Gemeinsame europäische Antworten auf die vor uns liegenden Herausforderungen Rede auf dem European Banking Congress

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren,

es freut mich sehr, einmal mehr hier auf dem European Banking Congress das Wort an Sie zu richten. Und ich freue mich auch ganz besonders, dass ich heute meinen französischen Kollegen und geschätzten Freund François Villeroy de Galhau auf dem Podium begrüßen darf.

François und ich sind überzeugt, dass eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit von wesentlicher Bedeutung für ein starkes Europa ist. Und dass es eines starken und geeinten Europas bedarf, um die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern. Diese Gedanken haben wir auch in einer gemeinsamen Erklärung zu Papier gebracht, die wir im Anschluss an unsere Reden geben werden.[1]

Als Zentralbanker haben wir in erster Linie für Preisstabilität zu sorgen, und ich bin froh, dass wir die Periode mit exorbitant hoher Inflation hinter uns gelassen haben. Heute liegt unser Fokus auf den längerfristigen Herausforderungen, die sich auf unsere Volkswirtschaften auswirken und ebenfalls die Teuerung beeinflussen könnten.

2 Was hat sich verändert?

Zum Zeitpunkt des ersten European Banking Congress im Jahr 1991 hatte die Welt gerade tiefgreifende politische Veränderungen erlebt: den Fall des Eisernen Vorhangs, den Zusammenbruch der kommunistischen Regimes und den Zerfall der Sowjetunion.

Weithin war man der Auffassung, dass sich das westliche Modell der liberalen Demokratie und Marktwirtschaft damit als überlegenes System erwiesen habe. Aus heutiger Sicht war das jedoch ein voreiliger Schluss.

Autokratische Regimes sind nicht einfach von der Bildfläche verschwunden. Vielmehr haben sie an Stärke und Einfluss gewonnen.[2] Und in manchen Fällen schrecken sie auch nicht vor militärischer Aggression zurück. Russlands furchtbarer Angriff auf die Ukraine hat uns auf schmerzhafte Weise verdeutlicht, dass die nach dem Ende des Kalten Krieges verkündete Friedensdividende aufgezehrt ist: Wir sind gezwungen, wieder deutlich mehr in unsere Verteidigungsfähigkeit zu investieren.

Doch auch in Demokratien erweisen sich unsere liberalen Werte als fragil und zunehmend von populistischen Bewegungen bedroht. Populisten weisen der Europäischen Union häufig die Rolle des Sündenbocks zu. Das macht es natürlich schwieriger, die europäische Integration weiter voranzutreiben.

3 Wie können wir unsere Resilienz stärken und unseren Wohlstand mehren?

Europa steht jedoch vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen.

Ereignisse wie die Coronapandemie oder die jüngsten geopolitischen Spannungen werfen ein Schlaglicht auf die Risiken, die aus einseitigen Handelsabhängigkeiten erwachsen. Daher sind stärker diversifizierte Lieferketten ein wünschenswertes, allerdings möglicherweise auch mit hohen Kosten verbundenes Ziel.

Der infolge des demografischen Wandels zunehmende Fachkräftemangel ist ein ernstzunehmendes Wachstumshindernis. Darüber hinaus ist es unsere Aufgabe, die digitale und ökologische Transformation weiter voranzutreiben. Beide erfordern massive Investitionen, die vor allem durch privates Kapital finanziert werden müssen.

Hinzu kommt der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen, der Europa vor enorme Herausforderungen stellen könnte – sowohl politisch als auch wirtschaftlich.

Das europäische Wohlstandsmodell steht also zunehmend unter Druck. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen, wie es Europa gelingen kann, seine Resilienz zu stärken und dabei seinen Wohlstand zu bewahren.

Klar ist, dass wir diese Herausforderungen nur bewältigen können, wenn wir gemeinsam handeln.

Europa muss Geschlossenheit zeigen. Wir dürfen uns nicht spalten lassen.

Doch braucht es dafür auf allen Seiten Kompromissbereitschaft.

4 Binnenmarkt und Finanzmarktintegration

Auf dem ersten Kongress dieser Art, der im Jahr 1991 stattfand, hielt mein Vorgänger Helmut Schlesinger eine vielbeachtete Rede.

Schlesinger, der jüngst seinen 100. Geburtstag feierte, führte damals aus, dass die Schaffung einer Währungsunion allein nicht besonders sinnvoll sei, wenn es nicht bereits einen Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen – darunter auch Finanzdienstleistungen – gäbe.[3]

33 Jahre später müssen wir jedoch feststellen, dass diese Bedingung noch immer nicht ganz erfüllt ist.

In zu vielen Bereichen nutzen wir die Vorteile des Binnenmarktes noch immer nicht. Wir sollten alles in unseren Kräften Stehende tun, um den Binnenmarkt doch noch zu vollenden. Nun liegt es an Brüssel, die wertvollen Ideen aus den Berichten von Enrico Letta und Mario Draghi aufzugreifen und entschlossen und mutig umzusetzen.

Helmut Schlesinger hatte seinerzeit richtigerweise auch auf Finanzdienstleistungen abgestellt. Das hat uns die Finanz- und Staatsschuldenkrise vor Augen geführt.

Aber auch heute sind die Finanzmärkte noch fragmentiert. Und das nicht zuletzt deshalb, weil sich die Mitgliedstaaten unwillig zeigen, ihre nationalen Interessen der gemeinsamen Sache unterzuordnen.

Dieses Denken müssen wir überwinden und die unsichtbaren Mauern einreißen, die der Finanzmarktintegration im Wege stehen.

Bestes Beispiel hierfür ist die Bankenunion.

Vor mehr als zehn Jahren eingeführt, ist sie nach wie vor unvollendet. Es fehlen noch immer eine gemeinsame Einlagensicherung und eine Lösung für den Teufelskreis, der sich aus den Verflechtungen zwischen Staaten und Banken ergibt.

Auf beide Fragen müssen wir Antworten finden.[4] Wie ich aber bereits ausführte, braucht es dazu Kompromissbereitschaft.

Die Vollendung der Bankenunion wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer vollständigen Wirtschafts- und Währungsunion. Und damit würde die Union auch angesichts der geopolitischen Zersplitterung gestärkt.

Gleiches gilt für die Kapitalmarktunion. François und ich setzen uns seit vielen Jahren für ihre Vollendung ein.[5]

Mir ist klar, dass der Teufel hier im Detail steckt, doch bin ich nach wie vor enttäuscht, wie langsam es vorangeht. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass wir in der neuen EU-Legislaturperiode endlich Fortschritte erzielen.

Das gilt umso mehr angesichts des Ausgangs der US-Präsidentschaftswahlen, der den Handlungsdruck weiter steigen lässt.

5 Handelspolitik

Die wirtschaftlichen Folgen des Regierungswechsels in den Vereinigten Staaten könnten weit über den Finanzsektor hinausreichen.

Es ist nicht auszuschließen, dass die neue US-Regierung auf alle importierten Güter einen allgemeinen Zoll erhebt, begleitet von zusätzlichen Zöllen auf Einfuhren aus China. Schließlich wurde eine solche Maßnahme während der Wahlkampagne wiederholt angekündigt.

Ein solches Zollregime würde internationale Handelskonflikte erneut anheizen und unsere multilaterale Ordnung weiter untergraben. In Verbindung mit anderen Vorhaben könnten die Zölle zu einem erheblichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in den USA und in anderen Ländern führen.[6] Und sie würden wahrscheinlich mit steigenden Inflationsraten einhergehen – auf beiden Seiten des Atlantiks.

In diesem Umfeld sollte Europa angemessen und umsichtig vorgehen. Dabei sollten wir uns daran erinnern, dass ein regelbasiertes, multilaterales Handelssystem und entsprechende Abkommen für alle Beteiligten Vorteile mit sich bringen.

Handel ist kein Nullsummenspiel. Wenn sich jeder auf das konzentriert, was ihm am besten liegt, können alle Seiten gewinnen.

Unsere Zielrichtung sollte es sein, die wirtschaftliche Resilienz zu stärken, ohne dabei die Vorteile der Globalisierung und des Freihandels aufzugeben.

6 Schluss

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

zusammenfassend lässt sich sagen, dass Europa vor Herausforderungen unterschiedlichster Art steht. Am besten bewältigen wir sie, wenn wir in einem geeinten Europa zusammenarbeiten. Unsere Aufgabe ist es, ein Europa mit höherer Resilienz und größerem Wohlstand zu schaffen. Packen wir es also an!

Fußnoten:

  1. Villeroy de Galhau, F. und J. Nagel, Gemeinsamer Appell zur Wiederbelebung des deutsch-französischen Dialogs, Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in Le Monde, 22. November 2024.
  2. Die polnisch-US-amerikanische Historikerin Anne Applebaum hat diese Entwicklung eindrücklich beschrieben. Für Ihr Werk erhielt sie letzten Monat hier in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
  3. Schlesinger, H., Der Weg zu einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, Rede auf dem Europäischen Bankentag, 27. September 1991.
  4. Nagel, J. und N. Véron, Den Teufelskreis zwischen Banken und Staaten endgültig durchbrechen, Gemeinsamer Gastbeitrag, erschienen in Politico, 22. Oktober 2024.
  5. Nagel, J. und N. Véron, Den Teufelskreis zwischen Banken und Staaten endgültig durchbrechen
  6. Villeroy de Galhau, F. und J. Nagel, Es ist Zeit für eine echte Kapitalmarktunion, Gastbeitrag, erschienen im Handelsblatt und in Les Echos, 14. November 2022.
  7. Obst, T., J. Matthes und S. Sultan, What if Trump is re-elected? Trade policy implications, IW-Report Nr. 14, Berlin/Köln, 4. März 2024.