Geldpolitik in einer herausfordernden Zeit Einleitende Bemerkungen beim Forum Analysis

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir eine große Freude, hier vor einem Publikum sprechen zu können, das aus so vielen hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern des italienischen Finanzsektors besteht. Ich freue mich auf interessante Gespräche mit Ihnen allen im Anschluss.

Meinen für letztes Jahr geplanten Besuch musste ich leider absagen, da sehr kurzfristig eine EZB-Ratssitzung angesetzt worden war. Deshalb freue ich mich besonders, heute hier bei Ihnen in Mailand zu sein. 

2 Die Reaktion der Geldpolitik auf den sprunghaften Anstieg der Inflation

Damals im Juni 2022 hätten wir vielleicht darüber diskutiert, ob eine Anhebung der Zinsen überhaupt angemessen wäre. Stattdessen können wir jetzt – nach zehn Zinserhöhungen in Folge – darüber sprechen, ob der Zinserhöhungszyklus nun beendet ist. Oder anders ausgedrückt: Es ist viel geschehen seitdem. Lassen Sie uns das Ganze genauer betrachten.

Nachdem die Inflation im Euroraum viele Jahre lang andauernd niedrig gewesen war, begann sie im Laufe des Jahres 2021 rapide zu steigen. Im Juli 2021 lag sie mit 2,2 Prozent schon über unserem mittelfristigen Inflationsziel. Ende 2021 hatte sie ein Niveau von 5 Prozent erreicht.

Zu diesem Zeitpunkt waren viele Fachleute noch der Ansicht, dass der Inflationsanstieg nur vorübergehend – ein Ergebnis außergewöhnlicher Entwicklungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie – und bald vorbei sei. Die Lieferkettenstörungen und die Verschiebungen in der Zusammensetzung der Nachfrage wurden als temporäre Phänomene angesehen.

Der erwartete rasche Inflationsrückgang wurde auch durch Prognosen gestützt. Allerdings stellte es sich heraus, dass die Prognosen den Inflationstrend wiederholt unterschätzten. Sogar nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, als die Energie- und Nahrungsmittelpreise in die Höhe schnellten, wurde teilweise der Standpunkt vertreten, dass die Geldpolitik auf den Inflationsanstieg nicht reagieren solle. Denn dieser sei hauptsächlich durch angebotsseitige Schocks bedingt.

Im EZB-Rat waren wir uns aber einig, dass die Geldpolitik handeln muss. Angesichts einer längeren Phase mit einer erhöhten Inflation sahen wir ein erhebliches Risiko, dass sich die hohen Inflationsraten verfestigen könnten.

Der EZB-Rat begann daher damit, seinen geldpolitischen Kurs zu straffen. Vor einer Anhebung der Leitzinsen wurde zunächst der Ankauf weiterer Wertpapiere eingestellt. Dieser Ablauf entsprach der Forward Guidance des EZB-Rats.

Außerdem beschlossen wir das Instrument zur Absicherung der Transmission (Transmission Protection Instrument – TPI), das unter strikten Voraussetzungen die effektive Transmission der Geldpolitik unterstützen soll. Das TPI käme nur dann zur Anwendung, wenn die Renditen von Staatsanleihen zu stark auseinanderliefen, ohne dass dies durch Fundamentaldaten gerechtfertigt wäre, und dadurch die Preisstabilität gefährdet würde.

Seit Juli 2022 haben wir die Leitzinsen der EZB um insgesamt 450 Basispunkte angehoben. Wir haben auch begonnen, unsere Bilanz zu verkleinern. 

Die Wiederanlage der Tilgungsbeträge fällig werdender Wertpapiere im Rahmen des Programms zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programme, APP) ist ausgelaufen. Und die Bedingungen für die dritte Reihe gezielter längerfristiger Refinanzierungsgeschäfte (GLRG III) wurden angepasst. 

In den vergangenen zwölf Monaten ist der Umfang unserer Bilanz um 1,7 Billionen Euro, also um ein Fünftel, gesunken. Dennoch wird es noch viele Jahre dauern, bis die Bilanz wieder einen Umfang haben wird, der für normale Zeiten angemessen ist.

Was die Leitzinsen anbelangt, so geht der EZB-Rat derzeit davon aus, dass sich diese auf einem Niveau befinden, das – wenn es lange genug aufrechterhalten wird – einen erheblichen Beitrag zu einer zeitnahen Rückkehr der Inflation zum Zielwert leisten wird. Noch ist jedoch unklar, ob der Zinserhöhungszyklus damit nun beendet ist. 

Es war der bislang längste und stärkste Zinserhöhungszyklus seit Einführung des Euro. Umso zuversichtlicher stimmt es, dass das Bankensystem im Euroraum die Zinswende bislang gut bewältigt hat. 

Dies ist sicherlich auch das Ergebnis der Aufsichts- und Regulierungsreformen, die nach der Finanzkrise durchgeführt wurden. Sie haben die Widerstandsfähigkeit des Bankensektors erhöht.

Nun hoffen wir, dass der überarbeitete ESM-Vertrag bald von allen Mitgliedstaaten ratifiziert wird. Durch die darin vereinbarten Reformen könnte der ESM künftig die Funktion einer fiskalischen Letztsicherung (Backstop) für den Einheitlichen Abwicklungsfonds übernehmen. Dies würde den Rahmen für das Krisenmanagement im Bankensektor stärken.

3 Künftige Entscheidungen in der Geldpolitik

3.1 Datengestützter Ansatz

Bei der Geldpolitik werden wir weiterhin einen datengestützten Ansatz verfolgen und von Sitzung zu Sitzung neu entscheiden.

Grundlage für unsere künftigen Beschlüsse ist somit nach wie vor unsere Beurteilung der allgemeinen Inflationsaussichten vor dem Hintergrund aktueller Daten, die Entwicklung der zugrunde liegenden Inflation sowie die Wirkung der geldpolitischen Transmission.

Im Dezember werden die Fachleute des Eurosystems ihre Projektionen zu Inflation und Wirtschaftswachstum veröffentlichen. Diese werden uns auf unserer nächsten Sitzung vorliegen, und dann werden wir auch unsere Risikoeinschätzung auf den neusten Stand bringen. Schon jetzt dürfte klar sein, dass die mittelfristigen Aussichten aufgrund der jüngsten schrecklichen Ereignisse im Nahen Osten mit einer höheren Unsicherheit behaftet sind.

Die Inflation im Euroraum ist in den vergangenen Monaten deutlich gesunken. Im Oktober verlangsamte sich die Gesamtinflation auf 2,9 Prozent. Diese Entwicklung ist ermutigend.

Die Inflationskurve ähnelt derzeit ein wenig dem Matterhorn oder auf Italienisch dem Monte Cervino. Ich rechne aber nicht damit, dass sich der kräftige Rückgang in den kommenden Monaten fortsetzen wird.

Momentan werden die monatlichen Inflationsdaten stark von statistischen Effekten, insbesondere Basiseffekten, beeinflusst. So schlägt sich das Geschehen des jeweiligen Vorjahresmonats in der jährlichen Inflationsrate nieder.

Ich gehe davon aus, dass die Inflation wieder etwas steigt, selbst wenn die Energiepreise auf ihrem aktuellen Niveau bleiben. In den kommenden Monaten dürfte ein holpriger Weg vor uns liegen, auf dem es mal bergauf, mal bergab gehen wird.

Wie die einschlägigen Indikatoren zeigen, ist die Dynamik der zugrunde liegenden Inflation noch immer recht hoch. So lag die Kerninflation, das heißt die Inflationsrate ohne Energie und Nahrungsmittel, im Oktober bei 4,2 Prozent.

Mit anderen Worten: Nach dem Wegfall des disinflationären Effekts der niedrigeren Energiepreise steht uns nun der schwierigste Teil des Weges bevor. Unsere Aufgabe ist somit noch nicht erledigt.

Insbesondere wäre es ein Fehler, wenn wir unseren geldpolitischen Kurs zu früh lockerten. In diesem Fall besteht die Gefahr, dass die Inflation nicht zeitnah zu unserem Ziel von 2 Prozent zurückkehrt. Eine zeitnahe Rückkehr ist jedoch wichtig, um die mittel- bis langfristigen Inflationserwartungen weiterhin auf einem Niveau zu verankern, das mit Preisstabilität im Einklang steht.

Wenn unsere Maßnahmen Zweifel an unserer Entschlossenheit aufkommen lassen, erwarten die Wirtschaftsakteure zunehmend, dass die Inflationsraten über dem Zielwert bleiben werden. Dann werden sie ihr Verhalten entsprechend anpassen, beispielsweise ihr Preissetzungsverhalten oder ihre Lohnforderungen.

Wir brauchen jetzt Geduld und müssen abwarten, bis die geldpolitische Straffung ihre volle Wirkung auf die Inflation entfaltet. Der Haupteffekt dürfte im Jahr 2024 eintreten, denn die geldpolitische Transmission wirkt mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung.

Wir müssen unseren derzeitigen restriktiven Kurs in jedem Fall so lange beibehalten, bis wir mit Gewissheit wieder von dauerhafter Preisstabilität sprechen können.

3.2 Preisstabilität als Leitstern

Die letzten Meter auf dem Weg zur Preisstabilität werden nicht zuletzt deshalb als die schwierigsten angesehen, weil der restriktive geldpolitische Kurs in der Öffentlichkeit zunehmend auf Widerstand stößt. Je länger wir im restriktiven Bereich bleiben, desto vehementer werden die Menschen fordern, dass wir auf weitere Leitzinserhöhungen verzichten und die Leitzinsen stattdessen wieder senken.

Unser Mandat ist aber ganz eindeutig die Gewährleistung von Preisstabilität. Sie ist unser Leitstern.

Ja, es stimmt: Steigende Zinsen bedeuten eine Belastung mit Blick auf das Kreditrisiko. Es ist allerdings Aufgabe der Kreditgeber und der Bankenaufsicht, diese Risiken einzudämmen. Richtig ist auch, dass steigende Zinsen die öffentlichen Haushalte belasten. Hier ist die Finanzpolitik gefragt. Sie muss jedwede Zweifel an der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung ausräumen.

Und es stimmt auch, dass die steigenden Zinsen die Konjunktur belasten. Um den Preisdruck zu verringern, muss aber die gesamtwirtschaftliche Nachfrage bis zu einem gewissen Grad gedämpft werden. Das ist ein normaler Prozess und nicht etwa ein Fehler.

Im Ergebnis führt dies zu besseren Rahmenbedingungen für alle – für die Wirtschaft, aber vor allem für die Menschen mit niedrigem Einkommen, die am stärksten unter der Inflation leiden.

Eines möchte ich an dieser Stelle betonen: Eine Dämpfung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bedeutet nicht zwangsläufig, dass es zu einer Rezession kommen muss.

Was macht mich zuversichtlich, dass wir ohne eine harte Landung der Wirtschaft im Euroraum die Inflation eindämmen können? Der nach wie vor widerstandsfähige Arbeitsmarkt – sowohl in Italien als auch in Deutschland.

Im Euroraum dürfte die Arbeitslosenquote in den kommenden Quartalen leicht steigen, allerdings ausgehend von einem historischen Tiefstand. Und es wird erwartet, dass sie verhältnismäßig niedrig bleibt.

4 Konjunkturaussichten für den Euroraum

Dennoch befinden wir uns in einer ausgeprägten Schwächephase. Leider ist das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Euroraum im dritten Quartal leicht gesunken. Für das vierte Quartal sind die Aussichten weiterhin nur moderat.

Neben den restriktiveren Finanzierungsbedingungen wirken sich auch die schwachen privaten Konsumausgaben und die schwache Exportnachfrage konjunkturdämpfend aus. Diese Schwäche betrifft zunehmend den Dienstleistungssektor.

Der jüngsten Prognose der Europäischen Kommission zufolge wird das BIP des Euroraums dieses Jahr um 0,6 Prozent steigen.[1] Diese Wachstumsrate liegt 0,2 Prozentpunkte unter der Sommerprognose.

Das Wirtschaftswachstum wird jedoch im kommenden Jahr voraussichtlich an Dynamik gewinnen. Hierbei dürften die privaten Konsumausgaben eine maßgebliche Rolle spielen. Angesichts kräftiger Lohnsteigerungen und sinkender Inflationsraten wird ein Anstieg der privaten Konsumausgaben erwartet. Die zunehmende Auslandsnachfrage dürfte dem Wachstum einen zusätzlichen Schub verleihen. Die Europäische Kommission geht davon aus, dass sich das BIP-Wachstum im Euroraum im Jahr 2024 auf 1,2 Prozent und im Jahr 2025 auf 1,6 Prozent belaufen wird.

Ich bin mir durchaus bewusst, wie wichtig Wachstum für die europäischen Volkswirtschaften ist. Es ist für unsere beiden Länder wichtig. Positive Impulse dürften jeweils von den privaten Konsumausgaben und den Exporten ausgehen. In Italien wird sich die Jahreswachstumsrate des BIP laut den Erwartungen von 0,7 Prozent in diesem Jahr, auf 0,9 Prozent im Jahr 2024 und 1,2 Prozent im Jahr 2025 erhöhen.

In Deutschland leidet derzeit die Industrie besonders stark unter der schwachen Auslandsnachfrage nach Waren und den hohen Energiepreisen. Die Fachleute der Europäischen Kommission rechnen für dieses Jahr mit einem BIP-Rückgang um 0,3 Prozent. Unter der Annahme, dass sich sowohl die Inlands- als auch die Auslandsnachfrage erholen werden, dürfte das BIP in Deutschland in den Folgejahren 2024 und 2025 um 0,8 Prozent beziehungsweise 1,2 Prozent wachsen.

5 Fazit

Meine Damen und Herren,

als sich herausstellte, dass der jüngste Inflationsanstieg nicht allein auf vorübergehende Kostenschocks zurückzuführen war, herrschte im EZB-Rat Einigkeit, dass entschlossenes Handeln gefragt ist. Und wir haben gehandelt.

Das Eurosystem reagierte mit der stärksten geldpolitischen Straffung in seiner Geschichte.

Der Haupteffekt dieser geldpolitischen Straffung auf die Inflation wird sich aber erst noch zeigen. Wir sind entschlossen, den eingeschlagenen Kurs beizubehalten und unser Preisstabilitätsziel zu erfüllen.

Eine verfrühte Lockerung könnte sich als Fehler erweisen, da die Inflation auf einem erhöhten Niveau verharren oder sich sogar beschleunigen könnte. In diesem Fall müssten wir die geldpolitischen Zügel abermals anziehen, und der dämpfende Effekt auf die Wirtschaft könnte dann sogar noch stärker sein.

Untersuchungen vergangener Inflationsphasen haben gezeigt, dass der Sieg über die Inflation vielerorts zu früh gefeiert wurde.[2] Und genau das ist aktuell die große Gefahr. In diese Falle dürfen wir nicht geraten.


 

Fußnoten:

  1. Europäische Kommission, Herbstprognose 2023: A modest recovery ahead after a challenging year, 15. November 2023.
  2. Ari, A., C. Mulas-Granados, V. Mylonas, L. Ratnovski und W. Zhao (2023), One Hundred Inflation Shocks: Seven Stylized Facts, IMF Working Paper WP/23/190.