Ein stabiler Euro in einem starken Europa Karl Otto Pöhl Lecture bei der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

herzlichen Dank für die Einladung. Es ist mir eine große Freude, heute bei Ihnen zu sein, und eine große Ehre, die Karl Otto Pöhl Lecture zu halten.

Ich gratuliere Ihnen zu dieser Vortragsreihe. Vor neun Jahren feierte sie ihre Premiere in der Bundesbank-Hauptverwaltung in Hessen an der Taunusanlage. Seither haben verschiedene Persönlichkeiten ihre Sicht auf die Währungsunion präsentiert. Zwei werden uns in meiner Rede noch begegnen.

Bleiben wir aber zunächst beim Namensgeber: Karl Otto Pöhl. Am 30. Mai 1990 sprach er als Präsident der Bundesbank vor der Frankfurter Gesellschaft, vielleicht sogar genau hier, an diesem Pult.[1]

Es waren bewegte Zeiten: Die deutsch-deutsche Währungsunion war gerade beschlossen worden und musste binnen weniger Wochen umgesetzt werden. Zugleich hatte der Delors-Bericht den Übergang in eine Europäische Wirtschafts- und Währungsunion skizziert. Ihre erste Stufe trat am 1. Juli 1990 in Kraft. Die F.A.Z. schrieb damals, die Bundesbank stehe vor zwei beispiellosen historischen Herausforderungen.

Wie es seine Art war, scheute Karl Otto Pöhl weder Herausforderungen noch klare Worte. Er erklärte in aller Deutlichkeit, wo die Schwierigkeiten und Fallstricke der beiden Währungsunionen lagen. Zugleich ließ er keinen Zweifel daran, dass er sich mit Herzblut für ihren Erfolg einsetzte. Er schloss seine Rede damals mit den Worten: „Ich bin auch zuversichtlich, dass uns dies gelingen wird.“ Diese Kombination aus Klarheit, Tatkraft und Optimismus hat Karl Otto Pöhl ausgezeichnet – und mehr davon würde uns auch heute guttun, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern.

Karl Otto Pöhl wäre dieses Jahr 95 Jahre alt geworden. Wir haben ihm viel zu verdanken. Bis heute wirkt seine Arbeit in der Delors-Kommission nach: Unter Pöhls Vorsitz entwarf der Ausschuss der Notenbankchefs das Statut der Europäischen Zentralbank. So wurde die Europäische Zentralbank nach dem Vorbild der Bundesbank als unabhängige Notenbank geschaffen, die vorrangig dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist.

Pöhl war aber auch bewusst, dass diese institutionellen Pfeiler allein nicht ausreichen, um eine stabile Währung für Europa dauerhaft zu tragen. Nötig ist ein festes Fundament, auf dem die Pfeiler fußen. Es besteht aus soliden Staatsfinanzen, integrierten Märkten und Vertrauen der Bevölkerung in die Notenbank. Damals wie heute gilt es, dieses Fundament zu festigen, damit der Euro auch Stürmen trotzen kann. Was dies konkret im Hier und Jetzt bedeutet, darüber möchte ich nun sprechen.

2 Solide Staatsfinanzen im Euroraum

Beginnen wir mit den Staatsfinanzen – und einer Frage: Was kümmert uns das überhaupt? Das Eurosystem hat die Aufgabe, die Geldpolitik für den Euroraum zu gestalten. Die Finanzpolitik ist Aufgabe der Mitgliedstaaten. Warum reden Notenbanker dann so oft über Haushaltsdefizite, Schuldenquoten oder Fiskalregeln?[2]

Die Antwort ergibt sich aus unserem Mandat: Unsolide Staatsfinanzen sind eine Gefahr für die Preisstabilität. Denn bei stetig wachsender Schuldenlast könnten die Menschen das Vertrauen verlieren, dass der Staat diese Last noch stemmen kann, ohne sie „wegzuinflationieren“. Die Inflationserwartungen und in der Folge die Inflation selbst könnten steigen. Und die Geldpolitik müsste stärker dagegenhalten, um die Inflation im Griff zu behalten. Das wäre wiederum mit höheren gesamtwirtschaftlichen Kosten verbunden.

Deshalb darf auch gar nicht erst der Eindruck entstehen, dass die Notenbanken unter Druck geraten, aus Rücksicht auf die Staatsfinanzen die Leitzinsen niedriger oder Anleihebestände höher anzusetzen, als es geldpolitisch eigentlich geboten wäre. Und deswegen sind wir auch so vehemente Befürworter von wirksamen Fiskalregeln. Sie sollen als Leitplanken solide Staatsfinanzen absichern. Dann kann die Geldpolitik Preisstabilität sichern, und zwar zu möglichst geringen gesamtwirtschaftlichen Kosten.

Fiskalregeln wurden bei der Konzeption der Europäischen Währungsunion von Anfang an mitgedacht. Auch dank Karl Otto Pöhl. Er setzte sich bereits in der Delors-Kommission für bindende Budgetregeln ein. Pöhl soll auch der Erste gewesen sein, der eine 3-Prozent-Defizitregel in die Diskussion einbrachte.

Seither wurden die Regeln mehrfach geändert. Die jüngste Reform trat im April 2024 in Kraft. Auf dem Papier waren die früheren Vorgaben gar nicht so schlecht. Aber in der Praxis verfehlten sie ihre Wirkung. Auch weil die vielfachen Zielverfehlungen oft mit Hilfe zahlreicher Ausnahmen und Ermessensspielräume entschuldigt wurden. Im Ergebnis liegen die Schulden der Länder im Euroraum mehrheitlich über dem Referenzwert von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung und in einigen Fällen sogar weit oberhalb von 100 Prozent.

Vor diesem Hintergrund wurden die Regeln neu aufgestellt. Bei der Reform wurde viel Wert auf nationale Eigenverantwortung gelegt. Dadurch sollen sich die Mitgliedstaaten stärker an die Grenzen gebunden fühlen. Wenn diese Neuerung tatsächlich zu mehr Bindungskraft der Regeln führt, wäre das sehr zu begrüßen.

Zugleich müssen die Verpflichtungen aber auch so ambitioniert sein, dass hohe Defizit- und Schuldenquoten spürbar sinken. Angesichts einer Reihe von Schwachstellen im neuen Regelwerk wird das kein Selbstläufer. So beruhen die länderspezifischen Grenzen auf vielen, teils weit in die Zukunft reichenden Annahmen. Die Ausgabengrenzen sind letztlich Verhandlungssache. Und im Vollzug wird auf Fehlentwicklungen erst sehr spät reagiert.

Die erste Bewährungsprobe steht bevor. Derzeit werden die Ausgabengrenzen für die erste Planungsperiode vereinbart. Die Pläne sollten einen Pfad abstecken, mit dem hohe Defizit- und Schuldenquoten verlässlich sinken. Kommission und Rat stehen in der Verantwortung, dass solche Pläne vereinbart werden. Deutschland sollte dabei aus meiner Sicht eine Vorbildfunktion übernehmen. Das bedeutet, mit gutem Beispiel voranzugehen und sich auf einen Kurs zu verpflichten, bei dem die Regeln stringent angewendet werden.

Angesichts hoher Schuldenstände im Euroraum ist es wichtig, dass die reformierten Regeln besser funktionieren als die alten. Denn wie gesagt: Solide Finanzen der Mitgliedstaaten gehören zum Fundament einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion.

3 Integrierte Kapitalmärkte in Europa

Aber sie allein reichen nicht aus. In seiner damaligen Rede vor der Frankfurter Gesellschaft erklärte Karl Otto Pöhl mit Blick auf die entstehende Wirtschafts- und Währungsunion: Zunächst bedeutet sie eine Integration der Märkte. Das ist überhaupt das Allerwichtigste.[3] Besonders verwies er auf die zunehmende Integration der Geld- und Kapitalmärkte nach dem Abbau vieler Beschränkungen im Kapitalverkehr.

Möglichst integrierte europäische Finanzmärkte waren und sind aus einer Reihe von Gründen wichtig. Erstens helfen sie dabei, dass die geldpolitischen Impulse gleichmäßig im gesamten Währungsraum wirken. Zweitens sorgen sie bei einem wirtschaftlichen Schock in einem Mitgliedstaat dafür, dass die Folgekosten über das gesamte Währungsgebiet hinweg abgefedert werden. Das trägt zur Stabilität von Gesamtwirtschaft und Finanzsystem bei. Und drittens finden Unternehmen in einem tiefen, liquiden Kapitalmarkt mit einer breiten Angebotspalette leichter die für sie passende Finanzierung. Das gilt ganz besonders für Start-ups und Wachstumsunternehmen. Sie benötigen Zugang zu einem entwickelten Wagniskapitalmarkt. Mehr privates Kapital ist außerdem wichtig, um Investitionen für den ökologischen und digitalen Wandel der europäischen Wirtschaft zu forcieren. Diese sind dringend notwendig, um die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken.

Sie sehen also, es spricht alles für einen echten gesamteuropäischen Kapitalmarkt. Und die EU hat sich schon vor einem Jahrzehnt das Ziel gesetzt, eine Kapitalmarktunion zu schaffen. Die Realität sieht aber leider immer noch anders aus.

Die Fortschritte bei der Finanzintegration im Euroraum sind insgesamt enttäuschend. Zu diesem Fazit kam jüngst ein Bericht der Europäischen Zentralbank. Darin heißt es: Sowohl die preis- als auch die mengenbasierten Indikatoren für die Finanzintegration sind in den letzten zwei Jahren deutlich gesunken, ohne dass es seit der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion zu einem nennenswerten Anstieg gekommen wäre. Trotz erheblicher gesetzgeberischer Anstrengungen in den vergangenen zehn Jahren haben die grenzüberschreitenden Finanzmarktaktivitäten und die Risikoteilung nicht zugenommen.[4]

Dieser Befund führt uns vor Augen, wie groß die Aufgabe ist. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Wir wissen recht genau, wo der Schuh drückt und können dort ansetzen. Es geht zum Beispiel um einen lebhafteren Verbriefungsmarkt, integrierte Strukturen in der Finanzaufsicht, ein harmonisiertes Wertpapierrecht sowie besser aufeinander abgestimmte nationale Regeln für Insolvenzen und Rechnungslegung.

Die neue Kommission ist nun gefordert, das Streben nach einem europäischen Kapitalmarkt ganz nach oben auf ihre Prioritätenliste zu setzen. Wir müssen hier schneller vorankommen als bisher. Die Politik stand zwar meist geschlossen hinter den abstrakten Zielen. Sie fand dann aber zu selten die Kraft, sich auf konkrete Maßnahmen zu einigen. Um die Ziele zu erreichen, ist ein ganzes Bündel an Maßnahmen nötig. Zum Teil greifen sie tief in nationales Recht ein. Für echten Fortschritt müssen deshalb alle an einem Strang ziehen, also Kommission, Parlament und die Mitgliedstaaten.

Erfreulicherweise hat das Thema in diesem Jahr frischen Schwung bekommen. Seien es die Stellungnahmen der Eurogruppe und des EZB-Rats oder die Berichte von Enrico Letta und Mario Draghi – sie alle sorgen für Rückenwind. Diesen gilt es jetzt zu nutzen!

Das Eurosystem trägt auch selbst zum Gelingen bei, insbesondere im Bereich der Finanzmarktinfrastruktur. Wir setzen uns zum Beispiel dafür ein, dass neue Technologien die Emission, den Handel und die Abwicklung von Finanzinstrumenten erleichtern. Aus meiner Sicht bietet die Digitalisierung neue Möglichkeiten, die Effizienz der europäischen Finanzmärkte zu stärken und dabei auch die nationalen Finanzmarktgrenzen zu überwinden. Hier haben wir das Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft!

4 Vertrauen der Bevölkerung in die Notenbank

Ein Europa mit integrierten Märkten und soliden Staatsfinanzen ist ein stärkeres Europa. Ein Europa, das mit mehr Krisenresilienz auch für unruhige Zeiten gewappnet ist. Ein Europa, das uns selbstbewusst und aus eigener Kraft unsere Zukunft gestalten lässt. Es geht also um mehr als das Fundament der Geldpolitik. Es geht um die Vertrauensbasis der EU.

Die Bürgerinnen und Bürger sollen auch in Zukunft hohes Vertrauen in die EU haben können, wie das derzeit der Fall ist.[5] Auf das Vertrauen und den Rückhalt der Bevölkerung sind ganz besonders auch wir angewiesen, die Zentralbanken des Eurosystems.

Wir agieren unabhängig von der Politik. Diese Unabhängigkeit wurde uns für die Geldpolitik bewusst gewährt, damit wir unser Mandat geschützt vor politischer Einflussnahme erfüllen können. Wir dürfen das Vertrauen der Menschen nicht einfach als gegeben annehmen. Nur wenn die Menschen uns vertrauen, werden sie die uns gewährte Unabhängigkeit akzeptieren. Dieses Vertrauen müssen wir uns immer wieder aufs Neue verdienen – durch mandatsgetreues Handeln und transparente, verständliche Kommunikation. Kurzum: Taten und Worte, die Hand in Hand gehen sollten.

Vertrauen die Menschen den Zentralbanken und ihrem Stabilitätsversprechen, dann hilft das auch, die Inflationserwartungen gut zu verankern.[6] Verankerte Inflationserwartungen erleichtern es der Zentralbank, ihr Ziel tatsächlich zu erreichen. Und das Erfüllen des Inflationsziels stärkt wiederum das Vertrauen der Menschen in die Zentralbank. So entsteht, was man im Englischen „virtuous circle“ nennt, ein Kreislauf des Positiven.

Das Eurosystem hat mehrfach unter Beweis gestellt, dass das Stabilitätsversprechen keine leere Worten waren. Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, als 2017 der damalige EZB-Chefvolkswirt, Peter Praet, die Karl Otto Pöhl Lecture hielt. Damals kämpfte das Eurosystem mit einer Inflationsrate hartnäckig unterhalb des Zielwerts. Praet erläuterte, was der EZB-Rat gegen seit 2014 aufkommende Deflationsrisiken unternommen hatte.

Oder denken Sie zurück an das Umfeld, als Christine Lagarde vor zwei Jahren bei Ihnen sprach. Im Herbst 2022 erreichte die Inflationsrate im Euroraum neue Höchststände und war zeitweise sogar zweistellig. Vor diesem Hintergrund machte die EZB-Präsidentin die Entschlossenheit des EZB-Rats deutlich, die Inflation auf den Zielwert von 2 Prozent zu drücken.

Auch hier standen Worte und Taten im Einklang: Wir haben die Leitzinsen bis September 2023 in zehn Schritten um insgesamt 450 Basispunkte erhöht. Das trug Früchte. Die Inflationsrate ist inzwischen deutlich gesunken. Im September lag sie im Euroraum unter zwei Prozent – zum ersten Mal seit mehr als drei Jahren. Morgen erfahren wir die erste Schätzung für den Oktober. Die Teuerung dürfte auch aufgrund von Basiseffekten bei Energie wieder etwas zugelegt haben.

Schaut man durch das monatliche Auf und Ab hindurch, erkennt man: Preisstabilität ist nicht mehr fern, aber das letzte Stück des Weges ist noch zu gehen. Gerade die Inflation bei Dienstleistungen, die erfahrungsgemäß recht träge verläuft, ist mit zuletzt 3,9 Prozent weiterhin hoch.

Der EZB-Rat hat die Leitzinsen im Oktober zum dritten Mal seit Juni gesenkt. Dies war angemessen, denn die Daten zeichneten ein etwas günstigeres Inflationsbild. Unser datenabhängiger Ansatz hat sich bewährt, gerade angesichts der bestehenden Unsicherheit. Im Dezember wird dem EZB-Rat eine neue Prognose vorliegen. Sie wird uns zeigen, ob wir bei der Inflationsentwicklung weiter auf Kurs sind. Ich rate dazu, vorsichtig zu bleiben und nichts zu überstürzen.

Der geldpolitische Kurs muss sicherstellen, dass sich die Inflationsrate mittelfristig bei 2 Prozent einpendelt. Unser Stabilitätsversprechen einzuhalten, ist besonders nach den Inflationserfahrungen der vergangenen Jahre ganz entscheidend für das Vertrauen, das die Menschen uns entgegenbringen. Eine verständliche Kommunikation hilft dabei.[7]

Das wusste bereits Karl Otto Pöhl in einer Zeit, als Notenbanken teils noch für ihre Verschwiegenheit berühmt (und berüchtigt) waren. 1988 sagte er in einem Interview: Ich bin wirklich davon überzeugt, dass eine meiner Hauptaufgaben ist, zu erläutern, zu erklären.[8]

Studien deuten außerdem darauf hin, dass Menschen mit guter finanzieller Bildung den Zentralbanken eher vertrauen.[9] Wir haben daher ein großes Interesse, das Wissen über Geld, Währung und Zentralbanken zu verbessern. Hier setzt die Bundesbank mit ihren Bildungsangeboten an, wie zum Beispiel Vorträge an Schulen, Fortbildungen für Lehrkräfte, Unterrichtsmaterialien, Erklärfilme oder unser Geldmuseum.

Die Effekte könnten noch weiter reichen: Forschende der Europäischen Zentralbank haben untersucht, wie Menschen mit unterschiedlichem Finanzwissen auf die Zinswende der Jahre 2022 und 2023 reagiert haben.[10] Sie befragten dabei Menschen mit hohem und niedrigem Finanzwissen über mehrere Monate. Beide Gruppen erwarteten erheblich höhere Zinsen. Unterschiede zeigten sich aber bei der Schlussfolgerung, ob es nun günstig ist, einen Kredit aufzunehmen oder zu sparen: Menschen mit hohem Finanzwissen passten ihre Einschätzung schneller und deutlich stärker an. Wie sich der Kurs der Geldpolitik auf das Verhalten der Menschen auswirkt, hängt also auch von ihrem Finanzwissen ab. Folglich könnte eine verstärkte Finanzbildung dabei helfen, dass sich geldpolitische Maßnahmen ins Handeln der Menschen übersetzen.

Eine gute ökonomische und finanzielle Allgemeinbildung hat noch mehr Vorteile. So können die Menschen bessere Entscheidungen treffen, wie sie ihr Geld ausgeben, sparen oder investieren möchten. Studien zufolge wirkt sich Finanzwissen positiv auf die Rendite aus, die Haushalte bei der Geldanlage erzielen.[11] Und es schützt sie eher davor, teure Fehler zu machen oder auf Betrugsmaschen hereinzufallen.

Finanzbildung bietet außerdem Chancen für gesellschaftlichen Aufstieg. Deshalb ist es wichtig, sie in der gesamten Breite der Gesellschaft zu fördern. Wenn Wissen zu Altersvorsorge und Vermögensaufbau allein über das Elternhaus vermittelt wird, profitieren vor allem jene, die ohnehin schon privilegiert sind. Dies kann Ungleichheiten in der Gesellschaft verfestigen und sogar verstärken.[12]

Umso bedenklicher ist es, dass laut einer Befragung in der EU im Durchschnitt nur gut jede zweite Person über grundlegendes Finanzwissen verfügt.[13] Deutschland schneidet zwar überdurchschnittlich ab, aber auch hierzulande ist noch viel Luft nach oben. Ich begrüße daher die „Initiative Finanzielle Bildung“ der Bundesregierung. Als ein Baustein dieser Initiative wird derzeit eine nationale Strategie zur Finanzbildung erarbeitet. Die OECD hat dazu wertvolle Analysen und Empfehlungen vorgelegt, die eine gute Grundlage für die Politik schaffen.[14]

An Interesse mangelt es jedenfalls nicht, gerade bei jungen Menschen. Laut einer OECD-Studie würden 81 Prozent der 14- bis 24-Jährigen in der Schule gern mehr über Möglichkeiten der Altersvorsorge erfahren, 87 Prozent über den Umgang mit Geld und 73 Prozent über Anlagemöglichkeiten.[15] Zudem wünschen sich 78 Prozent der jungen Menschen in Deutschland, dass Wirtschaft in der Schule eine größere Rolle spielen sollte.[16] Ein Mehr an Wirtschafts- und Finanzthemen in den Lehrplänen fiele also auf fruchtbaren Boden.

5 Schluss

Das Eurosystem ist durch Unabhängigkeit und ein klares Mandat gut gerüstet, für stabile Preise im Euroraum zu sorgen. Aber gerade für stürmische Zeiten benötigen wir ein starkes Fundament, auf dem wir fest verankert sind. Dazu gehören solide Staatsfinanzen, integrierte Märkte und Vertrauen in die Notenbank. Dieses Fundament gilt es, instand zu halten und wo nötig zu erneuern.

Zuallererst sind wir natürlich selbst gefordert: Sagen, was man tut, und tun, was man sagt. Notenbanker sind gut beraten, sich an diesen Leitsatz zu halten. Klar ist aber auch: Wir können nicht im Alleingang den Euro als starke Währung gewährleisten; hier sind auch Politik und Gesellschaft gefragt. Pöhls Weggefährte Helmut Schlesinger, der kürzlich 100 Jahre alt geworden ist, prägte dafür den Begriff der Stabilitätskultur.[17]

Schließen möchte ich mit einem Zitat von Karl Otto Pöhl, das mehr als 40 Jahre alt ist – aber es könnte auch von heute stammen: Es ist ja nicht naturgegeben, dass wir auf einer ‘Insel der Stabilität’ leben können. Das muss man sich durch eine konsequente Stabilitätspolitik verdienen.[18] Hieran arbeiten wir im Eurosystem gemeinsam Tag für Tag. Ich bin auch zuversichtlich, dass uns dies gelingen wird.

Fußnoten

  1. Pöhl, K. O., Rede zur deutschen und europäischen Währungsunion vor der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft, 30. Mai 1990.
  2. Allard, J., M. Catenaro, J. Vidal und G. Wolswijk (2013), Central bank communication on fiscal policy, European Journal of Political Economy, Vol. 30.
  3. Pöhl, K. O., Rede zur deutschen und europäischen Währungsunion vor der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft, 30. Mai 1990.
  4. European Central Bank, Financial Integration and Structure in the Euro Area, June 2024, eigene Übersetzung.
  5. European Commission, Standard Eurobarometer 101 - Spring 2024.
  6. D. Christelis, D. Georgarakos, T. Jappelli und M. van Rooij (2020), Trust in the central bank and inflation expectation. International Journal of Central Banking, Vol. 16, Nr. 6; Mellina, S. und T. Schmidt (2018), The Role of Central Bank Knowledge and Trust for the Public’s Inflation Expectations, Deutsche Bundesbank Discussion Paper, Nr. 32; Bursian, D. und E. Faia (2018), Trust in the monetary authority, Journal of Monetary Economics, Vol. 98.
  7. Eickmeier, S. und L. Petersen (2024), Toward a holistic approach to central bank trust, Deutsche Bundesbank Discussion Paper 27/2024.
  8. Die Macht des Wortes, Interview mit dem manager magazin vom 1. Juni. 1988.
  9. Niţoi, M. und M. Pochea (2024), Trust in the central bank, financial literacy, and personal beliefs, Journal of International Money and Finance, Vol. 143.
  10. Charalambakis, E., O. Kouvavas und P. Neves, Rate hikes: How financial knowledge affects people’s reactions, ECB Blog, 15. August 2024.
  11. Kaiser, T. und A. Lusardi (2024), Financial literacy and financial education: An overview, CEPR Discussion Paper Nr. 19185; Deuflhard, F., D. Georgarakos und R. Inderst (2019), Financial Literacy and Savings Account Returns, Journal of the European Economic Association, Vol. 17, Nr. 1.
  12. Lusardi, A., P. Michaud und O. Mitchell (2017), Optimal Financial Knowledge and Wealth Inequality, Journal of Political Economy, Vol. 125, Nr. 2.
  13. Demertzis, M., L. Léry Moffat, A. Lusardi und J. Mejino López (2024) The state of financial knowledge in the European Union, Policy Brief 04/2024, Bruegel.
  14. OECD (2024), Strengthening Financial Literacy in Germany: Proposal for a National Financial Literacy Strategy, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/81e95597-en.
  15. https://doi.org/10.1787/81e95597-en
  16. OECD (2024), Finanzbildung in Deutschland: Finanzielle Resilienz und finanzielles Wohlergehen verbessern, OECD Business and Finance Policy Papers, https://doi.org/10.1787/bf84ff64-en.
  17. Bertelsmann Stiftung (2024), Factsheet: Wirtschaftspolitische Interessen junger Menschen in Deutschland.
  18. Schlesinger, H., Eine europäische Währung muss genauso stabil sein wie die D-Mark, Handelsblatt, 31. Dezember 1991.
  19. Welt am Sonntag, 12. April 1981.