Brauchen wir ein Wohlstandsupdate? – Produktivität, Wettbewerb und stabiles Geld im digitalen Zeitalter Ludwig-Erhard-Lecture, veranstaltet von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Einleitung
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich freue mich sehr, heute bei Ihnen in Berlin zu sein und die Ludwig-Erhard-Lecture zu halten.
Ich hoffe, Sie sind alle gut angekommen. Vielleicht haben Sie sich zu Hause noch gefragt, ob es heute Regen geben würde. Vielleicht brauchten Sie eine Fahrkarte, um anzureisen. Vielleicht sind Sie mit dem Rad oder zu Fuß gekommen und kannten den Weg hierher nicht. Falls ja, würde es mich wundern, wenn Sie dafür nicht Ihr Smartphone genutzt hätten.
Als Ludwig Erhard sein Buch „Wohlstand für Alle“ vorlegte, funktionierte das nicht so leicht: Für eine Fahrkarte ging man damals in der Regel zum Bahnhof und stellte sich in die Schlange am Schalter. Um sich in der Stadt zu orientieren, brauchte man einen Stadtplan, faltete ihn auseinander und suchte nach einer Route. Das ging los mit der Frage: Wo bin ich, und wo ist mein Ziel? Und wer wissen wollte, wie das Wetter wird, schlug in der Zeitung nach oder spitzte beim Wetterbericht im Radio die Ohren.
Heute sind solche Informationen nur eine Fingerbewegung oder einen Sprachbefehl weit weg. Der Digitalisierung sei Dank. Sie hat uns den Alltag an vielen Stellen erleichtert. Oder wann haben Sie zuletzt Straßenkarten gewälzt, Fahrpläne studiert oder in Telefonbüchern geblättert? Und sie hat uns neue Möglichkeiten eröffnet, zu kommunizieren, uns zu vernetzen und am Wissen der Welt teilzuhaben.
Der technische Fortschritt führt auch die Wirtschaft immer weiter ins digitale Zeitalter. Vernetzte Maschinen und Cloud-basierte Dienste sind längst im Unternehmensalltag angekommen. Viele Unternehmen testen derzeit die Einsatzmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz. Und Quantencomputing könnte mittelfristig die Schwelle für eine breite Anwendung überschreiten.
Die Auswirkungen der Technologiewelle spüren wir alle: Sie beeinflusst, wie wir arbeiten, einkaufen und bezahlen; und sie verändert Produkte, Produktionsprozesse, Geschäftsmodelle und Märkte. Mit solchen grundlegenden Veränderungen gehen immer Chancen und Risiken einher. Aus Sicht der meisten Fachleute besitzt der digitale Wandel noch viel Potenzial für Wachstum und Wohlstand. Darum soll es im ersten Teil meiner Rede gehen.
Ob aber dieses Potenzial tatsächlich genutzt wird, ist noch offen. Wenn wir digitalen Fortschritt in Wohlstand für alle ummünzen wollen, brauchen wir ein Wirtschaftsmodell, das mit seinen Rahmenbedingungen die Grundlage dafür schafft.
Zu Ludwig Erhards grundlegenden Prinzipien für die soziale Marktwirtschaft zählen starke Innovationskraft, funktionierender Wettbewerb und stabiles Geld. Sie waren damals wichtig und sind es heute. Sie müssen aber jeweils zeitgemäß umgesetzt werden, damit sich die Triebkräfte unseres Wohlstands auch im veränderten Umfeld voll entfalten können.
Deshalb gilt es, von Zeit zu Zeit die Rahmenbedingungen auf den Prüfstand zu stellen – und wo nötig zu aktualisieren. Darüber möchte ich im zweiten Teil meiner Rede sprechen.
2 Produktivitäts- und Wachstumsimpulse der Digitalisierung
2.1 Technologiewelle und Produktivitätsflaute
Meine Damen und Herren,
können Sie sich noch erinnern, welche Handy-Apps zur Zeit der Fußball-WM in Deutschland 2006 am beliebtesten waren? Nein? Kein Wunder, denn in der Breite erfolgreiche Smartphones gab es damals noch gar nicht, und die App-Stores der großen Anbieter öffneten erst 2008.
Längst sind Smartphones und Apps allgegenwärtig geworden. Beim PC hatte es nach der Markteinführung noch mehrere Jahrzehnte gedauert, bis er in der Mehrzahl der Haushalte angekommen war. Die Zeit, in der sich digitale Neuentwicklungen am Markt durchsetzen, wird immer kürzer. Bei ChatGPT vergingen nur zwei Monate, bis die Schwelle von 100 Millionen Nutzenden erreicht war.
Ein hohes Innovationstempo verspricht eigentlich auch Produktivitätsschübe und damit Wohlstandszuwächse. In der Vergangenheit haben Innovationen wie die Dampfmaschine und die Elektrifizierung die Produktion tiefgreifend verändert. Es folgten große Fortschritte bei der Arbeitsproduktivität – und höhere Lebensstandards.
Den erhofften Produktivitätsschub der Digitalisierung sehen wir in den Statistiken zumindest auf den ersten Blick nicht: Im Gegenteil, seit längerem gehen die Produktivitätszuwächse in den Industrieländern zurück. In den 2010er Jahren lagen sie im Durchschnitt bei nur rund 1 % pro Jahr. Und das trotz der Verbreitung von digitalen Plattformen und Clouds, durch die neue Produktionsprozesse möglich wurden.
Wie passen Technologiewelle und Produktivitätsflaute zusammen? Führt die Digitalisierung zu einer produktiveren Volkswirtschaft? Oder macht sie unser Leben zwar bequemer, aber die Wirtschaft insgesamt kaum effizienter?
Diese Fragen sind mitentscheidend für unseren Wohlstand der Zukunft. Der Trend der Produktivitätsentwicklung gibt auch wichtige Hinweise auf das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft. Paul Krugman brachte es einmal so auf den Punkt: Productivity isn’t everything, but in the long run it is almost everything.
[1]
Das gilt erst recht vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Durch die Alterung der Gesellschaft werden dem Arbeitsmarkt weniger Menschen zur Verfügung stehen. Zugleich werden mehr ältere Menschen Rente beziehen. Einerseits dämpft die Alterung also die Wirtschaftsentwicklung und damit die Basis für staatliche Einnahmen. Andererseits lässt sie die staatlichen Ausgaben schneller wachsen.
Umso wichtiger ist es, effizienter zu werden und die knappen Ressourcen bestmöglich einzusetzen. Schauen wir also genauer hin, ob die Digitalisierung in Sachen Produktivitätsfortschritt halten kann, was sie verspricht.
2.2 Digitaler Wandel entscheidend für höhere Produktivität
Unsere Bundesbank-Fachleute haben die Produktivitätsentwicklung im Zeitraum von 1997 bis 2018 untersucht.[2]
Es zeigt sich: In Wirtschaftsbereichen, die überwiegend digitale Güter herstellen, waren die Produktivitätsgewinne deutlich größer als im Rest der Wirtschaft. Die positive Entwicklung dort wurde allerdings gesamtwirtschaftlich überlagert von der schwachen Entwicklung in den übrigen Branchen. Mit anderen Worten: Die Produzenten von digitalen Gütern waren ein wesentlicher Treiber der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung. Ohne ihre Effizienzgewinne wäre das Produktivitätswachstum erheblich niedriger ausgefallen oder hätte teils sogar stagniert.
Die digitalen Güter werden zwar in einem relativ kleinen Bereich der Volkswirtschaft hergestellt. Sie verändern aber auch in anderen Bereichen Prozesse und Produkte: Mit Hilfe von Mikroprozessoren steuern wir nahezu alle elektronischen Geräte, vom Auto bis zur Waschmaschine; Software zur Online-Terminreservierung entlastet Arztpraxen, Restaurants und Friseurbetriebe. Digitale Vorleistungen spielen eine wichtige Rolle dabei, dass der digitale Wandel die Produktivität insgesamt erhöht. Auch das haben unsere Analysen gezeigt.
Allerdings haben die Impulse der Digitalisierung im untersuchten Zeitraum bis 2018 nachgelassen.[3] Danach hat zwar die Pandemie dem Einsatz digitaler Technologien einen Schub verliehen. Noch lässt sich jedoch nicht genau sagen, ob es dadurch zu spürbaren und anhaltenden Effizienzsteigerungen kommt. Entsprechende Befragungen von Unternehmen liefern immerhin optimistische Ergebnisse.
2.3 Allzwecktechnologien benötigen Zeit
Neue digitale Anwendungen können den Markt in Windeseile erobern, wie zuletzt ChatGPT. Bis aber neue Technologien die Wirtschaft grundlegend verändern, vergeht mehr Zeit. Das gilt selbst für bahnbrechende Erfindungen, wie die Geschichte zeigt. Zwei Beispiele:
James Watt ließ seine Dampfmaschine 1769 patentieren. Aber erst in den 1830er Jahren verdrängte Dampf- die Wasserkraft als Antrieb in der Industrie. Und bis zum Siegeszug von Dampflok und Dampfschiff als Ersatz für Segelschiff und Pferdekutsche dauerte es noch weitere zwei Jahrzehnte. Der Beitrag der Dampfkraft zum Produktivitätswachstum erreichte erst nach 1850 seinen Höhepunkt.[4]
Oder denken Sie an die erheblichen Fortschritte in der IT in den 1970er und 1980er Jahren: die erste E-Mail, das Internetprotokoll, der erste programmierbare Taschenrechner, die schon angesprochenen ersten PCs. Damals ging das Produktivitätswachstum in zahlreichen Industrieländern zurück. Erst Mitte der 1990er Jahre zeigten sich die Effekte in den Produktivitätsstatistiken.
Wir sollten also die Digitalisierung als Motor für Produktivität und Wachstum nicht voreilig abschreiben.
Das gilt besonders mit Blick auf das Potenzial der künstlichen Intelligenz (KI). So sagte zum Beispiel die Vize-Chefin des Internationalen Währungsfonds, Gita Gopinath, in einer Rede: AI could be as disruptive as the Industrial Revolution was in Adam Smith’s time.
[5]
Mich faszinieren die vielfältigen Anwendungsbeispiele von KI, die wir inzwischen in nahezu allen Branchen sehen. Wir dürfen gespannt sein, wie sie sich auswirken und welche Ideen künftig noch entwickelt werden.
Eine Studie zum Einsatz von KI-Assistenten im Kundendienst zeigte erste, vielversprechende Ergebnisse: So stieg die Produktivität der Beschäftigten um fast 14 %. Dabei profitierten vor allem die geringer Qualifizierten und Unerfahrenen. Sie steigerten ihre Produktivität um 35 %.[6]
Auch die Bundesbank nutzt KI. Es gibt bereits über 30 Anwendungen – etwa bei der Vorhersage von finanziellem Stress, bei der automatisierten Bewertung von Nachrichten oder bei der Datenbereinigung. Und wir sehen noch mehr Potenzial, etwa mit Blick auf Sprachmodelle und generative KI. Unser Ziel ist es, mit Hilfe von KI unsere Analysefähigkeit weiter zu steigern.
Allzwecktechnologien wie die KI erfordern für die praktische Anwendung in Unternehmen und Behörden zusätzliche Innovationen und Investitionen.[7] Mit dem Erwerb von Software ist es nicht getan. Rechtliche Fragen müssen geklärt, Geschäftsprozesse umgestaltet, Beschäftigte geschult werden. Erst später, wenn diese Investitionen fruchten, lassen sich Produktivitätszuwächse ernten. Von der Digitalisierung könnten in Zukunft also noch erhebliche Impulse für Wachstum und Wohlstand ausgehen.
3 Rahmenbedingungen für Wettbewerb und Innovation
Meine Damen und Herren,
diese Chancen gilt es zu nutzen. Der digitale Wandel muss zum Wohlstandsmotor werden!
Gelingen kann dies, wenn die digitale Transformation mit Offenheit für neue Ideen und Raum für innovative Lösungen angegangen wird. Dafür muss zweierlei zusammenkommen: Erstens, innovationsfreudige Unternehmerinnen und Unternehmer und zweitens, ein Staat, der ihnen den passenden Rahmen setzt.
Für Wirtschaftsnobelpreisträger Edmund Phelps ist Innovationsgeist auch eine Frage der Haltung und der Werte: Menschen müssen sich wieder mit Verve auf Probleme stürzen [und] mit ihren Ideen aufblühen. (…) So wachsen die Leute und deren Ökonomien.
[8]
Es gibt eine Reihe von Stellschrauben, an denen gedreht werden kann, um das Umfeld attraktiver zu machen.
Dazu gehören eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur und eine innovationsfreundliche Regulierung. So sind klare Regeln für die Nutzung von Daten und KI-Systemen wichtig, wie auch ein besserer Zugang zu Daten für Forschungszwecke. Ich begrüße das Bestreben, die EU zum Vorreiter für vertrauenswürdige KI zu machen. Wir sollten uns aber nicht nur als Regulierungsgemeinschaft verstehen, sondern auch als Innovationsgemeinschaft. Und hier sollte ebenfalls der Anspruch sein, vorne mitzuspielen.
Auf drei weitere Stellschrauben möchte ich nun etwas näher eingehen.
3.1 Wettbewerb sichern, trotz neuer Herausforderungen
Beginnen wir mit dem Herzstück der sozialen Marktwirtschaft: dynamischer Wettbewerb.
Zum einen spornt er Unternehmen an, innovativer und produktiver zu werden. Davon profitieren wir alle als Verbraucherinnen und Verbraucher: Wir haben mehr Auswahl und günstigere Preise. Zum anderen soll der Wettbewerb auch dafür sorgen, dass sich die Wohlfahrtsgewinne nicht in den Händen weniger sammeln.
Ludwig Erhard brachte es auf den Punkt: ,Wohlstand für alle‘ und ,Wohlstand durch Wettbewerb‘ gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt
.[9]
Diesen Weg beschreitet die Wirtschaft aber nicht von allein. Der Staat muss die Leitplanken richtig setzen. Funktionierender Wettbewerb braucht einen geeigneten Ordnungsrahmen. Er muss wirtschaftliche Macht begrenzen und den Missbrauch von Marktmacht verhindern, damit sich bessere oder günstigere Angebote auch durchsetzen.
Ein kluges Wettbewerbsrecht und starke Kartellbehörden haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich die soziale Marktwirtschaft zur Erfolgsgeschichte entwickelt hat. Und sie sind heute nicht weniger wichtig.
In der digitalen Ökonomie stellen sich jedoch neue Herausforderungen. Hier gibt es einerseits zahllose kleine Start-ups und massiven Wettbewerb. Andererseits gibt es die großen Plattformen der „BigTechs“. Sie unterscheiden sich teils von anderen Märkten: So hängt zum Beispiel der Nutzen eines bestimmten Automodells kaum davon ab, ob zehn oder 10 Millionen Fahrzeuge dieses Modells verkauft werden. Bei Plattformen ist das anders: Sie werden umso attraktiver, je mehr Nutzende dort schon sind.
Dieser Netzwerkeffekt stärkt die Platzhirsche. Und er macht es Neulingen schwer, Fuß zu fassen. Denn für Kunden ist es meist wenig attraktiv, von einer großen auf eine kleine Plattform zu wechseln. Im Ergebnis kann das dazu führen, dass nur wenige oder gar nur ein einziger Plattformbetreiber den jeweiligen Markt beherrscht.
Diese starke Position lässt sich ausnutzen: Zum Beispiel, indem man das Hauptangebot der Plattform mit neuen Zusatzdiensten verzahnt und so das Netzwerk in weiteren Märkten aufspannt. Auf diese Weise können Plattformen zu in sich geschlossenen Ökosystemen heranwachsen, die die Nutzenden immer seltener verlassen.
Nun ist kein Unternehmen davor sicher, vom technischen Fortschritt und seinen Pionieren überholt zu werden – auch nicht die Markführer. Dafür finden sich in der Geschichte immer wieder Beispiele. Denken Sie etwa an Kodak oder BlackBerry.
Könnte vielleicht die KI der Stein in Davids Schleuder sein, vor dem die heutigen Tech-Goliaths zittern müssen? Das ist zwar denkbar, aber es gibt starke Gegenargumente.[10]
KI eröffnet neue Möglichkeiten, Daten zu verarbeiten, und verknüpft diese auf neue Weise. Die etablierten Unternehmen verfügen über die dafür notwendige Rechenleistung, die erheblich und teuer ist. Und sie sitzen auf großen Datenschätzen. Damit können sie KI-Modelle trainieren und auf ihre Kundengruppen zuschneiden. Sie haben damit einen Vorsprung vor neuen Anbietern, die nicht auf eigene Datenbestände zurückgreifen können. Durch KI könnte also die Marktmacht der großen Player sogar noch zunehmen.
Politik und Wettbewerbshüter müssen hier besonders wachsam sein. Und der Gesetzgeber hat ja bereits reagiert: Das Bundeskartellamt erhielt zuletzt erweiterte Befugnisse, unter anderem mit dem Ziel, den Wettbewerb in digitalen Märkten zu fördern.[11]
Mit Blick auf dieses Ziel sind folgende Aspekte besonders wichtig: Wegen der hohen Bedeutung von Daten für den Wettbewerb sollten Datenschutz und Wettbewerbsrecht eng aufeinander abgestimmt sein. Bei der Kontrolle von Fusionen und Übernahmen sollte verstärkt in den Blick genommen werden, ob sie den Datenvorteil einzelner Unternehmen weiter vergrößern würden.[12]
Auch Zeit spielt eine wichtige Rolle: Die Behörden müssen schneller und vorausschauender als früher handeln, um den Wettbewerb wirksam zu schützen. Gleichzeitig gilt es, die Anreize für Innovationen zu erhalten. Wichtig ist vor allem, die Barrieren zum Markteintritt niedrig zu halten, etwa indem Nutzer ihre Daten von großen Plattformen ohne viel Aufwand zu anderen Anbietern mitnehmen können.
3.2 Digitale Kompetenzen der Menschen fördern
Neue digitale Technologien verändern auch die Arbeitswelt. Früher waren es vor allem körperlich zu verrichtende Tätigkeiten, die dank des technischen Fortschritts ganz oder teilweise automatisiert wurden, etwa in der Landwirtschaft, der Textilherstellung oder der Automobilfertigung. In jüngerer Zeit betraf die Automatisierung auch einfachere kognitive Aufgaben, die Routine sind, zum Beispiel in der Buchhaltung.
KI könnte hier einen Paradigmenwechsel einleiten.[13] Denn mit ihrer Hilfe lassen sich auch komplexere Aufgaben erledigen, die keine Routine sind, etwa das Programmieren von Software oder das Zusammenfassen und Prüfen von Texten.
Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation deutet darauf hin, dass die jüngste Welle der generativen KI kein Jobkiller ist. Sie dürfte aber viele Berufsbilder verändern.[14] Denn in vielen Berufen können einzelne Tätigkeiten nun automatisiert werden.
Tätigkeitsprofile wandeln sich also und mit ihnen auch die Anforderungen an die Beschäftigten. Zugleich kann KI ein Werkzeug sein, das Menschen bei der Arbeit entlastet und unterstützt.
Mit dieser Unterstützung könnten auch Hürden zur Übernahme von bestimmten Berufen abgebaut werden, zum Beispiel vertiefte Kenntnisse in Fremd- oder Programmiersprachen. Dies wäre gerade in Zeiten des zunehmenden Fachkräftemangels von großem Nutzen. Und Beschäftigte könnten höherwertige Aufgaben übernehmen als bisher.
Klar ist: Die Digitalisierung ordnet die Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine neu. Das bricht bestehende Strukturen auf. Und teilweise löst es auch Unsicherheit aus.
Damit der Wandel vor allem als Chance und nicht als Bedrohung empfunden wird, sind Bildung und Offenheit für Neues zentral. Beides versetzt die Menschen in die Lage, mit den schnellen Veränderungen Schritt zu halten. So ist es wichtig, bereit zu sein, sich auf die neuen Möglichkeiten der Technik einzulassen, aber auch, ihre Grenzen und Risiken einschätzen zu können. Mit diesen Kompetenzen lassen sich die Chancen aus dem Wandel besser nutzen.
Umso bedenklicher ist, dass in Deutschland Bildungs- und Weiterbildungsangebote von Menschen zwischen 25 und 64 Jahren seltener genutzt werden als im EU-Durchschnitt. Zudem gehen hierzulande die Teilnahmequoten an Weiterbildungsmaßnahmen mit dem Alter deutlich zurück.[15]
Bildung darf nicht als etwas verstanden werden, das im ersten Lebensdrittel stattfindet und dann abgeschlossen ist. Falls das jemals so war: Diese Zeiten sind vorbei. Menschen haben nie ausgelernt – nicht nach der Schule, nicht nach der Ausbildung und auch nicht nach dem Studium. Lernen sollte zum stetigen Begleiter durch das ganze Berufsleben werden.
Hier ist auch der Staat gefragt. Das Bildungssystem sollte Schlüsselqualifikationen vermitteln, um auch in der Arbeitswelt von morgen bestehen zu können. Dazu gehören etwa Fähigkeiten für den Umgang mit neuen Technologien. Darüber hinaus kann der Staat mit seinem Netz der sozialen Sicherung helfen, besondere Härten aus dem Strukturwandel abzufedern.
3.3 Öffentliche Verwaltung leistungsfähiger aufstellen
Der Staat sollte die Digitalisierung auch nutzen, um selbst effizienter und leistungsfähiger zu werden. Konsequent digitalisierte Verwaltungsprozesse können eine doppelte Dividende haben:
Durch einfachere Kommunikation und besser vernetzte Behörden könnte der Aufwand sowohl der Verwaltung als auch der Unternehmen sinken. So könnten Anträge leichter gestellt werden. Und Informationen müssten nicht mehr so oft doppelt oder in unterschiedlicher Form geliefert werden. Im Ergebnis kann dies auch dazu beitragen, Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen.
Zudem können standardisierte bundeseinheitliche digitale Schnittstellen zur Verwaltung die Digitalisierung in den Unternehmen erleichtern. Auf diese positiven Ausstrahlungseffekte wies die OECD in ihrem jüngsten Wirtschaftsbericht für Deutschland hin.[16]
Als Zentralbank übernehmen wir unseren Part und setzen uns dafür ein, dass die Chancen der Digitalisierung im Zahlungsverkehr genutzt werden können. So ermöglichen wir zum Beispiel Zahlungen in Echtzeit. Zahlungsdienstleister können auf Basis von SEPA Instant Payments innovative und praktische Lösungen mit gesamteuropäischer Reichweite entwickeln.
Ein weiteres Beispiel sind bedingte Zahlungen. Damit lassen sich Verträge automatisiert abwickeln. Das ist nicht nur effizienter. Es reduziert auch das Risiko, dass nach erbrachter Leistung die andere Vertragspartei ihre Gegenleistung schuldig bleibt. Wenn Maschinen untereinander Zahlungen direkt und vollautomatisch auslösen können, sind noch weitere Anwendungen denkbar. So könnten bedingte Zahlungen zum Wegbereiter für innovative Geschäftsprozesse werden.
4 Stabiles Geld im digitalen Zeitalter
4.1 Digitaler Euro passt in immer digitalere Welt
Die Digitalisierung verändert auch, wie die Menschen bezahlen. Digitales Bezahlen wird immer beliebter. Sei es mit der Karte, dem Smartphone oder der Smartwatch. Etwa zwei Drittel der Ausgaben in Deutschland werden heute bereits bargeldlos getätigt. Bei den Jüngeren sind es schon ca. drei Viertel. Zum Vergleich: Vor sechs Jahren wurde noch knapp die Hälfte mit Scheinen und Münzen bezahlt.[17]
Angesichts dieser Entwicklung halte ich den digitalen Euro für einen wichtigen und logischen Schritt: Er wäre das (digitale) Pendant zu den (analogen) Euro-Banknoten, die es auch im digitalen Zeitalter weiter geben wird.
Mit dem digitalen Euro bekämen die Menschen die Möglichkeit, auch elektronisch mit staatlichem Geld zu bezahlen – sicher, kostengünstig und mit geschützter Privatsphäre. Und das in Echtzeit, im ganzen Euroraum und in sämtlichen Bezahlsituationen des Alltags, sei es an der Ladenkasse, unter Freunden oder bei Käufen im Internet.
Im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr könnte der digitale Euro auch zu mehr Wettbewerb führen. Zahlungen über Ländergrenzen hinweg sind heute oft nur mithilfe der wenigen großen internationalen Kartensysteme möglich. Der digitale Euro wäre hier zum einen selbst eine zusätzliche Option. Zum anderen könnte er privaten Bezahllösungen aus Europa helfen, gesamteuropäische Akzeptanz zu erreichen.
Der EZB-Rat hat nun entschieden, mit den Vorbereitungsarbeiten für einen digitalen Euro zu beginnen. Das begrüße ich sehr!
Dies war noch keine Entscheidung, ob ein digitaler Euro tatsächlich eingeführt wird. Darüber wird der EZB-Rat später entscheiden. Zuvor muss ein stabiler Rechtsrahmen geschaffen werden. Die EU-Kommission hat Ende Juni dazu einen Legislativvorschlag veröffentlicht. Selbst wenn alles gut läuft, werden noch vier bis fünf Jahre vergehen, bis der digitale Euro in unseren Wallets ankommt.
4.2 Preisstabilität weiterhin zentral
Bis dahin ist die Teuerungswelle, die wir seit Mitte 2021 erleben, hoffentlich längst Geschichte. Denn so dynamisch die Innovationskraft in der Wirtschaft sein sollte, so wichtig sind stabile Preise als ihr sicheres Fundament.
Erfreulicherweise ist die Inflationsrate im Euroraum gegenüber ihrem Höchststand vor einem Jahr inzwischen deutlich gesunken. Aber: Sie ist eben immer noch zu hoch. Im Oktober lag die Gesamtrate laut erster Schätzung bei 2,9 % und die Kernrate bei 4,2 %.
Für Verbraucherinnen und Verbraucher bedeutet Inflation Verlust von Kaufkraft. Dabei trifft sie Menschen mit geringem Einkommen in der Regel härter. Sie steht damit im Widerspruch zu Ludwig Erhards Anspruch Wohlstand für alle. Oder in seinen eigenen Worten: Die soziale Marktwirtschaft ist ohne eine konsequente Politik der Preisstabilität nicht denkbar.
[18]
Das zeigt auch: Preisstabilität leistet einen wichtigen Beitrag für wirtschaftliche Teilhabe und damit für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Der EZB-Rat ist fest entschlossen, die Inflation im Euroraum auf den mittelfristigen Zielwert von 2 % zurückzuführen. Und wir haben entsprechend gehandelt: Wir haben die Leitzinsen zehnmal in Folge erhöht, insgesamt um 450 Basispunkte. Der geldpolitisch maßgebliche Zinssatz liegt damit bei 4,0 %.
Vergangene Woche haben wir die Zinsen zum ersten Mal seit Juli 2022 unverändert gelassen. Angesichts des aktuellen Inflationsausblicks und der bereits erreichten geldpolitischen Straffung halte ich dies für richtig.
Unsere straffe Geldpolitik wirkt, aber wir dürfen nicht zu früh nachlassen. Vielmehr werden die Leitzinsen ausreichend lange auf einem ausreichend hohen Niveau liegen müssen.
Ob die Zinsen schon ihren Hochpunkt erreicht haben, lässt sich noch nicht sagen: Wir bleiben strikt datenabhängig.
Es bestehen verschiedene Aufwärtsrisiken für die Inflation. So könnten die geopolitischen Spannungen in Nahost die Energiepreise nach oben treiben und die mittelfristigen Aussichten unsicherer machen.
Unser geldpolitischer Kurs muss sicherstellen, dass die Inflation auf 2 % zurückkehrt. Die Inflation hat sich als hartnäckig erwiesen und ist noch nicht besiegt.
Die Menschen im Euroraum erwarten zu Recht von uns, dass wir unsere Aufgabe erledigen und Preisstabilität gewährleisten. Das ist meine oberste Priorität.
5 Schluss
Meine Damen und Herren,
vor 15 Jahren begann der Siegeszug der Smartphones. Ob wir in 15 Jahren auch noch Smartphones haben werden? Vielleicht haben bis dahin smarte Brillen den Markt erobert – oder etwas ganz anderes, was wir heute noch gar nicht kennen.
Klar ist: Der digitale Wandel wird weitergehen. Er eröffnet uns eine Fülle neuer Chancen für Produktivität, Wachstum und Wohlstand. Wir können diese Chancen nutzen, mit Gründergeist, Lust auf Innovation und Mut zum Fortschritt.
Den dafür passenden Rahmen zu schaffen, ist Aufgabe der Politik. Sie ist gefragt, Ludwig Erhards grundlegende Prinzipien für die soziale Marktwirtschaft zeitgemäß umzusetzen.
Als Präsident der Deutschen Bundesbank ist mein Fokus klar: Ich werde mich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass die hohe Inflation bald hinter uns liegt. Für stabiles Geld zu sorgen, ist der beste Beitrag, den die Geldpolitik zum Wohlstand für alle leisten kann.
Herzlichen Dank!
Fußnoten:
- Krugman, P. R. (1999), The Age of Diminished Expectations: U.S. Economic Policy in the 1990s, MIT Press, 4. Aufl.
- Deutsche Bundesbank, Zur Bedeutung der Digitalisierung für die Entwicklung der Arbeitsproduktivität, Monatsbericht März 2023, S. 45-67.
- Deutsche Bundesbank, Zur Bedeutung der Digitalisierung für die Entwicklung der Arbeitsproduktivität, Monatsbericht März 2023, S. 45-67.
- Crafts, N., Steam as a General Purpose Technology: A Growth Accounting Perspective, The Economic Journal, Vol. 114, No. 495.
- Gopinath, G., The Power and Perils of the “Artificial Hand”: Considering AI Through the Ideas of Adam Smith, Rede anlässlich des 300. Jahrestages der Geburt von Adam Smith, Universität Glasgow, 5. Juni 2023.
- Brynjolfsson, E., D. Li und L. R. Raymond (2023), Generative AI at Work, NBER Working Papers 31161.
- Brynjolfsson, E., D. Rock und C. Syverson (2021), The Productivity J-Curve: How Intangibles Complement General Purpose Technologies, American Economic Journal: Macroeconomics, Vol. 13, No. 1.
- Vgl. Interview in „Die Welt“ vom 11.11.2019.
- Erhard, L. (1957/1964), Wohlstand für Alle, 8. Aufl., Econ Verlag, Düsseldorf.
- Aghion, P., B. F. Jones und C. I. Jones, Artificial Intelligence and Economic Growth, in: Agrawal, A., J. Gans und A. Goldfarb (2019), The Economics of Artificial Intelligence: An Agenda, University of Chicago Press; siehe auch: The Economist, AI could fortify big business, not upend it, 24.08.2023.
- Siehe dazu auch: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kartellrecht-2183344
- Kak, A., und S. Myers West (2023), AI Now 2023 Landscape: Confronting Tech Power, AI Now
- Institute, https://ainowinstitute.org/2023-landscape.
- OECD, Artificial Intelligence and Employment, Policy Brief, December 2021.
- Gmyrek, P., J. Berg und D. Bescond (2023), Generative AI and Jobs: A global analysis of potential effects on job quantity and quality, ILO Working Paper 96.
- https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2023/PD23_42_p002.html
- OECD (2023), OECD-Wirtschaftsberichte: Deutschland 2023, OECD Publishing, Paris.
- BBk-Zahlungsverhaltensstudie 2021, Tabellen 5.2.2 und A. 5.2.1, Zahlungsverhalten in Deutschland 2021 (bundesbank.de)
- Erhard, L. (1957/1964), Wohlstand für Alle, 8. Aufl., Econ Verlag, Düsseldorf.