Deutschland: gesund, aber herausgefordert Impulsvortrag beim Hauptstadtempfang
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Deutschland: „kranker Mann“ Europas?
Sehr geehrte Damen und Herren,
beim Hauptstadtempfang der Bundesbank erwartet Sie normalerweise ein unbeschwerter Abend und ein Bundesbankpräsident, der etwas zu Inflation und Geldpolitik sagt. So ein Abend soll es auch werden. Aber mit Blick auf die Lage im Nahen Osten fällt es mir schwer mit business as usual zu starten.
Heute vor zehn Tagen töteten Terroristen in Israel auf brutalste Weise hunderte von Menschen. Allein bei dem Massaker in Re’im starben mehr als 260 Festivalbesucher. Fast alle Menschen in Israel betrauern den Tod von Freunden oder Verwandten, hoffen mit Verletzten um deren Genesung, bangen um eine geliebte Person, als Geisel verschleppt. Ich trauere, hoffe und bange mit ihnen. Und ich möchte hier meine Solidarität mit den Menschen in Israel erklären. Seit zehn Tagen ist die Welt eine andere. Die Gewalt hat eine neue Stufe erklommen. Meine Gedanken sind bei all denjenigen, die unschuldig unter dem Ausbruch der Gewalt leiden.
Meine Damen und Herren, vor fast genau einem Jahr, beim letzten Hauptstadtempfang der Deutschen Bundesbank, lag die Inflationsrate bei über 10 Prozent. Seither ist die Inflation deutlich zurückgegangen, auch deshalb, weil das Eurosystem entschlossen gehandelt hat. Die geldpolitischen Maßnahmen wirken. Allerdings ist die Inflation weiterhin hoch. Und auch die Unsicherheit. Im EZB-Rat diskutieren und bewerten wir, wie sich Konjunktur und Inflationsausblick entwickeln. Dabei entscheiden wir datenabhängig. Doch mehr möchte ich zur aktuellen Geldpolitik gar nicht sagen.
Denn heute soll es um etwas anderes gehen: die Zukunftsperspektiven des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Wer in den vergangenen Monaten die Presse verfolgt hat, liest es überall: Der „kranke Mann“ Deutschland sei zurück. Wenn sich nicht bald etwas ändere, drohe Deutschland zu „deindustrialisieren“.
Aufhänger für diese Diskussion waren vor allem die schwachen Wachstumszahlen seit dem letzten Quartal des Jahres 2022. So ist Deutschland laut Prognosen verschiedenster Institutionen das einzige größere Industrieland, das im Jahr 2023 voraussichtlich schrumpfen wird. Dies ist aus Sicht unserer Fachleute Folge von insbesondere zwei Entwicklungen: der zeitweise sehr hohen Energiepreise, die auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine zurückgehen. Und einer aktuell schwachen Weltwirtschaft.
Die Schwächephase der deutschen Wirtschaft ist also nicht primär struktureller Natur, wie es die Debatte über eine mögliche Deindustrialisierung nahelegt. Dies deckt sich wiederum mit den meisten Prognosen für Deutschland für das kommende Jahr 2024.Sie sagen nämlich bereits wieder eine konjunkturelle Erholung vorher. Daher kann ich der Diagnose vom „kranken Mann“ nicht zustimmen.
2 Herausforderungen und Chancen für die deutsche Wirtschaft
Allerdings stehen Deutschland und seine Unternehmen vor großen Herausforderungen – daran besteht kein Zweifel. Im September haben wir uns in einem Aufsatz im Bundesbank-Monatsbericht damit auseinandergesetzt.[1] Ich möchte hier kurz auf zwei der zentralen Herausforderungen eingehen.
Da ist zum einen die Dekarbonisierung der Wirtschaft. Der Klimawandel schreitet schnell voran und betrifft die gesamte Menschheit. Gleichzeitig führen uns die hohen Strom- und Gaspreise weiterhin sehr deutlich vor Augen, wie stark wir noch immer von fossilen Energieträgern abhängen. Von Öl, Gas und Kohle wegzukommen, die erneuerbaren Energien auszubauen, ist deshalb nicht nur gut für das Klima. Es macht uns auch unabhängiger und führt langfristig möglicherweise wieder zu niedrigeren Strompreisen in Deutschland.
Klar ist jedoch auch: Die Zeiten teils sehr niedriger Energiekosten sind erstmal vorbei. Alle Stromverbraucher, ob klein oder groß, sollten sich hierauf einstellen. Ein Teil der Industrie verweist auf akute Wettbewerbsnachteile gegenüber dem Ausland und fordert, den Strompreis für einige Unternehmen rasch künstlich zu senken. Hierdurch verzögert sich in meinen Augen aber nur der erforderliche Strukturwandel. Die Transformation hin zu einem emissionsarmen Wirtschaften bedeutet einen umfassenden Umbau unserer Volkswirtschaft: Energieerzeugung, Netze, neue Speichermöglichkeiten, Heiztechnik, Verkehrsmittel sind prominente Beispiele. All dies erfordert umfangreiche Investitionen: In neue Gerätschaften, aber auch in Forschung und Entwicklung, um Energie effizient zu nutzen.
Helfen kann hierbei die Politik: Mit einer verlässlichen und konsistenten Klimapolitik schafft sie Planungssicherheit auf dem Weg zur CO2-Neutralität bis zum Jahr 2045. Gleichzeitig müssen staatliche Genehmigungen und gerichtliche Überprüfungsverfahren beschleunigt werden. Auf europäischer Ebene sollte sich Deutschland dafür einsetzen, dass die Kapitalmarktunion weiter vorankommt. Denn die anstehenden Investitionen wollen finanziert sein. Und ein guter Zugang zu Marktfinanzierung ist hierfür ein wichtiger Baustein.
Neben der Dekarbonisierung stellt der demografische Wandel unsere Wirtschaft und Gesellschaft vor große Herausforderungen. Dieser wird in den nächsten Jahren deutlich an Fahrt aufnehmen. Denn die Generation der „Baby-Boomer“ verabschiedet sich in den Ruhestand, und dies bedeutet weniger Arbeitskräfte. Und hierdurch wird sich der jetzt schon akute Fachkräftemangel weiter verschärfen.
Die Politik täte gut daran, diese Entwicklung zumindest abzuschwächen. Hierzu muss sie an allen verfügbaren Stellschrauben drehen: indem sie qualifizierte Zuwanderung erleichtert, Betreuungsangebote für Kinder ausbaut, und das Renteneintrittsalter über 67 Jahre hinaus an die Lebenserwartung koppelt.
Die eben angesprochenen Herausforderungen betreffen grundsätzlich unsere Gesellschaft als Ganzes. Im Fokus der aktuellen Diskussion um den Wirtschaftsstandort Deutschland steht allerdings die Industrie. Denn sie hat ein großes Gewicht – im internationalen Vergleich ebenso wie in der öffentlichen Wahrnehmung. Sorgen um den Industriestandort schaffen es deshalb bei uns leichter auf die Titelseiten, als das bei anderen Branchen der Fall ist.
Wenn ich mir anschaue, wie die deutsche Industrie auf die jüngsten Herausforderungen reagiert hat, stimmt mich das im Großen und Ganzen optimistisch. So konnte sie den Energieschock dank einer soliden Finanzierungs- und Ertragslage erstmal gut abfedern. Auch deutliche Energieeinsparungen halfen hierbei. Unterstützt wurden die Unternehmen durch einen handlungsfähigen Staat, der in den jüngsten Krisen eine wichtige Stütze war. Die Wertschöpfung der Industrie insgesamt entwickelte sich recht stabil.
In Teilen der Industrie ist der Anpassungsdruck aber deutlich höher als in anderen. So leiden insbesondere energieintensive Branchen wie die chemische Industrie unter den gestiegenen Energiepreisen. Aber gleichzeitig verfügt Deutschland über wandlungsfähige Unternehmen. Zu dieser Anpassungsfähigkeit trägt unter anderem der starke deutsche Mittelstand bei. Hierzu gehören auch sogenannte Hidden Champions, die ihre Innovationskraft auszeichnet und die in ihrer Branche zu den Weltmarktführern zählen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die deutsche Industrie auch die noch anstehenden Herausforderungen gut meistert. „Made in Germany“ wird meines Erachtens weiterhin ein gesuchtes und erfolgreiches Markenzeichen bleiben.
3 Deutschland: gesund, aber herausgefordert
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal kurz zurück kommen auf das Bild des „kranken Mannes“. Die Diagnose einer Krankheit – ob sie nun zutrifft oder nicht – kann zwei entgegengesetzte Reaktionen auslösen: Man kann resignieren und sich mit seinem vermeintlichen Schicksal abfinden: Warum sollte ich kämpfen, wenn sowieso alles den Bach runtergeht? Oder man kann sich aufraffen und fragen: Wie kann ich mich so in Form bringen, dass ich fit bin für künftige Herausforderungen? Es steht sicherlich außer Zweifel: Handeln ist die bessere Alternative als resignieren.
Auch wenn ich die Diagnose vom „kranken Mann“ Europas nicht teile: Sie rüttelt uns wach. Und sie stößt eine gesellschaftliche Diskussion an – unter anderem auch hier und jetzt. Die deutsche Industrie und unsere Gesellschaft können sich auf ein verändertes Umfeld einstellen. Das haben sie immer wieder bewiesen. Die Politik kann hierbei unterstützen, indem sie klare und verlässliche Rahmenbedingungen schafft. Ich bin mir sicher: Die aktuelle Debatte wird dazu beitragen, unser Land stärker zu machen und es besser für die Zukunft aufzustellen.
Deutschland ist in meinen Augen gesund! Aber es ist herausgefordert!
Fußnoten:
- Siehe Deutsche Bundesbank (2023), Wirtschaftsstandort Deutschland: ausgewählte Aspekte der aktuellen Abhängigkeiten und mittelfristigen Herausforderungen, Monatsbericht September, S. 15-36.