Die deutsche Wirtschaft in rauen internationalen Gewässern Rede beim Speaker’s Luncheon des Union International Club e. V.
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Einleitung
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
das sind schon sehr bewegte Zeiten, in denen ich zu Ihnen komme: Mit Blick auf Deutschland, auf unsere europäischen Nachbarn – und auf die Welt mit den Vereinigten Staaten von Amerika als der wohl immer noch führenden Nation. Wir alle, Sie und ich, sind ständig dabei, den Strom an Nachrichten zu verarbeiten, die wir als relevant für uns ansehen.
Liest man in den Tagebüchern von Thomas Mann, so kann man dort eine durchaus andere Haltung finden. Am 15. Januar 1954 trägt er ein: Schon Monatsmitte. Erschreckend.
Heute, Mitte Februar 2025, kann ich dem vor 150 Jahren geborenen Schriftsteller Thomas Mann uneingeschränkt zustimmen.
Ich werde versuchen, beide Geisteshaltungen aufzunehmen: die Haltung des Schriftstellers, der vermutlich daran denkt, die eigenen Pläne voranzubringen, und dabei dennoch aus dem Nachrichtenstrom längerfristige Entwicklungen aufzugreifen, die relevant sind für das Verhältnis zwischen Deutschland und seinem internationalen Umfeld. Ich hoffe, das passt zu den internationalen Perspektiven, die Sie hier im Union International Club aus guten Gründen ins Zentrum stellen.
Drei Themen möchte ich heute behandeln: Die Entwicklung des Handels, die Wirtschaftslage in Deutschland und mögliche Auswirkungen von zusätzlichen Zöllen. Auf Thomas Mann und seine Haltung werde ich zum Abschluss zurückkommen.
2 Entwicklung des Handels
Starten möchte ich in der Vergangenheit. Konkret im Jahr 1970, als die weltweite Integration und damit der weltweite Handel Fahrt aufnahmen. Fast 40 Jahre lang in einem ungewöhnlich hohen Tempo. In dieser Zeit stieg der Umfang des globalen Handels gemessen an der weltweiten Wirtschaftsleistung von 25 Prozent auf 61 Prozent.[1] Wichtige Treiber waren niedrigere Transportkosten, sinkende staatliche Handelsbarrieren wie Zölle und Kontingente und die neuen Möglichkeiten bei Information und Kommunikation.
Seit der Finanzkrise hat die globale wirtschaftliche Verflechtung nicht weiter zugenommen.[2] Sie ist aber nach wie vor hoch und beträgt 58 Prozent im Jahr 2023. Allerdings verschlechtert sich seit einigen Jahren das handelspolitische Klima spürbar. Das begann im Jahr 2018, als sich der bilaterale Handelskonflikt zwischen den USA und China verschärfte. Einen weiteren Schub gab die Corona-Pandemie. Sie ließ die Zahl der handelsbeschränkenden Maßnahmen im Jahr 2020 sprunghaft steigen. Sicherlich haben hier zunächst auch medizinische Überlegungen eine wichtige Rolle gespielt.
Seitdem werden Jahr für Jahr weltweit rund 6.000 neue handelsbeschränkende Maßnahmen erlassen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und steigende geopolitische Spannungen trugen zuletzt hierzu bei. Neben Handelsbeschränkungen im engeren Sinn spielten Subventionen eine große Rolle. Protektionistische Maßnahmen gab es in vielen G20-Ländern.
Hier ist insbesondere China zu nennen, das die Produktion von Industrieerzeugnissen teilweise erheblich subventioniert und damit ein „level playing field“ untergräbt. Auch dies führte zu einem Höchstwert an Exporten: 2024 exportierte China mehr als jemals ein Land zuvor mehr als 3,6 Billionen US-Dollar, ein Plus von knapp 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Das blieb nicht ohne Folgen: Mehr als ein Drittel der weltweit bestehenden Antidumpingmaßnahmen und Ausgleichszölle wurden seit 2009 gegenüber China erlassen.[3] Damit soll auf den betreffenden Märkten wieder ein faires Wettbewerbsumfeld hergestellt werden.
Für die deutsche Wirtschaft haben die Entwicklungen in Chinas Wirtschaft deutliche Auswirkungen. Neben den technischen Fortschritten könnten in einigen Branchen auch Subventionen dazu beigetragen haben, dass chinesische Unternehmen Wettbewerbern Marktanteile abgenommen haben – in China und auf Drittmärkten; und insbesondere in den Branchen, in denen deutsche Unternehmen bislang besonders erfolgreich waren: zum Beispiel im Maschinenbau und in der Automobilindustrie.
Insbesondere in der Automobilindustrie sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache für die zunehmende Stärke Chinas. Zwischen 2020 und 2024 steigerte China seine Nettoexporte von knapp unter 1 Million auf fast 6 Millionen Autos.[4] Die deutsche Automobilindustrie hat wesentlichen Anteil daran, dass deutsche Exporte nach China zuletzt insgesamt schwach abgeschnitten haben.
Aber nicht nur wegen China büßte die deutsche Exportwirtschaft seit 2019 merklich Marktanteile ein.[5] So wuchsen die Ausfuhren aus Deutschland seit Beginn der 2020er Jahre um rund 8 Prozentpunkte langsamer als die deutschen Absatzmärkte. Heute legen die deutschen Exporte laut Sachverständigenrat nur noch um 0,6 Prozent zu, wenn das globale BIP um 1 Prozent wächst. Vor 14 Jahren waren es noch 1,4 Prozent.[6]
Diese geschwächte Position in der Welt hat für die deutsche Wirtschaft erhebliche Auswirkungen. Hätten die deutschen Exporte mit dem Wachstum der internationalen Absatzmärkte Schritt gehalten, so wäre die deutsche Wirtschaft zwischen Anfang 2021 und Mitte 2024 real um mehr als zwei Prozentpunkte stärker gewachsen.
Wenn wir auf sich verändernde Handelsströme schauen, dann gibt es neben erkennbarem Protektionismus samt den um sich greifenden Subventionen auch noch weitere Triebfedern. Im Zuge der Corona-Pandemie und des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine haben wir schmerzhaft lernen müssen, wie wichtig robuste Lieferketten sind.
Verständlicherweise möchten Politik und Unternehmen seitdem verstärkt sicherstellen, dass wir in Europa jederzeit die benötigten Waren und Dienstleistungen erhalten können. Unternehmen prüfen, wie sicher ihre Zulieferer im Krisenfall liefern können. Und die Europäische Kommission zielt mit der Initiative Open Strategic Autonomy unter anderem darauf ab, handelspolitische und geoökonomische Abhängigkeiten zu verringern.
Wie hoch diese Abhängigkeit insbesondere bei kritischen Gütern aus China ist, zeigt eine repräsentative Umfrage der Bundesbank unter deutschen Unternehmen aus dem vergangenen Jahr.[7] Demnach bestehen erhebliche Risiken durch Lieferkettenunterbrechungen. Einzelne Sektoren wären dabei allerdings sehr unterschiedlich betroffen.
So bezog im Verarbeitenden Gewerbe fast jedes zweite Unternehmen direkt oder indirekt kritische Vorprodukte aus China. Mehr als 80 Prozent dieser Unternehmen gaben zudem an, dass sich die kritischen Vorleistungsgüter zumindest nur schwierig ersetzen ließen.
Weitere Erhebungen der Bundesbank zeigen jedoch, dass Unternehmen entsprechende Schritte einleiten.[8] Allerdings gehen Veränderungen bei den Lieferketten mit gewissen Kostensteigerungen einher, was die Produktivität mindern könnte. Und diese Veränderungen sollten nicht dazu führen, dass anderswo neue Klumpenrisiken aufgebaut werden.
Ein weiterer Faktor für die deutsche Exportschwäche sind die stark gestiegenen Produktionskosten, insbesondere bei Energie.[9] Laut Zahlen der IEA erhöhten sich die Strom- und Gaspreise zwischen 2013 und 2023 für die deutsche Industrie um 30 Prozent beziehungsweise 55 Prozent. Zum Vergleich: In den USA stiegen die Strompreise im gleichen Zeitraum nur um 18 Prozent, der Preis für Gas ging sogar minimal zurück.
3 Aktuelle Konjunktur in Deutschland
Wir sehen also: Um Deutschlands Exportwirtschaft ist es derzeit nicht sonderlich gut bestellt. Wie steht es um die konjunkturelle Lage in Deutschland insgesamt? Darüber spreche ich nun im zweiten Teil meiner Rede.
Die Schwäche der deutschen Exportwirtschaft hat dazu beigetragen, dass die Wirtschaftsleistung in Deutschland im Jahr 2024 das zweite Jahr in Folge zurückging, erstmalig seit 2003. Preis- und kalenderbereinigt schrumpfte die deutsche Wirtschaft 2024 um 0,2 Prozent.
Und auch für das laufende Jahr sieht es kaum besser aus. In der Deutschlandprognose vom Dezember sind die Fachleute der Bundesbank deutlich skeptischer als noch im vergangenen Sommer: Für 2025 erwarten wir nur ein leichtes Wachstum. Und erst ab 2026 dürft es wieder spürbarer besser werden.
Dies liegt vor allem an der länger anhaltenden Schwäche der Industrie. Da wundert es nicht, wenn weiter wenig investiert wird. Aber auch der private Konsum entwickelt sich weniger dynamisch; er ist kein Motor der erwarteten Erholung.
Als Zentralbanker kann ich immerhin festhalten: Die Inflation ist inzwischen deutlich gesunken. Und bei aller Unsicherheit haben wir gute Chancen, bald wieder eine Rate von 2 Prozent zu erreichen.
Wegen der verschlechterten Wettbewerbsposition wird Deutschland von den wachsenden Weltmärkten weniger profitieren als in früheren Jahren; dies habe ich bereits erläutert. Wie es weitergeht, ist sehr unsicher. Der Regierungswechsel in den Vereinigten Staaten hat die Unsicherheit diesbezüglich nicht gesenkt. Und damit komme ich zum dritten und letzten Thema meines Vortrags – die möglichen Auswirkungen von US-Zöllen.
4 Mögliche Auswirkungen von US-Zöllen
Zölle seien das schönste Wort im Wörterbuch, so der neue US-Präsident. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem er es nicht verwendet und nicht neue Zollspekulationen befeuert.
Deutschland wäre von einer neuen protektionistischen Phase der USA besonders betroffen. Denn wir pflegen enge Handelsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten. 2023 waren wir absolut gesehen der mit Abstand größte Exporteur Europas in die USA. Und wir exportieren auch relativ zu den gesamten Ausfuhren mehr in die USA als die meisten anderen EU-Mitgliedsländer.
Die bereits erwähnte Bundesbank-Prognose vom Dezember 2024 berücksichtigt mögliche protektionistische Maßnahmen der neuen US-Regierung noch nicht. Denn die genaue Ausgestaltung ist weiterhin unklar. Das heißt aber natürlich nicht, dass wir untätig waren und blinden Auges auf eventuelle Zollerhöhungen zusteuern. Ganz im Gegenteil: In Ergänzung zur Dezember-Prognose haben wir ein mögliches Szenario analysiert.[10] Dies möchte ich Ihnen kurz vorstellen.
Was genau haben wir untersucht? Hinsichtlich der Zölle haben wir uns an den Ankündigungen Trumps aus dem Wahlkampf orientiert: Für Importe aus China würden die Zölle auf 60 Prozent steigen, während Produkte aus Deutschland und anderen Ländern mit einem Zollsatz von 10 Prozent belegt würden.
Stand jetzt hat die US-Regierung bereits zusätzliche Zölle im Umfang von 10 Prozent auf chinesische Waren umgesetzt. Zölle von 25 Prozent auf Aluminium und Stahl wurden für März angekündigt, Zölle gleicher Höhe gegen die engen Handelspartner Mexiko und Kanada stehen im Raum.
Neben US-Zollerhöhungen berücksichtigen wir noch weitere angekündigte Maßnahmen. Dazu zählen Steuerentlastungen und die Folgen einer groß angelegten Abschiebung von Einwanderern in den USA. Außerdem sind wir davon ausgegangen, dass die Handelspartner der USA mit Vergeltungszöllen reagieren und dass die gesamtwirtschaftliche Unsicherheit in einem solchen Umfeld zunimmt.
Die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen dieses Szenarios für Deutschland haben wir mit zwei unterschiedlichen Modellen abgeschätzt. Das erste Modell bildet die weltweiten Handelsbeziehungen umfassend ab. Das zweite Modell liefert hingegen einen genauen Blick auf die deutsche Volkswirtschaft. Was haben unsere Szenario-Rechnungen ergeben?
Die deutsche Wirtschaft würde erheblich unter einem solchen Politikschwenk leiden. Hier sind sich beide Modelle einig. Unsere hohe Exportausrichtung macht uns besonders anfällig für die sinkende Auslandsnachfrage. Die gestiegene Unsicherheit hemmt zusätzlich. Die Abwertung des Euro könnte zwar die preisliche Wettbewerbsfähigkeit stärken. Aber das reicht nicht aus, um die negativen Effekte zu kompensieren. Zusammengenommen wäre die Wirtschaftsleistung im Jahr 2027 um fast 1,5 Prozentpunkte niedriger als prognostiziert.
Die Inflationswirkungen unterscheiden sich in den Modellen hingegen deutlich. Während das auf Deutschland zugeschnittene Modell nur geringe Effekte zeigt, deutet das stärker die Weltwirtschaft abbildende Modell auf spürbar höhere Inflationsraten hin. Der wesentliche Grund für diese Unterschiede liegt darin, dass sich die Abwertung des Euro und die Gegenzölle im Modell, das die Weltwirtschaft besser abbildet, schneller und umfassender auf die Verbraucherpreise übertragen.
Auch in den USA dürften die protektionistischen Maßnahmen die Wirtschaftsaktivität spürbar dämpfen. Kaufkraftverluste und erhöhte Kosten für Vorleistungen wiegen schwerer als etwaige Wettbewerbsvorteile für die US-Industrie. Die Teuerungsrate würde kräftig steigen und könnte ohne eine deutliche Straffung der Geldpolitik noch höher ausfallen. Anders als von der Regierung angekündigt, sollten die Folgen der Zölle für die USA somit negativ sein.
Was schließen wir daraus? Ein drastischer Politikschwenk in den USA würde erhebliche Risiken für das Wirtschaftswachstum in Deutschland mit sich bringen. Auch die Inflation könnte angefacht werden, wenngleich das Ausmaß sehr unsicher ist. Bei alldem sollten wir jedoch bedenken, dass wir aktuell noch von einem hypothetischen Szenario sprechen. Es bleibt zu hoffen, dass es hypothetisch bleibt und die handelspolitische Unsicherheit bald wieder sinkt.
5 Schluss
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
begonnen habe ich meine Rede mit einem Verweis auf das 150-jährige „Geburtstagskind“ Thomas Mann. Der Schriftsteller ist natürlich nicht bekannt für seine Abhandlungen über den Protektionismus. Aber in seinem Werk finden sich immer wieder Andeutungen, dass internationale Zusammenarbeit und kultureller Austausch wichtige Mittel sind, um Frieden und Fortschritt zu fördern.
Wenn ich Ihnen heute also nur eine Botschaft mitgeben könnte, dann wäre es diese: Protektionismus führt in allen betroffenen Ländern zu Wohlfahrtsverlusten. Es gibt keine Gewinner. Und er schadet insbesondere der stark exportorientierten deutschen Wirtschaft. Ich werde mich folglich weiter für ein offenes und regelbasiertes Handelssystem einsetzen.
Das kürzlich ausverhandelte Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Ländern zeigt, dass auch in stürmischen Zeiten noch Schritte in die richtige Richtung unternommen werden können. Weitere Abkommen sollten folgen – und hoffentlich nicht 25 Jahre lang verhandelt werden.
Handel ist ein wichtiger Baustein für Wohlstand. Kluge Wirtschaftspolitik ist ein weiterer. Deutschland steht derzeit vor vielen strukturellen Herausforderungen. Diese anzugehen und zu meistern ist unser aller Aufgabe. Auch die der kommenden Bundesregierung.
Schon Monatsmitte? Erschreckend? Lassen Sie uns die Ärmel hochkrempeln. Dann wird auch die dahindümpelnde deutsche Wirtschaft wieder neuen Schwung aufnehmen. Nun freue ich mich aber erstmal auf die Diskussion mit Ihnen. Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Fußnoten:
- Die Werte berechnen sich als Summe von Exporten und Importen von Gütern und Dienstleistungen zum Bruttoinlandsprodukt auf Grundlage von Daten der Weltbank und der OECD.
- Vgl.: IRC Trade Task Force (2016), Understanding the weakness in global trade: What is the new normal?, Occasional Paper Series, No 178, ECB, September.
- WTO, Trade Remedies Portal
- Tordoir, S. und B. Setser (2025), How German industry can survive the second China shock, Centre for European Reform, S.1.
- Deutsche Bundesbank (2024), Konjunktur in Deutschland, Monatsbericht, November.
- Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2024), Versäumnisse angehen, entschlossen modernisieren, Jahresgutachten 2024/2025, S. 57.
- Deutsche Bundesbank (2024), Risiken für Deutschland aus der wirtschaftlichen Verflechtung mit China, Monatsbericht, Januar.
- Deutsche Bundesbank (2023), Ertragslage und Finanzierungsverhältnisse deutscher Unternehmen während der Energiekrise 2022, Monatsbericht, Dezember.
- Vgl. auch: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2024), Versäumnisse angehen, entschlossen modernisieren, Jahresgutachten 2024/2025, S. 17.
- Vgl. Deutsche Bundesbank (2024), Deutschland-Prognose: Wachstumsausblick deutlich eingetrübt – Inflation geht zurück auf 2 %, Monatsbericht Dezember, Exkurs: Zu möglichen Auswirkungen angekündigter Maßnahmen der designierten US-Regierung auf die deutsche Wirtschaft.