Anmerkungen zu Enrico Lettas Bericht „Much more than a market“ Podiumsdiskussion „Empowering the Single Market – Opportunities and challenges“

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

vielen Dank, dass Sie mir die Möglichkeit geben, auf Enricos hervorragende Präsentation einzugehen.

Enrico, Du beschreibst zu Beginn Deines Berichts das augenfälligste Paradoxon der EU-Infrastruktur: die Unmöglichkeit, mit dem Hochgeschwindigkeitszug von einer europäischen Hauptstadt in eine andere zu reisen.

Trotz dieses Missstands ist es Dir gelungen, quer durch den Kontinent zu reisen, um im Rahmen Hunderter Meetings mehrere Tausend Menschen zu treffen. Dafür danke ich Dir vielmals!

Und ich habe mich sehr darüber gefreut, dass Du auf Deinem Weg auch eine Pause eingelegt hast, um mit mir zu sprechen. 

Als Fazit Deiner Reise erläuterst Du in einem eindrucksvollen Bericht, wie der Binnenmarkt zum Nutzen aller Europäerinnen und Europäer gestärkt werden kann.

Der Abbau von Markteintrittsbarrieren, die Stärkung von Forschung und Innovation sowie die Unterstützung der marktbasierten Finanzierung für den notwendigen ökologischen und digitalen Wandel sollten ganz oben auf der wirtschaftspolitischen Agenda der EU stehen. Viele der im Bericht aufgeführten Vorschläge und Umsetzungspläne bilden wichtige Grundlagen für das Arbeitsprogramm der nächsten EU-Kommission.

2 Kapitalmarktunion

Als wir beide uns im März trafen, drehte sich unsere Diskussion vor allem um die Kapitalmarktunion – oder, wie Du sie bezeichnest, die „Spar- und Investitionsunion“. 

Ich setze mich nun schon seit vielen Jahren für die Vollendung der Kapitalmarktunion ein. Leider geht es damit nur sehr langsam voran. Die Integration der Kapitalmärkte wird bereits seit Langem – genauer gesagt seit dem Jahr 2015 – gefordert, und praktisch niemand spricht sich gegen die Kapitalmarktunion aus. 

Ein einheitlicher europäischer Kapitalmarkt lässt sich allerdings nicht mit einer einzigen Maßnahme erschaffen. Unter anderem aus diesem Grund ist die Kapitalmarktunion noch nicht vollendet. Vielmehr ist ein ganzes Maßnahmenbündel nötig, das zum Teil große Auswirkungen auf die nationalen Rechtsvorschriften hätte. 

Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel nennen. Die Vorschriften für Unternehmensinsolvenzen unterliegen nationalem Recht. 27 gleichberechtigt nebeneinander existierende nationale Insolvenzgesetze sind indes ein Hemmschuh für grenzüberschreitende Investitionen.

Natürlich wäre es gut, wenn wir wenigstens das Regelwerk harmonisieren könnten. Dafür wäre aber eine größere Bereitschaft erforderlich, Kompromisse einzugehen und nationale Interessen hintanzustellen.

Bundeskanzler Olaf Scholz stellte jüngst fest, dass es möglicherweise 27 Mal das beste Insolvenzrecht der Welt gebe. Aber, so sagte er, vielleicht wäre es besser, wir hätten einmal das zweitbeste, aber einheitlich für alle 27.[1] 

Ich denke, genau diese Einstellung hilft uns weiter. Andernfalls werden wir die Kapitalmarktunion niemals vollenden.

Da die europäischen Staats- und Regierungschefs die Relevanz dieses Themas mehr und mehr erkennen, bin ich zuversichtlich, dass wir Fortschritte erzielen werden. 

3 Die Rolle der Regierungen

Ganz allgemein bin ich der Meinung, dass Regierungen den Binnenmarkt am besten dadurch unterstützen können, indem sie sie gute Rahmenbedingungen schaffen. Und bevor sie auf direkte Marktinterventionen zurückgreifen, sollten die politischen Entscheidungsträger intensiv prüfen, ob tatsächlich ein fundierter und zwingender Fall von Marktversagen vorliegt oder ob es hohe Sicherheitsrisiken gibt.

Ich halte es für wenig sinnvoll, Anreize für die Finanzpolitik zu schaffen, Subventionen und staatliche Beihilfen zu erhöhen. Es dürfte Sie nicht überraschen zu erfahren, dass die Bundesbank einer Ausweitung des Spielraums für eine gemeinsame Schuldenaufnahme über das Programm „Next Generation EU“ hinaus skeptisch gegenübersteht. 

Dieses Programm war zweifellos ein Sinnbild der Solidarität während der Pandemie, doch seine Ergebnisse sind bislang eher durchwachsen. So hat etwa der Europäische Rechnungshof ernsthafte Zweifel an der Effizienz und wachstumsfördernden Wirkung von Transfers und Krediten geäußert.

Next Generation EU“ war eine nachvollziehbare Reaktion auf die pandemische Notlage. Angesichts des derzeitigen Integrationsgrads sollte das Programm aber eine einmalige Ausnahme von der Regel bleiben, dass die EU keine Kredite aufnehmen darf. 

Eine gemeinsame Schuldenaufnahme halten wir auch für Verteidigungszwecke nicht für nötig. Eine Steigerung der Verteidigungsausgaben ist durchaus im Rahmen der üblichen Haushaltsprozesse möglich. Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass die EU derzeit vor großen geopolitischen Herausforderungen steht und robuster werden muss.

Ein wichtiger Beitrag zur Steigerung unserer Widerstandsfähigkeit besteht darin, den Binnenmarkt zu stärken und den Wohlstand in Europa zu mehren.

4 Vollendung des Binnenmarkts

Glücklicherweise enthält Dein Bericht, lieber Enrico, eine ganze Reihe von Ideen, deren Umsetzung Europa nachhaltiger, wettbewerbsfähiger und wohlhabender machen würde.

Mehr als dreißig Jahre, nachdem der europäische Binnenmarkt ins Leben gerufen wurde, haben viele Menschen vergessen, wie sehr unser Wohlstand dadurch gewachsen ist. Das große Verdienst Deines Berichts besteht darin, dass er die Mängel des bestehenden Binnenmarkts aufzeigt und zugleich beschreibt, wie sie beseitigt werden können. 

So ist – wie auch Du feststellst – eine mangelnde Integration im Bereich der elektronischen Kommunikation und im Energiesektor zu beklagen. Beide Märkte sind nach wie vor stark fragmentiert. 

Es gibt keinen einheitlichen Telekommunikationsmarkt in Europa. Stattdessen existieren zahlreiche nationale Anbieter mit jeweils relativ wenigen Kunden. 

Und wir haben auch keinen gemeinsamen Energiemarkt. Der Energieschock nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat diese Schwäche nur allzu deutlich gemacht. 

Ein stärker integrierter Markt für netzabhängige Energiequellen würde die Effizienz erhöhen. Eine gute Netzinfrastruktur würde zudem dazu beitragen, erneuerbare Energien in das Elektrizitätssystem zu integrieren und somit die klimapolitischen Ziele der EU zu erreichen.

Darüber hinaus sind für den ökologischen Wandel in der Wirtschaft erhebliche Investitionen erforderlich. Dies ist übrigens einer der Gründe, weshalb wir die Kapitalmarktunion so dringend brauchen. 

Auch im Dienstleistungsverkehr und im Digitalsektor gibt es noch viel zu tun.

Verglichen mit Waren ist der Fernhandel mit Dienstleistungen naturgemäß schwieriger. Allerdings stellt der hohe Regulierungsgrad auf nationaler Ebene einen weiteren Grund dafür dar, dass Dienstleistungen in wesentlich geringerem Maße grenzüberschreitend gehandelt werden als Waren. 

Mithilfe der Digitalisierung könnte es jedoch gelingen, die Hürden der physischen Entfernung zu überwinden. Die Digitalisierung hat das Potenzial, dem Binnenmarkt neuen Schwung zu verleihen. 

Ich beglückwünsche Dich zu Deinem Bericht, Enrico. Er enthält zahlreiche wertvolle Vorschläge – nicht zuletzt zum Thema Digitalisierung. Ich hoffe, dass er Impulse für notwendige und sinnvolle Maßnahmen setzen wird.

 

Fußnote:

  1.  Rede von Bundeskanzler Scholz beim 23. Deutschen Bankentag am 23. April 2024 in Berlin