Finanzpolitische Herausforderungen im Umfeld hoher Inflation Forum Finanzpolitik und Steuerrecht

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Begrüßung

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

herzlichen Dank für die freundliche Begrüßung und für die Einladung zum Forum. Ich freue mich, heute einen Impuls geben zu können. Als Steuerberaterinnen und Steuerberater befassen Sie sich mit den Steuereinnahmen und insofern mit einem ganz wesentlichen Teil der Staatsfinanzen. Ich möchte mit Ihnen nun als Zentralbanker einen Gang durch diese Staatsfinanzen machen im Sinne des dänischen Philosophen Sören Kirkegaard, der von sich sagte, er habe sich die besten Gedanken ergangen.

Dabei werden wir auf mindestens ebenso viel Bemerkenswertes treffen, wie es beim Gang entlang der Lichtentaler Allee hier in Baden-Baden der Fall ist, diesem Gesamtkunstwerk aus Bäumen, Blumen und Baudenkmälern. Ich werde dabei auf die Wechselwirkungen zwischen Finanz- und Geldpolitik in Zeiten hoher Inflation eingehen. 

Bei diesem Spaziergang werde ich aber auch einen Blick auf die Lage der Staatsfinanzen in Deutschland werfen und auf die Rolle von Fiskalregeln. Die sind für Zentralbanken von besonderer Bedeutung. Das gilt für Deutschland. Und ganz besonders gilt es für den Euroraum, in dem 20 Regierungen souverän über ihre Finanzpolitik entscheiden, in dem aber eine Geldpolitik für stabile Preise sorgen soll. Fiskalregeln sind für solide Staatsfinanzen und für einen stabilitätsorientierten Euroraum unverzichtbar. 

2 Aktuelles Inflationsumfeld

Lassen Sie uns den Gang beginnen beim aktuellen Inflationsumfeld. Da sehen wir: Es geht in die richtige Richtung. Aber noch immer müssen die Menschen im Euroraum mit einer andauernd zu hohen Inflation zurechtkommen. Dabei ist die Inflation im Euroraum in den vergangenen zwölf Monaten bereits deutlich zurückgegangen. So betrug die am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) gemessene Inflationsrate im Oktober des vergangenen Jahres 10,6 Prozent. Dies war die höchste Rate seit Bestehen unseres Währungsraums und der Höhepunkt dieser Phase deutlich zu hoher Inflation. Zwölf Monate später liegt die HVPI-Inflationsrate laut vorläufiger Schätzung bei 2,9 Prozent.

Zu diesem Rückgang der Inflationsrate hat auch der EZB-Rat mit seinem konsequenten Handeln beigetragen. So haben wir zwischen Juli 2022 und diesem September bei jeder geldpolitischen Sitzung die Leitzinsen erhöht. Der Einlagesatz stieg von -0,5 Prozent auf nunmehr 4 Prozent. Und wir reduzieren den Umfang der Bilanz des Eurosystems – seit etwa einem Jahr ist er um etwa ein Fünftel gesunken, das sind über 1 ½ Billionen Euro. Diese konsequenten Schritte waren notwendig. Denn die hohe Inflationsrate darf sich nicht verfestigen. Dies droht insbesondere dann, wenn Unternehmen, Tarifparteien und Haushalte mit dauerhaft erhöhten Inflationsraten rechnen und ihr Verhalten daran ausrichten.

Aber noch immer ist die Inflationsrate zu hoch. Die Prognosen zeigen einen nur langsamen Rückgang hin zum Zielwert von 2 Prozent. Und die Unsicherheit ist weiterhin groß. Im EZB-Rat sind wir fest entschlossen, Preisstabilität herzustellen, die Inflationsrate also bald wieder auf 2 Prozent zu senken. Dafür werden die Leitzinsen ausreichend lange auf einem ausreichend hohen Niveau liegen müssen.

3 Bedeutung von Preisstabilität für Fiskalpolitik

Meine Damen und Herren, schon Ludwig Erhard wies darauf hin, wie wichtig Preisstabilität für eine prosperierende Volkswirtschaft ist. Kurz und bündig sagte er: „Die soziale Marktwirtschaft ist ohne eine konsequente Politik der Preisstabilität nicht denkbar“.[1] Denn nur bei Preisstabilität signalisieren die Preise die Knappheit von Gütern transparent und unverzerrt. Stark nachgefragte Güter steigen im Preis. Das liefert den Herstellern Anreize, mehr davon bereitzustellen. So lenkt der Marktmechanismus und fördert den Wohlstand. Inflation hingegen schafft Unsicherheit und schwächt die gesamtwirtschaftliche Wachstumsperspektive.[2] Inflation bedeutet zudem ungeordnete Umverteilung. Sie kann zu erheblichen sozialen Problemen führen. Denn sie trifft gerade die am härtesten, die ohnehin mit wenig Geld zurechtkommen müssen. Auch insofern ist Preisstabilität im besten Interesse der Bürgerinnen und Bürger. 

Dennoch heißt es mitunter, mit höherer Inflation könne der Staat den Weg zur Schuldenbewältigung abkürzen. Er könne die Last ohne große Sparanstrengungen hinter sich lassen. Aber die Idee, Schulden „wegzuinflationieren“, greift zu kurz. Denn weiterhin muss die Last ja getragen werden, und zwar von den Bürgerinnen und Bürgern. Die Konsolidierung hat jetzt nur einen anderen Namen. Nicht mehr „Steuern rauf“ oder „Staatsausgaben runter“, sondern „Inflation“.

Dabei hat es in einem kurzen Zeitfenster vielleicht noch den Anschein, als gelinge die Entlastung über Inflation. Denn mit ihr steigen die Steuereinnahmen recht unmittelbar. Denken Sie beispielsweise an die Mehrwertsteuer: Steigt mit den Preisen der nominale private Konsum, steigen auch die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer. So sinken zunächst die staatlichen Defizite. Denn häufig bleibt das Ausgabenwachstum erst einmal geringer, etwa die staatlichen Personalausgaben und die Sozialleistungen. Auch eine aktuelle Studie der EZB macht darauf aufmerksam. Sie weist jedoch auch darauf hin, dass der Effekt von Land zu Land deutlich unterschiedlich sein kann. Und dass der kurzfristig vorteilhafte Effekt bei einer importierten Inflation tendenziell geringer ist.[3]

Was für die Staatsfinanzen außerdem günstig ist, sind die zunächst nur langsam steigenden Zinsausgaben. Denn die Schulden sind in der Regel vor allem in mittel- und langfristigen Titeln aufgenommen – mit fest vereinbarten Zinssätzen. Das heißt, die Gläubiger werden zunächst nicht für die Inflation kompensiert, und die Schulden werden damit real entwertet. Das wird übrigens auch als Inflationssteuer bezeichnet.

Nach und nach schlägt sich dann aber das steigende Preisniveau bei den staatlichen Ausgaben nieder: beispielsweise steigen zeitverzögert die Renten, wenn sie nachträglich an die allgemeine Lohnentwicklung angepasst werden. Und es steigen die Zinsausgaben. Denn Marktteilnehmende verlangen höhere, an die Inflation angepasste Zinssätze – als Kompensation für den realen Wertverlust. Verschuldete Staaten werden daher ihre auslaufenden Anleihen nach und nach teurer refinanzieren müssen: mit neuen, höher verzinsten Anleihen, die zudem länger im System bleiben. Je weniger auf Preisstabilität vertraut wird, umso höhere Zinsaufschläge werden wegen des Inflationsrisikos verlangt. Bis das Vertrauen wiederhergestellt ist, wird der Staat damit besonders hohe Realzinsen zahlen. Und auch ein später potenziell wieder niedriges Zinsniveau kommt nur langsam in den Schuldenständen an. Das dicke Ende kommt für den Staat also zum Schluss. Zudem läuft bei hoher Inflation die reale gesamtwirtschaftliche Entwicklung tendenziell schwächer. Dies belastet natürlich wiederum die Staatsfinanzen.

Deutlich wird: Die höhere Inflation schlägt für den Staat mit Verzögerung schwer ins Kontor. So stellte auch der US-amerikanische Ökonom Barry Eichengreen bei der diesjährigen Zentralbankkonferenz in Jackson Hole fest, dass eine akzeptable Inflation höchstens vorübergehend die Schuldenquote senkt. [4] Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) befasste sich aktuell mit dieser Frage und kommt zu dem Ergebnis, dass zwar eine Überraschungsinflation den verschuldeten Fiskus entlaste. Sobald aber alle Beteiligte und die Zentralbank ihr Handeln an der erwarteten Inflation ausrichten, vergrößert die Inflation den fiskalischen Spielraum nicht. Insofern schlussfolgert der IWF: Schulden wegzuinflationieren „ist weder eine wünschenswerte noch eine nachhaltige Strategie“. [5]

Die Bürgerinnen und Bürger sollen auf stabile Preise vertrauen können. Und der Staat hat versprochen, dass er den Weg über die Inflationssteuer nicht gehen wird. Dafür haben die europäischen Staaten dem Eurosystem als Zentralbank ein klares Mandat gegeben – und auch Unabhängigkeit. So können wir unser Mandat jenseits von kurzfristigem politischem Druck erfüllen. 

4 Bedeutung der Fiskalpolitik für Inflation

Aber lassen Sie uns unseren Spaziergang entlang den Wechselwirkungen zwischen Geld- und Fiskalpolitik fortsetzen. Ich möchte mit Ihnen entlang der Allee zur nächsten Baumgruppe gehen, nämlich zur Frage: Wie sieht es umgekehrt aus? Beeinflusst nicht nur die Geldpolitik die Fiskalpolitik, sondern gibt es auch eine umgekehrte Wirkung? Beeinflusst die Fiskalpolitik ebenfalls die Inflationsrate und die Geldpolitik? Meine kurze Antwort lautet: ja. Für die etwas ausführlichere Antwort unterscheide ich zwei Situationen. 

Erstens: unsolide Staatsfinanzen. Sie sind eine Gefahr für die Preisstabilität. Denn bei hohen Schuldenquoten könnten die Menschen das Vertrauen darin verlieren, dass die Last ohne Inflationssteuer noch zu stemmen ist. Die Inflationserwartungen und daher die Inflation selbst könnten deshalb steigen. Und die Finanzpolitik könnte die Geldpolitik unter Druck setzen, mit Rücksicht auf die Staatsfinanzen die Zinsen nicht so stark anzuheben, wie es geldpolitisch eigentlich nötig ist, also hohe Inflation zuzulassen. Damit es nicht zu einer solchen Situation kommt, sind Zentralbankerinnen und Zentralbanker so sehr an soliden Staatsfinanzen interessiert. Und deswegen sind wir auch so vehemente Befürworter von Fiskalregeln. 

Die zweite Situation betrifft eine expansive Fiskalpolitik, die die Nachfrage und die Konjunktur so stark anschiebt, dass die Inflation verstärkt wird. Bei niedriger Inflation muss das nicht schädlich sein, im Gegenteil, es kann der Geldpolitik helfen. Bei der aktuell hohen Inflation aber macht ein solcher expansiver Fiskalkurs der Geldpolitik das Leben schwerer – auch bei an sich soliden Staatsfinanzen. 

Aus beiden Gründen hat der Internationale Währungsfonds der Finanzpolitik jüngst zu Recht empfohlen, die häufig sehr hohen Defizite zurückzuführen.[6] In der aktuellen Situation können so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Zum einen würde das Vertrauen in die Solidität der Staatsfinanzen gestärkt. Zum anderen würde Druck aus dem Kessel der hohen Inflation gelassen. Dabei kann die Fiskalpolitik trotzdem Hilfsbedürftige schützen. Und zwar, indem sie dabei gezielter vorgeht und dies gegenüber anderen Ausgaben priorisiert, wie der IWF schreibt.[7] 

5 Zu den deutschen Staatsfinanzen

Lassen Sie unseren Gang nun für einen kurzen Schlenker über die deutschen Staatsfinanzen nutzen. Die deutschen Staatsfinanzen waren im Jahr 2019, also unmittelbar vor der Coronakrise, sehr gut aufgestellt: Der Staat erzielte einen deutlichen Überschuss; die Schuldenquote lag zum Jahresende unter dem Maastricht-Referenzwert von 60 Prozent.

Seit dem Jahr 2020 unterstützt der Staat Unternehmen und private Haushalte mit umfangreichen Maßnahmen dabei, durch die Pandemie und die Energiekrise zu kommen. Entsprechend verzeichnete er seitdem erhebliche Defizite, und die Schuldenquote stieg zwischenzeitlich auf fast 70 Prozent. Ich halte umfangreiche Stützungsmaßnahmen in einer Krise für richtig und wichtig. Die konkret ergriffenen Maßnahmen hätten wohl zielgerichteter ausfallen können. Gleichzeitig ist gerade in solchen Ausnahmesituationen Eile geboten und der Handlungsdruck hoch.

Mittlerweile erholen sich die Staatsfinanzen aber wieder. Dies lag zum guten Teil an stark steigenden Steuereinnahmen. Seit dem Jahr 2022 laufen außerdem die Corona-bedingten staatlichen Stützungsmaßnahmen aus. Und ab dem kommenden Jahr sinkt auch das Volumen der Hilfen angesichts der Energiekrise. Für das kommende Jahr erwarten wir als Bundesbank daher, dass das gesamtstaatliche Defizit gemessen an der Wirtschaftsleistung auf eine Größenordnung von 1 ½ Prozent fällt. 

Auch mittelfristig sind derzeit Defizite in dieser Größenordnung angelegt. Dies sind vergleichsweise moderate Defizite. Sie bedeuten, dass die Schulden relativ zur Wirtschaftsleistung kontinuierlich fallen werden. Die aktuelle fiskalische Situation in Deutschland ist insofern solide. Auch im Vergleich zu manchen anderen Ländern des Euroraums macht sie mir mit Blick auf die Geldpolitik keine akuten Sorgen. Allerdings dürfen wir nicht übersehen, dass auf die deutschen Staatsfinanzen mit der Demografie und dem Klimawandel große Herausforderungen zukommen. 

Im Übrigen muss sich auch der deutsche Staat darauf einstellen, dass die Zinslast steigt. Das ist durchaus Grund zur Vorsicht, aber nicht zur Panik. So steigen die gesamtstaatlichen Zinsausgaben in Relation zur Wirtschaftsleistung deutlich, aber ausgehend von einem historisch sehr niedrigen Niveau. Beim Bund stellt sich die Lage auf den ersten Blick dramatisch dar. Hier steigen die Zinsausgaben erheblich: von ihrem Tiefpunkt von 4 Milliarden Euro im Jahr 2021 auf einen Spitzenwert von fast 40 Milliarden Euro im laufenden Haushalt. Aber das liegt zum weit überwiegenden Teil daran, dass der Bund die Zinsausgaben nicht periodengerecht verbucht, wenn es zu Agien und Disagien kommt. 

Lassen Sie mich das kurz erläutern. Einen Agio zahlt der Käufer einer Anleihe, wenn der Kupon der Anleihe über dem Marktzins liegt. Diese Differenz wird mit einem Aufschlag auf den Rückzahlungspreis der Anleihe ausgeglichen. Nun rentierten Bundesanleihen im Niedrigzinsumfeld teilweise negativ. Die Kuponzahlungen aber waren positiv. So fielen bei der Emission beachtliche Agien an. Diese werden im Bundeshaushalt sofort in voller Höhe erfasst. Sie reduzieren insofern die insgesamt im Haushalt verbuchten Zinsausgaben. Über die Laufzeit der staatlichen Anleihen aber werden die „teuren“ Nominalzinsen verbucht, die der Fiskus zahlt. Diese nicht periodengerechte Verbuchung führt gerade bei einer Zinswende zu erheblichen Ausschlägen bei den Zinsausgaben. Und damit sind die tatsächlichen ökonomischen Zinslasten schwer zu erkennen.

Bei einem periodengerechten Ansatz würde sich die Entwicklung der Zinsausgaben des Bundes deutlich moderater darstellen: Vom Anstieg der Zinsausgaben zwischen 2021 und 2023 um 36 Milliarden Euro entfallen fast 27 Milliarden Euro auf den Umschwung von Agien zu Disagien bei der Emission von Wertpapieren. Mir geht es hier sicherlich nicht darum, die Entwicklung schön zu reden. Als Zentralbanker bin ich da wirklich unverdächtig. Aber wir setzen uns als Bundesbank dafür ein, dass die Zinsausgaben im Bundeshaushalt periodengerecht verbucht werden. Das ist ökonomisch sachgerecht und trägt zur Transparenz bei. [8]

Transparenz ist im Übrigen ein generelles Thema, das uns im Hinblick auf die Staatsfinanzen in Deutschland am Herzen liegt. Derzeit leidet die Transparenz gravierend unter den vielen und gewichtigen Extrahaushalten. Diese Extrahaushalte werden bei Bund und Ländern seit 2020 zunehmend genutzt. Sie wurden etwa zur Stabilisierung in der Corona- und der Energiekrise geschaffen, sowie für die Finanzierung von Klimamaßnahmen, Fluthilfen und der Bundeswehr. In einem Monatsberichtsaufsatz der Bundesbank füllt eine Übersicht für die 26 wichtigsten Extrahaushalte des Bundes 3 ½ Seiten.[9] 

In den Extrahaushalten wird nun ein großer Teil der fiskalischen Defizite verbucht. Dies wird in der Öffentlichkeit oft übersehen. So plante der Bund, für das laufende Jahr die Schuldenbremse einzuhalten. Bei den Extrahaushalten sah er aber ein Defizit von 145 Milliarden Euro vor. Das sind 3 ½ Prozent der Wirtschaftsleistung. Und damit mehr als zehnmal so viel wie die reguläre Obergrenze für die strukturelle Nettokreditaufnahme im Kernhaushalt. Diese liegt für 2023 bei 12,6 Milliarden Euro. 

Der Kernhaushalt verliert damit zunehmend an Aussagekraft. Die Musik spielt an anderer Stelle. Die Staatsfinanzen lassen sich dadurch immer schwerer überblicken. Und auch die Haushaltsregeln werden immer komplizierter oder drohen gar ins Leere zu laufen. Bei den Ländern beobachten wir teils ähnliche Entwicklungen. Wir setzen uns daher dafür ein, die Haushaltsaktivitäten wieder stärker in den Kernhaushalten zu konzentrieren und die Transparenz der Finanzen von Bund und Ländern deutlich zu erhöhen.

6 Bedeutung von Fiskalregeln

Meine Damen und Herren, als Zentralbanker setze ich mich stets für stringente Fiskalregeln ein. Denn die positiven Wirkungen von bindenden Fiskalregeln stehen für mich außer Frage. Schließlich wurde auch dank der Schuldenbremse der Trend einer stetig steigenden Schuldenquote in Deutschland gebremst und umgekehrt. So wurden die Staatsfinanzen wieder solide. Und Deutschland war in der Corona- und auch in der Energiekrise handlungsfähig. 

Allerdings wurde die Schuldenbremse zuletzt eher weit interpretiert. Über die Ausnahmeklausel sollen Ausgaben weit nach der Notlage finanziert werden. Dazu fließen nicht sofort benötigte Kredite in Reserven. Damit die Schuldengrenze auch künftig solide Staatsfinanzen absichert, sollte ihre Bindungswirkung gestärkt werden. Insbesondere wäre aus meiner Sicht wichtig, dass Ausnahmeklauseln für Notlagen eng begrenzt bleiben. Sie sollten nicht dazu genutzt werden, weit über die Krise hinaus künftige Haushalte zu finanzieren. Dabei sehe ich durchaus, dass die deutsche Schuldenbremse in ihrer Grundausrichtung sehr strikt ist. Und gerade wenn niedrige Schuldenquoten erreicht sind, hielte ich es für vertretbar, die Regeln moderat zu lockern. Als Bundesbank haben wir dazu stabilitätsorientierte Reformoptionen vorgelegt.[10] 

Geeignete Fiskalregeln sind auch für den Euroraum unverzichtbar. Hier brauchen wir fiskalische Grenzen, um die Geldpolitik zu schützen. Insofern ergänzen sich nationale und europäische Regeln. Und damit setzen wir unseren Spaziergang fort zu jener Baumgruppe, bei der verschiedene Pflanzen ein Ganzes bilden – so wie sich auch das europäische Bild darstellt.

Meine Damen und Herren, es ist Ihnen sicherlich bekannt, dass derzeit in Europa eine Reform der Fiskalregeln diskutiert wird. Die europäische Kommission hat einen Reformvorschlag vorgelegt. Und die Mitgliedstaaten wollen sich möglichst bis Jahresende einigen. Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission ist allerdings nicht verheißungsvoll. 

Darin enthalten sind extrem komplexe Berechnungen, weitreichende Annahmen sowie Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten über individuelle Anpassungspläne. Ein verlässlicher Schuldenabbau war für mich dabei nicht ersichtlich. Ich begrüße daher, dass sich die Bundesregierung für eine ambitioniertere Ausrichtung einsetzt. 

Derzeit findet eine intensive Diskussion zwischen den Finanzministern statt. Details zum Diskussionsstand sind zwar noch nicht bekannt. Aber es zeichnen sich deutliche Verbesserungen gegenüber dem Kommissionsvorschlag ab. So sind wohl einige konkrete Mindestanforderungen für die Ausgabenpläne von Mitgliedstaaten vorgesehen. Das Ziel, hohe Schuldenquoten zu reduzieren, wird damit nachdrücklicher verfolgt als noch im Kommissionsvorschlag. Das ist erfreulich, auch wenn der Teufel im Detail steckt. Auf die genauen Werte muss man sich erst noch einigen.

Für eine erfolgreiche Reform sind aus meiner Sicht drei weitere Aspekte von großer Bedeutung. Erstens: Pläne und Vorgaben müssten besser umgesetzt werden als bisher. Das betrifft die Mitgliedstaaten, aber auch die Kommission, die im Zentrum der Überwachung steht. Zweitens: Es sollte sichergestellt sein, dass hohe strukturelle Defizite und Schuldenquoten verlässlich sinken. Sinken sie nicht, sollte das nicht damit entschuldbar sein, dass zu optimistische Ausgabenpläne eingehalten wurden. Drittens: Bei wichtigen Entscheidungen darf es nicht zu viel Ermessensspielraum geben. Es sollte etwa verlässlich und nachvollziehbar sein, ob ein Verfahren eröffnet oder verschärft werden soll oder nicht. 

Noch sehe ich diese Aspekte nicht berücksichtigt. Aber warten wir ab, was konkret herauskommt und wie es dann letztlich umgesetzt wird. Ich wünsche mir jedenfalls, dass die Fiskalpolitik am Ende verlässlich an einen soliden Kurs gebunden wird.

Solide Staatsfinanzen sind wichtig, um die Krisenresilienz der Länder zu stärken. Und solide Staatsfinanzen sind kein Gegensatz zu einer gesunden gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Sie sind vielmehr eine wichtige Voraussetzung dafür. Sie erleichtern die Geldpolitik. Und sie machen die Währungsunion stabiler. Im Interesse der Währungsunion hoffe ich also auf gutes Gelingen!

7 Schluss

Meine Damen und Herren, für einen Spaziergang sind 30 Minuten meiner Erfahrung nach angenehm. Ist er länger, kann er leicht zu einem Marsch werden, den wir für heute nicht geplant hatten. So will ich unseren Gang mit diesem Blick auf die letzte Baumgruppe beenden. Wie an der Lichtentaler Allee haben wir auf unserem Weg Gebots- und Verbotsschilder gesehen: Fiskalregeln für Deutschland und für Europa. Sie sollen klar, transparent und eindeutig sein, keinen Interpretationsspielraum lassen und die Regierungen und Parlamente binden. Wenn sie so und dazu noch mit geeigneten Werten ausgestaltet sind, dann sichern sie solide Staatsfinanzen ab. 

So werden Zielkonflikte zwischen Geld- und Fiskalpolitik vermieden. Es wird eine Basis für eine prosperierende Volkswirtschaft gelegt. Und Staaten sind auch in der nächsten Krise handlungsfähig. Dann stehen wir auf einem soliden Fundament und sind für kommende Herausforderungen gut gerüstet. Das schätzen Sie als Steuerberaterinnen und Steuerberater vermutlich genauso wie ich als Bundesbankpräsident. 

Und deswegen können wir am Ende der Lichtentaler Allee den Spaziergang gemeinsam mit diesem Ausblick auf eine gut gedeihende wirtschaftliche Entwicklung beschließen, die uns allen zu Gute kommt. 
 

Fußnoten:

  1. Erhard, L. (1964), Wohlstand für Alle, 8. Aufl., Düsseldorf, Wien, S. 15.
  2. Vgl. Neumann, M. (1998), Geldwertstabilität – Bedrohung und Bewährung, in: Bredemeier, S., 50 Jahre Deutsche Mark, S. 309.
  3.  Bańkowski, K. / C. Checherita-Westphal / J. Jesionek / P. Muggenthaler (2023), The Effects of High Inflation on Public Finances in the Euro Area, ECB Occasional Paper No. 2023/332, S. 32.
  4. Arslanalp, S. und B. Eichengreen (2023), Living with High Public Debt, Jackson Hole Symposium, August 2023, S. 25.
  5. International Monetary Fund, Fiscal Monitor, April 2023, S. 29.
  6. International Monetary Fund, Fiscal Monitor, April 2023, S. 17.
  7. International Monetary Fund, Fiscal Monitor, April 2023, S. 40.
  8. Deutsche Bundesbank (2021), Bundesschulden: Bei Zinsausgaben Agien periodengerecht verbuchen, Monatsbericht Juni 2021, S. 49 – 53.
  9. Deutsche Bundesbank (2023), Zur zunehmenden Bedeutung der Extrahaushalte des Bundes, in: Monatsbericht Juni 2023, S. 63 – 82.
  10. Deutsche Bundesbank (2022), Die Schuldenbremse des Bundes: Möglichkeiten einer stabilitätsorientierten Weiterentwicklung, Monatsbericht April 2022, S. 53 – 70.