet. Mit dem Wissen von heute können wir sagen: Entankerte Inflationserwartungen waren ein wichtiger Grund dafür, dass die Inflation damals so hartnäckig hoch lag.[4] Wichtige Lehren aus jener Zeit sind: Inflationserwartungen nicht entankern lassen, geldpolitisch nicht zu schwach reagieren und nicht zu früh nachlassen.

Eine geopolitische und damit auch geo-ökonomische Fragmentierung könnte aber auch nachhaltig zu mehr Preisdruck führen. So vermutet der britische Ökonom Charles Goodhart, dass die Globalisierung und dabei vor allem die Integration Chinas in die Weltwirtschaft ein wichtiger Faktor für die niedrigen Inflationsraten in den letzten Dekaden war.[5] Eine ökonomische Fragmentierung könnte folglich über einen längeren Zeitraum zu mehr Preisdruck führen. Und ein anhaltend höherer Preisdruck würde auch eine anhaltend restriktivere Geldpolitik erfordern.

Insgesamt aber ist die empirische Evidenz für die Wirkung der Globalisierung auf die Inflation widersprüchlich.[6] Vor allem das Ausmaß dieser Wirkung ist umstritten und schwer unterscheidbar von anderen Faktoren. So hätte die gedämpfte Inflationsdynamik seit Anfang der 1990er Jahre auch aus der zunehmenden Stabilitätsorientierung der Geldpolitik in vielen Ländern resultieren können. Das wäre natürlich eine gute Nachricht für uns, Preisstabilität ließe sich dann mit weniger Aufwand erzielen. Aber darauf verlassen werde ich mich nicht. In dieser Gemengelage werde ich mich also davor hüten, eine neue Ära hoher Zinsen auszurufen.

6 Schlussbemerkungen

Meine Damen und Herren, es ist menschlich, ganz aktuelle Nachrichten bei der Einschätzung einer Situation besonders wichtig zu nehmen. Schnell wird die Gegenwart überbewertet. In der Verhaltensökonomie nennt man diesen Effekt Recency Bias. Ein gutes Beispiel dafür ist in meinen Augen der Economist-Artikel vom Beginn meiner Rede, der von Nullzinsen forever ausging.

Fest steht: Die Ära der Nullzinsen ist vorerst zu Ende. Zur Wahrheit gehört aber auch: Wir wissen nicht, wie die Zukunft aussieht und wo wir in einigen Jahren stehen. Was wir jedoch wissen ist, dass die Geldpolitik tun wird, was nötig ist, um die hohe Inflation zu überwinden. Es ist wichtig, dass Banken und andere Finanzmarktakteure darauf vorbereitet sind. Um dem Recency Bias nicht zu erliegen und kostspielige Fehleinschätzungen zu vermeiden, ist die Kommunikation zwischen Zentralbank, Aufsichtsbehörden und Bankensektor von großer Bedeutung.

Ich bin zuversichtlich, dass diese Tagung dazu einen überaus wertvollen Beitrag leisten wird und wünsche Ihnen spannende Diskussionen und Einsichten. 

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!
 

Fußnoten:

  1. O. V., The eternal zero, The Economist, Ausgabe vom 10. Oktober 2020.
  2. Deutsche Bundesbank, Mühsame Erholung bei hoher, nur allmählich nachlassender Inflation – Perspektiven der deutschen Wirtschaft bis 2025, Monatsbericht, Juni 2023, S. 13-37.
  3. Europäische Zentralbank, Eurosystem staff macroeconomic projections for the euro area, Juni 2023.
  4. Reis, R. (2021), Losing the Inflation Anchor, Brookings Papers on Economic Activity, BPEA Conference Drafts.
  5. Goodhart, C. und M. Pradhan (2020), The Great Demographic Reversal: Ageing Societies, Waning Inequality, and an Inflation Revival, Palgrave.
  6. Europäische Zentralbank (2021), The implications of globalisation for the ECB monetary policy strategy, Occasional Paper No. 263.