Fliehkräfte in Europa – Bleibt der Euro ein Anker? Rede beim Rahmenprogramm für die Karlspreis-Verleihung

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Geldpolitische Bilanz: Die Performance des Euro

Sehr geehrte Damen und Herren,

zunächst möchte ich eine vorläufige Bilanz unserer gemeinsamen Währung als Teil des historischen Friedensprojekts Europa ziehen. Betrachtet man nur die Daten zur allgemeinen Preisentwicklung und zum Außenwert des Euro, muss man feststellen:

Erstens, im Vergleich zu den Zeiten nationaler, unabhängiger Währungen in Europa bis zum Jahr 1999 waren die Preissteigerungsraten erheblich heterogener und vor allem erheblich höher als im heutigen Euroraum. In vielen Ländern war man weit entfernt vom heutigen Ziel des Eurosystems von Preisniveaustabilität von unter, aber nahe 2 Prozent. Betrachtet man zum Beispiel die Entwicklung der Verbraucherpreisindizes der bevölkerungsreichsten Länder im Euroraum seit 1980, ist festzustellen, dass die Preissteigerungsraten sich kontinuierlich bis 1999, dem Jahr der Einführung des Euro als gemeinsame Währung, annäherten. Sie bewegten sich mehr und mehr im Gleichlauf und vor allem auf niedrigerem Niveau.

Zuletzt hatten wir auch immer wieder über die Gefahren anhaltend negativer Inflationsraten gesprochen und die negativen Auswirkungen, die sich aus einer Deflation für den gesamten Euroraum ergäben. Die jüngeren Zahlen haben diese Sorgen jedoch zunehmend verflüchtigen lassen. Die kurzzeitigen Preisrückgänge haben sich wie erwartet nur als temporäres Phänomen gezeigt, das vor allem auf Preisrückgänge besonders schwankungsanfälliger Energie- und Rohstoffpreise zurückzuführen war.

Auch wenn man den Blick auf Deutschland verengt, stellt man fest, dass die Inflationsraten auch zu Zeiten einer alleinverantwortlichen geldpolitischen Steuerung durch die Bundesbank höher waren.

Blicken wir in die Zukunft, nimmt mit dem robusten Aufschwung und der steigenden Beschäftigung auch der Preisauftrieb zu. Nach der aktuellen März-Prognose wird die Inflationsrate im gesamten Euroraum in diesem Jahr auf durchschnittlich 1,7 Prozent steigen.

Zweitens, wenn wir den Außenwert des Euro in einer langfristigen Reihe betrachten, stellen wir fest, dass trotz Finanz- und Staatsschuldenkrise der Gegenwert des Euro seit 1999 sich nicht nachhaltig von seinem langjährigen Trend entfernt hat. Der Außenwert des Euro ist nicht verfallen. Die Staatsschuldenkrise im Euroraum war keine Krise der Währung als solcher. Die Euro-Krise offenbarte vielmehr Konstruktionsschwächen des Euroraums und Probleme einzelner Mitgliedsländer.

Die Finanzmärkte haben den Euro offensichtlich bisher nicht als strukturell zu schwach oder zu stark eingeschätzt, was entsprechende Auf- oder Abwertung ausgelöst hätte. Auch die Schwankungen des Euro haben sich im Zeitverlauf seit seiner Einführung nicht signifikant verändert.

Beide Aspekte – innerer wie äußerer Wert des Euro – zeigen, dass früher, zu Zeiten der alleinigen nationalstaatlichen Verantwortung, nicht alles besser war. Man kann zu Recht einwenden, dass man die politischen und ökonomischen Besonderheiten der vergangenen Jahrzehnte nicht einfach der vergleichsweise kurzen und geopolitisch friedlicheren Zeit seit Einführung des Euro gegenüberstellen kann. Mangelnden Erfolg kann man dem Integrationsprojekt der gemeinsamen Währung aber auch nicht unterstellen.

Kurzum: Aus geldpolitischer wie währungspolitischer Sicht ist der Euro besser als sein Ruf.   

Die Probleme der Europäischen Währungsunion der vergangenen Jahre lagen in der Konstruktion der Währungsunion und dem Verhalten der Mitgliedstaaten, nicht in der Währung selbst.

2 Der Euro in den Jahren der Finanz- und Staatsschuldenkrise

Nach dem Start der 3. Stufe der Währungsunion im Jahr 1999, der Einführung des Euro, entwickelte sich die Europäische Währungsunion, entgegen vielen Unkenrufen, zunächst sehr gut. Die Kaufkraft des Euro war und ist außerordentlich stabil. Und entgegen den Erwartungen der Skeptiker konvergierten in der Währungsunion die Zinsen der Euro-Länder – zunächst.

Die große Wende kam durch die Finanzkrise. Die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 löste eine globale Bankenkrise aus. Neben den USA und dem Vereinigten Königreich sahen sich auch einige Länder der Europäischen Währungsunion gezwungen, die Schulden maroder Banken zu übernehmen: Die staatliche Schuldenlast wuchs rasant.

Zugleich hatte die Bankenkrise die Weltwirtschaft in eine tiefe Rezession gestürzt. Wachsende Schulden bei sinkender Wirtschaftsleistung waren die Folge. Diese negative Dynamik verlief bei den einzelnen Euro-Ländern höchst unterschiedlich. Viele Finanzmarktakteure begannen nun zu zweifeln, ob die Europäische Währungsunion in der bestehenden Form weiterexistieren könne. Die Zinsen der Euro-Länder begannen zu divergieren.

Die Krisen in Griechenland und Zypern führten zu Zerreißproben im Euroraum. Um im Bild des Ankers aus dem Titel zu bleiben: Die Ankerketten waren starken Belastungsproben ausgesetzt, und uns allen war nicht klar, ob sie halten würden.

Der diesjährige Karlspreis geht an den überzeugten kämpferischen Pro-Europäer, Historiker und Publizisten Timothy Garton Ash. Er gehörte 1998 zu denen, die vor der Lokomotivtheorie warnten. Er schrieb damals: „Der perfektionistische Versuch, Europa zu schaffen oder zu vollenden, indem um dessen Kern herum eine Währungsunion errichtet wird, wird zum Gegenteil des Gewünschten führen.“

Diese Vorhersage ist bisher glücklicherweise nicht eingetroffen. Gleichwohl sind die Erfahrungen der Staatsschuldenkrise eine Tatsache, die beinahe katastrophale politische Folgen gehabt hätte. In diesem Sinn hat Timothy Garton Ash in seinen vielen publizistischen Beiträgen während der Staatsschuldenkrise immer wieder gewarnt – und zwar als politisch-historisch denkender engagierter Pro-Europäer.

3 Perspektiven der Währungsunion

Die Lage hat sich mittlerweile deutlich stabilisiert. Nicht zuletzt durch die außergewöhnlichen geldpolitischen Sondermaßnahmen des Eurosystems konnte der Druck an den Finanzmärkten gelindert werden.

Die realwirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen Monaten und Jahren ist erfreulich. Wir sehen eine deutliche realwirtschaftliche Erholung und ein Wiederanziehen der Konjunktur.

Im vergangenen Jahr verzeichneten alle Euro-Staaten – mit Ausnahme Griechenlands – positive Wachstumsraten. Die Wachstumsrate im Euroraum lag bei 1,7 Prozent. Damit wächst die Wirtschaft sogar schneller als ihr Produktionspotenzial und dieser Aufschwung zeigt sich relativ breit gefestigt.

Die wirtschaftliche Erholung im Euro-Währungsgebiet wird sich fortsetzen. Für dieses und die beiden kommenden Jahre sagen die Fachleute der EZB ein recht stabiles Wachstum von rund 1,7 Prozent voraus.

Davon profitiert auch der Arbeitsmarkt in vielen Euro-Ländern. Die Arbeitslosenquote für den gesamten Euroraum ist im Jahresverlauf 2016 um fast einen Prozentpunkt auf 9,6 Prozent zurückgegangen. Damit hat sie den niedrigsten Stand seit 2009 erreicht und liegt nur noch einen Prozentpunkt über dem Durchschnitt der Vorkrisenjahre.

Dennoch ist die Arbeitslosigkeit in einzelnen Ländern unverändert sehr hoch. Problematisch ist besonders die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Und genau für diese Generation muss Europa Alternativen und Perspektiven anbieten. Gerade für die junge Generation werden die Weichenstellungen, die heute notwendig sind, wirksam.

Im Jahr 2013 überschrieb Timothy Garton Ash einen seiner Artikel im Guardian: Recht hatte er, und in der Tat waren die Erfolge von Anti-EU-Aktivisten aus dem rechts- wie linkspopulistischen Lager bis Ende 2016 besorgniserregend.

Die jüngsten Wahlen und Volksabstimmungen in Frankreich, den Niederlanden, Italien und dem Vereinigten Königreich galten als europapolitische Richtungswahlen. In den drei Wahlen auf dem Kontinent haben sich aber die Bürger, als es darauf ankam, klar zum Projekt Europa bekannt. Dabei gibt es große Unterschiede in der Auffassung, wohin dieses Projekt Europa führen soll. Klar aber haben keine Parteien oder Bewegungen gewonnen, die eine komplette Kehrtwende heraus aus der EU oder dem Euro anstrebten.

In der öffentlichen Meinung scheint die Brexit-Entscheidung der britischen Wähler zu einer Ernüchterung geführt zu haben, im Vereinigten Königreich wie bei den Europa-Skeptikern in der Europäischen Union. Man kann nun studieren, was es in der praktischen Politik und tatsächlichen Auswirkungen heißt, der Union den Rücken zu kehren. 

Die zurückliegenden Wahlen haben in Europa zu handlungsfähigen Regierungen geführt. Es besteht Hoffnung, dass dies so weitergehen wird. Wie auch immer die bevorstehenden Bundestagswahlen ausgehen, Deutschland wird sicher ein verlässlicher pro-europäischer Akteur bleiben. Das sind gute Voraussetzungen, um die anstehenden Probleme anzugehen. 

Nun gilt es, die Zukunft der Unionen zu verhandeln, sowohl der Europäischen Union wie der Europäischen Währungsunion. Mit dem neuen französischen Präsidenten Macron gestaltet ein überzeugter Pro-Europäer die Politik des traditionell engsten Partners für Deutschland in der Europapolitik. 

Die Ideen und Auffassungen liegen auseinander, sie müssen demokratisch diskutiert werden. Entscheidend aber sind die Bereitschaft und der politische Wille, gemeinsam zu gemeinsamen Lösungen zu kommen.

Offensichtlich sind Wille und Bereitschaft in den Ländern der heutigen EU wie EWU zur weiteren Integration sehr unterschiedlich entwickelt. In der Öffentlichkeit wird deshalb viel über die Zukunftsperspektive eines „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ gesprochen. Ein Teil der Mitgliedstaaten strebt vertiefte Integration in verschiedenen Bereichen an, weniger integrationswillige Staaten beteiligen sich (zunächst) nicht an bestimmten Integrationsschritten. Im Ergebnis besitzen nicht alle Staaten immer denselben Integrationsstand, was ja auch bisher schon der Realität in Europa entspricht, etwa bei der Gemeinschaftswährung.

Dieser Weg erscheint gangbar für die EU oder den Schengen-Raum. In der Währungsunion sind mehrere Geschwindigkeiten nicht möglich. Zu stark sind die ökonomischen und strukturellen Zwänge, die wir uns alle mit der Währungsunion auferlegt haben. Eine gemeinsame Währung erlaubt keine Extras, die Grundpfeiler einer Währungsunion können keine Verhandlungssache sein. Die Herausforderungen aus den Grundentscheidungen der 1990er Jahre, wie sie im Vertrag von Maastricht festgeschrieben wurden, bleiben bestehen.

Wenn souveräne Staaten eine Währungsunion eingehen, können Einzelstaaten bis zu einem gewissen Grad die Folgen einer übermäßigen Staatsverschuldung auf die Gemeinschaft abwälzen. Zum Beispiel steigen die Zinsen, die ein stark verschuldetes Land zu zahlen hat, deutlich weniger stark, wenn es in eine Währungsunion eingebunden ist. Dafür steigt der entsprechende Zins aber für die anderen, weniger stark verschuldeten Staaten der Währungsgemeinschaft, kurzum: die Steuerzahler der weniger verschuldeten Staaten übernehmen im Resultat einen Teil der Zinslasten der stärker verschuldeten Länder, ohne dass darüber demokratisch entschieden worden wäre.   

Ich habe schon erläutert, dass diese Problematik bei der Gründung der Währungsunion bekannt war. Gegner der Lokomotivtheorie haben ja davor gewarnt. Deshalb hat die Politik bei der Euro-Einführung versucht, Sicherungsinstrumente in Stellung zu bringen: den Stabilitäts- und Wachstumspakt, die Nicht-Haftungsklausel und das Verbot der monetären Staatsfinanzierung.

Wir haben sehen können, wie diese hehren Regeln in der praktischen Politik beachtet worden sind. Man wollte Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, etwa indem man den Stabilitäts- und Wachstumspakts reformierte, um die Verschuldungsregeln verbindlicher zu machen. Zuständig aber ist wieder ein politischer Akteur, nämlich vor allem die Europäische Kommission. Sie hat den ihr nun eingeräumten Ermessensspielraum mehrfach ausgeschöpft und die Regeln gerne großzügig ausgelegt. Die Europäische Kommission steht dabei immer vor ihrem Dilemma, einerseits auf die Einhaltung der europäischen Verträge achten zu sollen, aber auch selbst ein politisch handelnder und vermittelnder Akteur zu sein. Sie ist zu Kompromissen gezwungen. 

In der Bundesbank hielten wir es für besser, wenn man die Haushaltsüberwachung der Einzelstaaten einer unabhängigen Einrichtung übertrüge. An einer politischen Kommentierung würde es deren Analysen und Entscheidungen nicht mangeln. Dann wäre aber auch die Trennung zwischen administrativer Analyse und politischer Bewertung bzw. Entscheidung institutionell nachvollziehbar.

Die Lage nach der Krise hat sich heute einigermaßen stabilisiert. In Europa war das auch die Folge des Eingreifens des Eurosystems. Es hat dafür zu einer expansiven Geldpolitik gegriffen und zudem Staatsanleihen einzelner Euro-Länder angekauft. Die EZB hat mit ihren ungewöhnlichen geldpolitischen Maßnahmen der Politik aber lediglich Zeit kaufen können. Die strukturellen Grundprobleme der Währungsunion, die zu Krise geführt haben, sind noch nicht gelöst. Das ist und bleibt Aufgabe der Parlamente und Regierungen.

4 Ausblick

Wenn die demokratisch gewählte Politik eine Währungsunion will, dann muss sie dafür sorgen, dass diese Währungsunion auf einem erfolgversprechenden Pfad bleibt und gegebenenfalls Irrwege korrigieren. Das aber ist nicht Sache der Zentralbanken, sondern der Parlamente und Regierungen. Eine Währungsunion ist nur so gut oder schlecht wie die allgemeine Politik, die sie begleitet. Sie kann für sich allein und aus sich heraus keine Integration und Kooperation erzwingen.

Das sagt nicht nur die Bundesbank seit Jahren gebetsmühlenartig. Auch der diesjährige Karlspreisträger Timothy Garton Ash weist seit 1998 wiederholt auf diesen Zusammenhang und den Primat der Politik hin. Worum es am Ende geht, hat Garton Ash im Jahr 2011 wie folgt zusammengefasst: „Nie zuvor war Europa so vereint. Nie zuvor waren mehr Europäer freier. Nie zuvor waren die meisten Länder des Kontinents Demokratien, mit gleichen Rechten zusammengeschlossen in derselben ökonomischen, politischen und sicheren Gemeinschaft.“

Manchmal vergessen wir die historische Dimension und die historischen Erfolge des Projekts Europa. Die Währungsunion ist nun einmal ein wesentliches Element dieses Projektes. Wenn man eine Währungsunion auf Dauer erfolgreich haben will, bleiben nur die beiden Wege Transferunion, also Bundesstaat, oder marktliche Union mit eingeschränkter politischer Souveränität bei freien Märkten.

Die Währungsunion war ein friedenspolitischer Anker, der in den 1990er Jahren ausgebracht wurde. Damit das Projekt nicht scheitert, müssen alle an einem Strang ziehen: Vor allem die nationalen Politiken der Mitgliedsländer dürfen diese Verpflichtungen nicht aus den Augen verlieren, und müssen diese ihren Bürgern auch erklären.