Festrede anlässlich der Verabschiedung von Prof. Edgar Bohn Verabschiedung von Prof. Edgar Bohn, Vorstandsvorsitzender des Badischen Gemeinde-Versicherungs-Verbands (BGV)

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Beruf und Berufung

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich freue mich sehr, bei Ihnen zu sein. Natürlich bin ich auch immer wieder gern in meiner Heimatstadt Karlsruhe. Ich fühle mich der Region und den Menschen hier verbunden.

Abschiede aus dem Versicherungsgewerbe gestalten sich nicht immer so feierlich wie hier und heute. Vor 130 Jahren kehrte ein junger Volontär der Süddeutschen Feuerversicherungsbank den Rücken – nach nur fünf Monaten Anstellung. Manche Quellen sagen, ihm wurde gekündigt. Er selbst notierte dazu: Ich verließ das Bureau, bevor man mich hinauswarf. Ganz unschuldig wäre er daran wohl nicht gewesen, denn er gab später zu: Statt mich in die Geschäfte einzuarbeiten, hielt ich es für gut, auf meinem Drehsessel verstohlenerweise an einer erdichteten Erzählung zu schreiben.[1]

Er blieb beim Schreiben. Dennoch scheint die kurze Episode Eindruck hinterlassen zu haben. Jedenfalls tauchte die Versicherungsbranche später mehrfach in seinen Werken auf, zuallererst in den Buddenbrooks. Und damit ist auch klar, wen ich meine: Thomas Mann.

Lieber Edgar Bohn, wenn Sie sich nun nach 35 Jahren vom BGV verabschieden, darf man wohl behaupten: Für Sie war die Arbeit im Versicherungswesen nicht nur Beruf, sondern wurde auch Berufung. Davon zeugt Ihr steiler Karriereweg. Sie haben als juristischer Schadensregulierer angefangen und sich bis zum Vorstandsvorsitzenden hochgearbeitet. Aber auch Ihr langjähriges Wirken als Hochschuldozent für das Fach Versicherung/Haftpflicht belegt Ihre enge Verbundenheit mit der Materie. Ihr Engagement für die Duale Hochschule Baden-Württemberg werde ich gleich noch würdigen. 

Als Jurist betrachtete Edgar Bohn die Versicherungswirtschaft besonders aus der rechtlichen Perspektive. Als Makroökonom und Zentralbanker habe ich die gesamtwirtschaftliche Brille auf. Welche Rolle Versicherer in der Volkswirtschaft spielen, wird daher mein erstes Thema sein. 

2 Rolle von Versicherern in der Volkswirtschaft

Versicherer übernehmen mehrere Funktionen. Am wichtigsten ist ihre Schutzfunktion: Personen und Unternehmen können sich gegen Risiken absichern. Ein Versicherungsschutz ändert natürlich nichts daran, dass Schadensfälle eintreten können. Unfälle, Naturkatastrophen, Krankheiten, Diebstahl – all das kann auch mit Versicherung passieren. Aber die finanziellen Auswirkungen müssen nicht alleine getragen werden. 

Das nützt der wirtschaftlichen Entwicklung dreifach: Erstens ermöglichen es Versicherungen, im Einklang mit der persönlichen Risikoneigung wirtschaftlich zu handeln. Denken Sie im Privaten zum Beispiel an ein günstiges Reiseangebot für den kommenden Sommer. Oder Sie haben eine spannende Geschäftsidee, mit der Sie sich selbstständig machen könnten. Mit solchen Chancen sind auch Risiken verbunden: Vielleicht wird man krank und kann die Reise nicht antreten. Vielleicht entsteht einem Kunden ein hoher finanzieller Schaden. Risikofreudige mögen denken: Ich ergreife die Chance auf jeden Fall, das Risiko nehme ich in Kauf. Aber eher risikoscheue Menschen werden womöglich davon Abstand nehmen – es sei denn, sie können sich gegen diese Risiken absichern. Hier können Versicherungen helfen, der individuellen Risikopräferenz gerecht zu werden, ohne Chancen links liegen lassen zu müssen. Unsere Wirtschaft profitiert von einem dynamischeren und kreativeren Umfeld, in dem möglichst viele Menschen sich trauen, ihre Ideen umzusetzen.

Zweitens ermöglichen es Versicherungen Menschen und Unternehmen, sich auf ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren. Für jedes Risiko selbst Vorsorge zu betreiben, bindet knappe Ressourcen wie Zeit und Geld. Zumal die Stärken üblicherweise woanders liegen. Eine Bäckerei ist gut darin, Brot zu backen. Aber ist sie auch gut darin, sich mit Haftungsfragen auseinanderzusetzen, falls ein Kunde im Laden stolpert und sich verletzt? Der Risikotransfer auf Versicherer erlaubt daher mehr Fokus auf das eigene Kerngeschäft. So werden Ressourcen frei und können gezielt dorthin fließen, wo sie am meisten Wert schaffen. Also zum Beispiel in neue Rezepte, die Anschaffung energiesparender Backöfen oder die freundliche Bedienung der Kundinnen.

Drittens steigert der Risikoausgleich in der Gemeinschaft der Versicherten die finanzielle Planbarkeit. Die Belastung durch Prämien ist berechenbarer, als wenn man das Risiko alleine trägt. Individuell ist es schwer zu kalkulieren, wie hoch eigene Rücklagen ausfallen müssten. Wer auf Nummer sichergehen will, baut vielleicht noch Sicherheitspuffer ein. Das würde aber mehr Kapital binden und damit die finanziellen Spielräume weiter einengen. Und selbst dann bleibt ein Restrisiko bestehen, dass im Schadensfall die eigenen Rücklagen nicht ausreichen. Versicherungen reduzieren finanzielle Unsicherheiten und ermöglichen es, genauer zu planen. Beides ist wichtig für viele Entscheidungen im Wirtschaftsleben: Seien es große Anschaffungen von privaten Haushalten oder Investitionen von Unternehmen. 

Die drei Aspekte verdeutlichen: Ein funktionierender Versicherungssektor kann auf verschiedenen Wegen das Wirtschaftswachstum fördern.[2] Versicherungen spielen auch eine Rolle bei der Lenkung von Verhalten und der Minderung von Informationsasymmetrien. So wird etwa durch Schadenfreiheitsrabatte ein verantwortungsvolles Verhalten belohnt. Und Datenanalysen können helfen, ein besseres Verständnis über bestimmte Risiken zu entwickeln.

Darüber hinaus nützt die Expertise der Versicherer im Risikomanagement nicht nur den Versicherten. Sie kann auch insgesamt zu einer angemessenen Bepreisung von Risiken beitragen, etwa im Finanzsystem. Die Rolle der Versicherer im Finanzsystem reicht noch sehr viel weiter: Sie sammeln Sparkapital an, finanzieren Unternehmen und handeln als Vermögensverwalter. Auch damit übernehmen sie wichtige Funktionen in der Volkswirtschaft. 

Um die Dimension klar zu machen, zwei Zahlen: Das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland besteht zu rund 28 Prozent aus Ansprüchen gegenüber Versicherungen.[3] Zudem halten Versicherer und Pensionseinrichtungen etwa 14 Prozent der finanziellen Aktiva des deutschen Finanzsystems. 

Versicherer und Pensionseinrichtungen gehören zu den Finanzintermediären außerhalb des Bankensektors, wie etwa auch Investmentfonds. Seit der globalen Finanzkrise ist dieser Bereich deutlich gewachsen. Zusammen halten sie rund 40 Prozent der finanziellen Aktiva des deutschen Finanzsystems. Das ist ein Anstieg um 15 Prozentpunkte seit 2009.[4] 

Als langfristig orientierte Investoren können Versicherer zur Stabilität der Finanzmärkte beitragen, gerade in Stressphasen. Aufgrund ihrer lang laufenden Verbindlichkeiten können Lebensversicherer kurzfristige Wertschwankungen im Normalfall ignorieren und antizyklisch investieren.[5] Dies dämpft Schocks im Finanzsystem und trägt so zur Resilienz bei. Unsere Analysen zeigen jedoch auch: Seit dem Zinsanstieg 2022 hat sich das Potenzial für stabilisierendes Verhalten verringert. Grund dafür sind stille Lasten in den Bilanzen der Versicherer.[6]

Ihr langer Atem macht sie auch zu Partnern der Unternehmen im Strukturwandel. Denn auf dem Weg zu einer klimaneutralen und stärker digitalisierten Wirtschaft sind Investitionen entscheidend. Versicherer sind hier als langfristige Kapitalgeber und versierte Risikomanager gefragt. 

Damit sie ihr volles Potenzial ausschöpfen können, sollten wir den europäischen Binnenmarkt vollenden. Derzeit sind erst knapp 12 Prozent des europäischen Versicherungsgeschäfts grenzüberschreitend.[7] In einer echten Spar- und Investitionsunion wären Versicherer wichtige Player – als Anbieter von Produkten wie auch als institutionelle Anleger. Ich bin davon überzeugt: Wenn wir die nationalen Grenzen im europäischen Finanzsystem überwinden, würden wir damit bei ihnen offene Türen einrennen. 

3 Gesellschaftliches Engagement

Meine Damen und Herren, 

wir haben gemeinsam auf das berufliche Herzensthema von Edgar Bohn geblickt – wenn auch aus einem etwas anderen Blickwinkel als üblich. 

Man würde aber Ihnen, lieber Edgar Bohn, nicht gerecht werden, würde man Sie auf Ihr Berufsleben reduzieren. Ihr vielfältiges gesellschaftliches Engagement ist beeindruckend. Dabei sticht Ihr Einsatz für die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) heraus. 

Seit inzwischen 25 Jahren sind Sie als Lehrbeauftragter an der DHBW Karlsruhe tätig. Außerdem haben Sie sich als Vorsitzender des Fördervereins und des Örtlichen Hochschulrats um die DHBW Karlsruhe verdient gemacht. 2008 wurden Sie zum Honorarprofessor ernannt. 2022 erhielten Sie als Anerkennung für Ihre herausragenden und langjährigen Dienste die höchste Ehrung der DHBW, die Ehrensenatorwürde.

Das Engagement für die DHBW Karlsruhe verbindet uns. Es hat mir immer Spaß gemacht, bei meinen Vorlesungen und Seminaren mit den Studierenden ins Gespräch zu kommen, über die Themen zu diskutieren, andere Sichtweisen zu hören. 

Lieber Edgar Bohn, Sie sagten einmal: Wenn es die Duale Hochschule nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Ich füge gerne hinzu: Gut, dass es sie gibt! 

2024 feiern wir 50 Jahre duales Studium – eine echte Erfolgsgeschichte. Was 1974 als innovatives Bildungskonzept mit dem Modellversuch „Berufsakademie“ begann, ist heute die größte Hochschule Baden-Württembergs. 32 Tausend Menschen studieren an neun Standorten und drei Campus. Was sich in all den Jahren nicht geändert hat, ist die Vision, das Beste aus zwei Welten zu verbinden: eine enge Kooperation zwischen Hochschule und Unternehmen, die Theorie und Praxis zusammenführt.

Lieber Edgar Bohn, nun steht bei Ihnen der Ruhestand vor der Tür. Aber allzu ruhig wird es wohl nicht werden. Dafür dürfte zum Beispiel Ihre Leidenschaft für den Fußball sorgen: Zwar nicht mehr wie früher als Spieler, zeitweise sogar in der Landesliga, dafür heute als Präsident des VfB Bühl und regelmäßig im Stadion des KSC oder des SC Freiburg. Es mag den einen oder die andere hier überraschen, aber Ihr Herz schlägt vor allem für den 1. FC Köln.

In Bühl unterstützen Sie auch den Verein Lebenshilfe, der sich für Menschen mit Behinderung einsetzt. Außerdem sind Sie dem Naturpark Schwarzwald Mitte/Nord verbunden: Als Förderer und als Wanderer. Auf den Wanderstrecken dort kann man Ihnen künftig vielleicht häufiger begegnen. Oder auf Rockkonzerten. Einer Zeitung sagten Sie einmal: Ich war in Bühl der erste Genesis-Fan, und schwärmten von einem Konzertbesuch bei Deep Purple.

Gegen das Risiko von Langeweile im Ruhestand scheinen Sie sich jedenfalls bestens versichert zu haben. Was immer Sie sich für Ihren neuen Lebensabschnitt vornehmen: Ich wünsche Ihnen dabei viel Freude und von Herzen alles Gute!

  1. Koch, P. (2015), Beiträge zur Geschichte des deutschen Versicherungswesens: zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Peter Koch. Auszüge aus der Versicherungswirtschaft 2005 bis heute, VVW Verlag Versicherungswirtschaft.
  2. Apergis, N. und T. Poufinas (2020), The role of insurance growth in economic growth: Fresh evidence from a panel of OECD countries, North American Journal of Economics and Finance, Vol 53; Arena, M. (2008), Does Insurance Market Activity Promote Economic Growth? A Cross-Country Study for Industrialized and Developing Countries, The Journal of Risk and Insurance, Vol 75 (4), S. 921‑946.
  3.  https://www.bundesbank.de/de/presse/pressenotizen/geldvermoegensbildung-und-aussenfinanzierung-in-deutschland-im-zweiten-quartal-2024-942272
  4. Deutsche Bundesbank, Finanzstabilitätsbericht 2024.
  5. Timmer, Y. (2018), Cyclical investment behavior across financial institutions, Journal of Financial Economics, Vol 129 (2), S. 268‑286.
  6. Deutsche Bundesbank, Finanzstabilitätsbericht 2024.
  7.  https://www.eiopa.europa.eu/how-european-insurers-and-pension-funds-can-contribute-further-strengthen-capital-markets-union-2024-04-25_en