Die Welt im Wandel: Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für den Handel? Rede vor der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren, 

Mitte des 19. Jahrhunderts hat mutmaßlich der russische Zar Nikolaus I. den Satz des kranken Mannes am Bosporus geprägt, um das Osmanische Reich zu beschreiben. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die zweifelhafte Ehre, als „kranker Mann“ bezeichnet zu werden, vielen anderen Ländern zuteil. Zu diesen zählte auch das Vereinigte Königreich, vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren. Selbst Russland wurde mit dieser Zuschreibung bedacht. Über die Jahre wurden auch Frankreich, Deutschland, Griechenland, Portugal und Italien von verschiedenen Seiten als „kranker Mann“ Europas bezeichnet.

2 Deutschland ist nicht der „kranke Mann“ Europas

Lassen Sie uns in die Gegenwart zurückkehren: In verschiedenen Berichten wird Deutschland abermals als „kranker Mann“ Europas dargestellt. Die jüngsten Datenveröffentlichungen scheinen dies zu untermauern: Der private Verbrauch stagniert, die schwache Auslandsnachfrage führt zu einem Exportrückgang, und das Baugewerbe wird den Angaben zufolge durch die massiv steigenden Vorleistungspreise und die höheren Finanzierungskosten beeinträchtigt.

Die meisten Institutionen, darunter auch der Internationale Währungsfonds und die OECD, gehen in ihren Projektionen davon aus, dass die deutsche Wirtschaft im Jahr 2023 schrumpft. Und ihrer Einschätzung nach wäre Deutschland die einzige große Volkswirtschaft, die einen solchen Rückgang zu verkraften hätte.

Es lässt sich nicht leugnen, dass Deutschland tatsächlich einer Reihe von Herausforderungen gegenübersteht. Zugleich ist es meiner Meinung nach falsch, Deutschland als „kranken Mann“ Europas zu bezeichnen. Unsere Analysen zeigen, dass die aktuelle Wirtschaftsschwäche im Wesentlichen auf die Nachwirkungen der Energiepreisschocks und die schleppende Auslandsnachfrage zurückzuführen ist.

In Deutschland als bedeutendem Industriestandort mit engen internationalen Handelsverflechtungen kommen diese beiden Einflüsse besonders stark zum Tragen. Das verarbeitende Gewerbe hat in Deutschland einen BIP-Anteil von 18 Prozent. Damit ist er ungefähr doppelt so hoch wie im Vereinigten Königreich. In Deutschland ist der Wert der Im- und Exporte in der Summe so hoch wie das Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Landes, während er bezogen auf das Vereinigte Königreich bei zwei Dritteln liegt.[1] Allerdings scheinen sowohl die Energiepreisschocks als auch die schleppende Auslandsnachfrage vorübergehende Phänomene und nicht unbedingt strukturell bedingt zu sein. Die Prognosen für das kommende Jahr bekräftigen diese Einschätzung. Allgemein wird erwartet, dass die Konjunktur wieder anzieht.

Dennoch stellen sich aus struktureller Sicht verschiedene Herausforderungen, die aber nicht allein auf Deutschland begrenzt sind. Der Klimawandel, die Digitalisierung, eine alternde Bevölkerung, die Fragmentierung des Handels und ihre potenziellen Auswirkungen auf die Globalisierung – all dies sind Herausforderungen, die für viele Ländern zum Teil oder sogar in ihrer Gesamtheit relevant sind.

Heute möchte ich besonders die möglichen Auswirkungen auf die Globalisierung in den Blick nehmen. Eine drohende Deglobalisierung gefährdet vor allem die deutschen Wachstumsaussichten. Der Außenwirtschaftsanteil ist in Deutschland wesentlich höher als in vielen anderen Ländern. Daher überrascht es nicht, dass Änderungen des Welthandelsumfelds wichtige Parameter für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands sind.

3 Welthandelsumfeld im Wandel

In den vergangenen Jahren kam es zu einem umfassenden und tiefgreifenden Wandel, bei dem sowohl längerfristige Entwicklungen als auch unerwartete Ereignisse eine Rolle spielten. Bis zum Ausbruch der globalen Finanzkrise wuchs der Welthandel deutlich stärker als das weltweite BIP. Die Weltwirtschaft wurde quasi vom internationalen Handel angetrieben. Seither verlor der Welthandel in dieser Hinsicht an Bedeutung.

Zu einem großen Teil lässt sich die Verschiebung durch ein eher technisches Phänomen erklären, denn nicht alle Schwellenländer sind immer noch kleine Volkswirtschaften. Ihr Anteil am globalen BIP wächst. Aber im Vergleich zu den Industrieländern ist der Prozentsatz ausländischer Vorleistungen an ihren Produktionsprozessen allgemein geringer. Diese Verschiebung des Wirtschaftswachstums hin zu den Schwellenländern führte somit automatisch dazu, dass sich das Wachstum des Welthandels in Relation zum Wachstum der Weltwirtschaft verringerte.

Ein möglicher Faktor ist hier zuletzt in den Blickpunkt gerückt, und zwar die wahrgenommene Zunahme des Protektionismus. Forscherinnen und Forscher bei Global Trade Alert übernahmen die mühevolle, aber aufschlussreiche Aufgabe, Hunderte von Handelsmaßnahmen, die in der Vergangenheit ergriffen wurden, zu untersuchen und diese entweder als handelsliberalisierend oder als handelshemmend einzustufen. Die Zahl solcher Eingriffe in den Handel ist enorm gestiegen. Tatsächlich hat sie sich innerhalb von nur zehn Jahren verzehnfacht, und der Großteil des Anstiegs entfiel auf handelshemmende Interventionsmaßnahmen. Diskriminierende Handelsmaßnahmen werden weitaus häufiger ergriffen als liberalisierende Maßnahmen.

Diese längerfristigen Entwicklungen wurden zudem durch eine Reihe von Schocks verstärkt – vor allem den Brexit, die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine. Durch all diese Ereignisse kamen kritische Lieferkettenabhängigkeiten ans Licht.

4 Die Rolle der Wertschöpfungsketten

Es lohnt sich, die Rolle internationaler Lieferketten genauer zu betrachten: Wie haben sich die globalen Wertschöpfungsketten entwickelt? Warum sind sie für den internationalen Handel von zentraler Bedeutung? Und durch welche Herausforderungen wird ihre Widerstandsfähigkeit bedroht?

Bei den globalen Wertschöpfungsketten handelt es sich um weltweit verteilte Produktionsprozesse. Die einzelnen Produktionsschritte werden in jeweils unterschiedlichen Teilen der Welt ausgeführt, und jeder Schritt schafft in Bezug auf das Endprodukt einen Mehrwert.

So könnte ein in China zusammengesetztes Smartphone Metalle aus Chile, Chips aus Singapur (hergestellt mit Maschinen aus den Niederlanden), ein Display aus Südkorea und Computercodes aus Indien enthalten, und seine Frachtversicherung könnte aus London – also von hier – stammen. Der Produktionsprozess wird somit in einzelne Tätigkeiten zerlegt. Diese werden dann dort ausgeführt, wo die erforderlichen Kenntnisse und Materialien problemlos verfügbar sind.

Mehrere Faktoren kamen den globalen Lieferketten zugute: Die Löhne in den Schwellenländern waren deutlich niedriger, und die Transportkosten sanken. Außerdem war nun eine verbesserte Kommunikationstechnik jederzeit verfügbar, was die Koordination globaler Produktionsprozesse erleichterte.

Dieses Modell der internationalen Arbeitsteilung florierte besonders um die Jahrhundertwende. China trat im Jahr 2001 der Welthandelsorganisation bei, und auch viele andere Schwellenländer wurden in dieser Zeit zu einem integralen Bestandteil weltweiter Produktionsprozesse.

Globale Wertschöpfungsketten nehmen somit eine zentrale Rolle ein. Sie machen zwei Drittel des internationalen Handels aus.[2] Das restliche Drittel entfällt auf den internationalen Handel nach traditionellerer Vorstellung, wonach jedes Land Endprodukte und Dienstleistungen herstellt und diese an die Verbraucher ins Ausland exportiert.

Die Intensivierung der globalen Integration des Handels war für alle Beteiligten von Vorteil. Mit der Zunahme globaler Wertschöpfungsketten konnten sich Länder auf Bereiche spezialisieren, in denen sie über einen Wettbewerbsvorteil verfügten. Dadurch förderte der Welthandel Produktivität und Wirtschaftswachstum. Globale Wertschöpfungsketten spielten daher auch bei der Armutsbekämpfung in den Schwellenländern eine wichtige Rolle.[3] Und auch die Industrieländer profitierten. So steigerten Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit, indem sie die Chancen nutzten, die ihnen die globalen Wertschöpfungsketten boten. Den Verbraucherinnen und Verbrauchern stand eine größere Vielfalt an Waren zu günstigeren Preisen zur Verfügung.

In den vergangenen Jahren ergaben sich für die globalen Wertschöpfungsketten jedoch ganz unterschiedliche Herausforderungen. So wurden beispielsweise Diskussionen über „unfaire“ Praktiken und Subventionen geführt. Durch Produktionsverlagerungen verloren Menschen in bestimmten Bereichen ihren Arbeitsplatz, was ihnen düstere Aussichten bescherte. Die Betroffenen stehen der Globalisierung tendenziell oft ablehnend gegenüber.

Ein Thema verdient indes besondere Aufmerksamkeit: die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten. Denn diese Widerstandsfähigkeit wird zunehmend infrage gestellt.

Während der Corona-Pandemie kam es zu schweren Störungen der Lieferketten, insbesondere mit China. Dort reagierten die Behörden mit strengen Eindämmungsmaßnahmen. Fabriken und Häfen wurden geschlossen. Kurzfristig führten diese Störungen unweigerlich zu erheblichen negativen Effekten.

Angesichts der zunehmenden geopolitischen Unsicherheit wächst auch das Bewusstsein für kritische Importe – also für Güter, die nur aus wenigen Ländern eingeführt werden. Für Deutschland war es eine Art Weckruf, als deutlich wurde, wie stark das Land von russischen Energieimporten abhängig war.

Im Extremfall stammen nahezu alle Importe von einem einzigen Lieferanten. So entfallen schätzungsweise 90 Prozent der Veredelung von Seltenen Erden auf China.[4] Ich habe das Land nicht zufällig als Beispiel ausgewählt. In vielen Branchen gilt China als der kritischste Engpass in den globalen Wertschöpfungsketten. Das Land dominiert die Ketten sowohl als Anbieter als auch als Käufer. 

5 Wie kann die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten gestärkt werden?

Wenn wir weiterhin die Vorteile des internationalen Handels ausschöpfen wollen, muss dieses Thema angegangen werden. Das ist kein einfaches Unterfangen.

Zum einen müssen wir hier zwischen kurzfristigen Störungen und dauerhaften Abhängigkeiten unterscheiden. Die durch die Pandemie ausgelösten Lieferkettenstörungen waren zwar heftig. Doch gelang es den Unternehmen eben dank der globalen Wertschöpfungsketten, sich auf die großen Nachfrageverschiebungen einzustellen, zu denen es im Anschluss kam. Forscherinnen und Forscher der Bundesbank haben festgestellt, dass die stark miteinander verflochtenen Wertschöpfungsketten erheblich zur raschen Anpassung an die neuen Anforderungen beigetragen haben.[5] Ein Beispiel hierfür ist die IT-Ausstattung, die für Telearbeit notwendig war. Aber auch Testkits, Schutzmasken und andere persönliche Schutzausrüstung wurden ganz plötzlich benötigt. Dies wiederum stützte die Erholung.

Im Zuge der aufgetretenen Probleme haben die Unternehmen nun auch ihre Risiken neu bewertet. Sie haben damit begonnen, ihre Produktionsnetzwerke anzupassen, um so ihre Abhängigkeit von bestimmten Anbietern zu verringern. Dies ist eine komplizierte Aufgabe und in vielen Fällen kann „robuster“ unter anderem auch schlicht „teurer“ bedeuten.[6] Im Wesentlichen ist es aber genau dieser marktbasierte Ansatz, der eine größere Widerstandsfähigkeit sicherstellt. Hierdurch kann eine Balance hergestellt werden, die nicht ganz einfach zu erreichen ist: Die Lieferketten werden diversifiziert und, sofern notwendig, neu ausgerichtet. Und gleichzeitig verhindern die Kräfte des Marktes, dass sich die Unternehmen zu stark abkapseln.

Leider gibt es aber auch hier Grenzen. Einfuhren von Rohstoffen und Energie sind möglicherweise nur schwer diversifizierbar, einfach deswegen, weil diese natürlichen Ressourcen nicht überall in gleichem Maße vorhanden sind. Auch manche andere kritische Branchen, die Vorleistungsgüter produzieren, weisen eine hohe Konzentration auf. In diesen Fällen können die Kosten für eine Umstellung der Lieferketten extrem hoch sein. So kann beispielsweise die Einrichtung einer einzelnen neuen Produktionslinie in der Halbleiterindustrie leicht mehrere Milliarden Euro kosten.

Zugleich ist eine übermäßige Abhängigkeit von einem einzigen Herkunftsland aus geopolitischer Sicht häufig problematisch. Bei diesen strategischen Branchen mit begrenzten Alternativen können Eingriffe der Politik zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit gerechtfertigt sein. Genau hierfür hat die Europäische Union ihr Konzept der offenen strategischen Autonomie entwickelt. Hierdurch können Schwachstellen identifiziert werden, was eine gezielte Unterstützung ermöglicht.

Allerdings bestehen gewisse unübersehbare Konflikte zwischen den in der Strategie verwendeten Begriffen „offen“ und „Autonomie“. Das richtige Gleichgewicht zwischen diesen beiden Aspekten zu finden, führt zwangsläufig zu Diskussionen und womöglich sogar zu Meinungsverschiedenheiten.

Einerseits ist noch viel zu tun, um die Lieferketten widerstandsfähig zu machen. Eine aktuelle Umfrage der Bundesbank unter deutschen Unternehmen verdeutlicht, dass kritische Vorleistungsgüter aus China nur in begrenztem Umfang verringert werden können. Fast die Hälfte der Hersteller gibt an, dass ihre Produktion von Vorleistungen aus China abhängig ist. 80 Prozent von ihnen sagen, dass es zumindest schwierig wäre, die Vorleistungsgüter zu ersetzen.[7] 

Andererseits sollten wir uns die unbestreitbaren Vorteile der Globalisierung ins Gedächtnis rufen. Ein weitgehender Rückzug aus etablierten Handelsstrukturen verursacht hohe Kosten, wie der Brexit in aller Deutlichkeit und Härte gezeigt hat. Auf die Folgen des Brexits werde ich hier nicht weiter eingehen. Dieses Ereignis verdeutlicht jedoch, dass ein Rückzug aus der internationalen Zusammenarbeit mit erheblichen Kosten verbunden ist. Daher sollte dies genau überdacht werden.

In einigen Fällen kann dieser Preis gerechtfertigt sein, wenn andere, dringlichere Ziele erreicht werden sollen. So kann es beispielsweise keinen normalen Handel mit Ländern geben, die unverhohlen gegen die internationale Ordnung verstoßen und Angriffskriege führen oder den Terrorismus fördern. Politiker können als gewählte Volksvertreter beschließen, den Handel im Sinne eines übergeordneten Interesses zu beschränken. Aber für diese Fälle gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel.

Für gewöhnlich gibt es gute Gründe, ein offenes, regelbasiertes Handelssystem beizubehalten. Hierzu muss auch die Welthandelsorganisation in der Lage sein, ihr Regelwerk an die neuen Herausforderungen anzupassen.

Heute scheint dieses Bekenntnis zu einem offenen und regelbasierten System für viele Regierungen an Bedeutung eingebüßt zu haben. Dass ich dieses offene, regelbasierte System als sehr wichtig ansehe, ist, so hoffe ich, deutlich geworden.

6 Implikationen für die Geldpolitik

Sie fragen sich jetzt möglicherweise: Ist dies alles für Zentralbanken von Bedeutung? Und welche Rolle kann die Geldpolitik hierbei spielen?

Die erste Frage würde ich mit „ja“ beantworten. In der Tat ist all dies für Zentralbanken von großer Bedeutung. Aus theoretischer Sicht sprechen einige Gründe dafür, warum die Inflation durch die internationale Arbeitsteilung gedämpft werden könnte. Zu nennen sind hier unter anderem verbilligte Importe, ein stärkerer Wettbewerb oder niedrigere Vorleistungskosten. Die empirischen Belege sind allerdings weniger eindeutig. Festzustellen ist, dass die vorübergehenden Störungen und die Neuausrichtung der Lieferketten sowie die daraus resultierenden Verknappungen zu steigenden Importpreisen geführt haben. Diesen wiederum kommt in der gegenwärtigen Inflationsphase eine große Bedeutung zu.

Und hier wird nun die zweite Frage relevant, nämlich: Was kann die Geldpolitik tun? Als deutlich wurde, dass der Inflationsschub hartnäckiger als erwartet war, hat das Eurosystem mit Entschlossenheit reagiert. Seit Juli 2022 erfolgte eine Reihe von Zinserhöhungen, die bislang ohne Beispiel ist. Im Verlauf von nur 14 Monaten wurden die Leitzinsen um insgesamt 450 Basispunkte angehoben. Auf seiner letzten Sitzung im Oktober beschloss der EZB-Rat, die geldpolitische Ausrichtung beizubehalten und die Zinsen unverändert zu belassen. Dies scheint gerechtfertigt zu sein, da wir bereits ein angemessenes Niveau an geldpolitischer Straffung erreicht haben. Überdies hat sich der Inflationsdruck in den vergangenen Monaten leicht abgeschwächt.

Dennoch sind die Teuerungsraten im Euroraum nach wie vor zu hoch. Und sie liegen bereits zu lange auf zu hohem Niveau. Laut den jüngsten von der EZB erstellten Projektionen wird die Inflation im gesamten Projektionszeitraum über dem Zielwert bleiben. Kräftige Lohnanstiege gepaart mit einem sinkenden Arbeitskräfteangebot werden den Druck aufrechterhalten.

Daher gilt es, unbedingt wachsam zu bleiben. Geldpolitische Maßnahmen brauchen bekanntermaßen Zeit, bis sie ihre Wirkung vollständig entfalten. Der weitere Ausblick ist mit großer Unsicherheit behaftet, und wir laufen nach wie vor Gefahr, dass die Inflationsaussichten unerwartet hoch ausfallen könnten. Der EZB-Rat wird auch künftig einen datengestützten Ansatz verfolgen. Er wird sich in seinen Entscheidungen weiterhin an einem ganz klaren Ziel orientieren: Wir werden den Leitzins so lange wie erforderlich auf einem ausreichend hohen Niveau halten, um zu gewährleisten, dass die Inflation wieder auf einen Wert von 2 Prozent zurückkehrt.

Preisstabilität ist darüber hinaus der beste Beitrag, den die Geldpolitik zur Förderung der Widerstandskraft der globalen Wertschöpfungsketten leisten kann. Denn nur ein solches Umfeld gewährleistet die Stabilität und Verlässlichkeit, die notwendig sind, um die angesprochenen Herausforderungen meistern zu können.

Eingangs habe ich vom „kranken Mann“ gesprochen. Mit diesem Bild wurden in den zurückliegenden 200 Jahren verschiedene Länder bedacht. Ich habe ausgeführt, dass diese Beschreibung auf Deutschland entgegen der mancherorts geäußerten Meinung aktuell nicht zutrifft. Allerdings steht Deutschland, wie viele andere Länder auch, strukturellen Herausforderungen gegenüber.

Hierzu zählt auch das Risiko der Deglobalisierung. Auch wenn wir unsere wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit stärken müssen, dürfen wir nicht vergessen, dass ein offenes, regelbasiertes Handelssystem einen der Grundpfeiler unserer Wirtschaftsordnung darstellt.

 

Fußnoten:

  1. Vgl.: Deutsche Bundesbank (2023), Wirtschaftsstandort Deutschland: ausgewählte Aspekte der aktuellen Abhängigkeiten und mittelfristigen Herausforderungen, Monatsbericht, September 2023, S. 15-36.
  2. Vgl.: OECD (2020), Trade policy implications of global value chains, OECD Trade Policy Brief.
  3. Vgl.: Weltbank (2020), World Development Report 2020: Trading for Development in the Age of Global Value Chains.
  4. Vgl.: Internationale Energieagentur (2021), The Role of Critical Minerals in Clean Energy Transitions, World Energy Outlook Special Report.
  5. Vgl.: M. Khalil und M.-D. Weber (2022), Chinese supply chain shocks, Diskussionspapier der Deutschen Bundesbank, Nr. 44/2022.
  6. Vgl.: Economist Impact (2022), Trade in Transition 2022, Kapitel zum Thema „The great reconfiguration“.
  7. Vgl.: Deutsche Bundesbank (2023), Die Bedeutung Chinas als Lieferant wichtiger Vorprodukte für deutsche Unternehmen, Kasten, Monatsbericht, September 2023, S. 21-22.