Schwerpunkte des Monatsberichts April

Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke

Makroökonomische Analysen bauen oft auf einer Zerlegung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität in die potenzielle (bzw. trendmäßige) Leistung und eine zyklische Komponente, die Produktionslücke, auf. Da die Produktionsmöglichkeiten einer Wirtschaft unbekannt sind, kann diese Lücke, die positive oder negative Werte annehmen kann, in der Praxis nur unter einem hohen Grad an Unsicherheit abgeschätzt werden. In der Vergangenheit haben sich einfache wie auch komplexere statistische Verfahren zur Ableitung eines Trend-Outputs am aktuellen Rand als wenig zuverlässig erwiesen. Der Umfang späterer Revisionen entsprach oftmals dem Ausmaß der zuvor ermittelten Lücke selbst. Ausschlaggebend dafür waren nicht so sehr Korrekturen am zugrunde liegenden Datenmaterial, sondern vielmehr die sich im Zeitablauf wandelnde Einschätzung der zyklischen Position.

Vergleicht man für die Produktionslücken in wichtigen Industrieländern die Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die aus ihren regelmäßigen Publikationen ab dem Frühjahr 1999 entnommen werden können, mit entsprechenden Echtzeit-Maßen aus einem einfachen statistischen Verfahren, erweisen sich die Angaben der internationalen Organisationen keineswegs als verlässlicher.

Die Revisionen sind groß, und die veröffentlichten Produktionslücken wechseln relativ häufig ihr Vorzeichen. Im Gegensatz zu den Ergebnissen einfacher Filtermethoden scheint sich dabei der Korrekturbedarf nicht auf Schätzungen am aktuellen Rand bei drehender konjunktureller Entwicklung zu beschränken. Vielmehr werden oftmals auch weiter in der Vergangenheit zurückliegende Produktionslücken revidiert. Maßgeblich hierfür sind Neuschätzungen des Potenzialpfads einer Wirtschaft.

Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass die internationalen Organisationen für den ausgewählten Länderkreis und Zeitraum die Produktionslücken für gerade abgelaufene Jahre häufig zunächst zu ungünstig, das heißt zu tief im negativen Bereich oder zu nah daran, veranschlagt haben. In nachfolgenden Runden sind diese Angaben in der Regel nach oben korrigiert worden. Entsprechend ist das Potenzial wichtiger Volkswirtschaften während des Booms zum Jahrtausendwechsel wie auch in den Jahren unmittelbar vor der globalen Finanzkrise wohl erheblich überschätzt worden. Anschließende Output-Verluste sind zunächst als zyklische Phänomene interpretiert worden. Erst im Zuge schwacher Erholungen scheint allmählich deutlich zu werden, dass vorangegangene Aufwärtsbewegungen nicht nachhaltig gewesen sind.

Vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass IWF und OECD ihre Angaben zu Produktionslücken am aktuellen Rand ebenso wie für weiter zurückliegende Jahre auch in Zukunft noch korrigieren werden. Angesichts dieser Unsicherheit ist in der wirtschaftspolitischen Praxis, etwa bei der Analyse konjunkturbereinigter staatlicher Defizite, aber auch im geldpolitischen Kontext, entsprechend große Vorsicht im Umgang mit derartigen Schätzungen geboten.

Einige Erklärungsansätze zur Inflationsentwicklung seit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise 

Nach dem scharfen Einbruch in den Jahren 2008/ 2009 hat sich die reale Wirtschaft in den meisten Industrieländern nur allmählich erholt, und die Arbeitslosenzahlen sind hoch geblieben. Dagegen waren die Inflationsraten vergleichsweise stabil. Eine Deflation, wie sie von manchen befürchtet worden war, ist nicht eingetreten, auch wenn in neuerer Zeit unter dem Eindruck aktuell niedriger Preissteigerungsraten solche Sorgen in der öffentlichen Debatte wieder lauter artikuliert worden sind. Im Monatsbericht werden Faktoren diskutiert, die wesentlich zu der beschriebenen Inflationsentwicklung nach der sehr schweren Rezession 2008/2009 beigetragen haben.

Zum einen scheinen die Zusammenhänge zwischen der Auslastung der heimischen Wirtschaft und der heimischen Inflation weniger deutlich als früher. Hinzu kommt, dass vor allem am aktuellen Rand die Messung des Auslastungsgrades einer Volkswirtschaft mit erheblicher Unsicherheit behaftet ist. Zudem gibt es Indizien, dass sich in den Jahren vor der Krise für die heimische Inflationsentwicklung verstärkt globale Faktoren offenbar an Bedeutung gewonnen haben. Insbesondere haben aber die Inflationserwartungen wenig auf die damaligen aktuellen Ereignisse reagiert.

Dies deutet darauf hin, dass es den Notenbanken in der Vergangenheit gelungen ist, die Erwartungen solide und nahe bei ihren Zielwerten zu verankern und so nach Einbruch der Krise eine sich selbstverstärkende Spirale aus tatsächlichen und erwarteten Preisänderungen zu verhindern. Entscheidend, um auch in der Zukunft dieses Vertrauen zu bewahren, ist eine klare Definition von Preisstabilität als mittelfristigem Ziel der Geldpolitik und ein glaubwürdiges Festhalten an diesem Stabilitätsziel. Dafür ist es nicht nur notwendig, dass die Geldpolitik transparent und berechenbar bleibt. Es kommt auch darauf an, dass andere Politikbereiche die Voraussetzungen dafür schaffen, dass im Nachkrisenumfeld ein tragfähiges realwirtschaftliches Wachstumsmodell und solide öffentliche Finanzendurchgesetzt werden.

Implikationen der Geldmarktsteuerung des Eurosystems während der Finanzkrise

Im Verlauf der Finanz- und Staatsschuldenkrise haben sich Quantität, Qualität und Charakter der geldpolitischen Refinanzierungsgeschäfte des Eurosystems, die den Kern der Geldmarktsteuerung bilden, stark verändert. Seit Herbst 2008 gewährt das Eurosystem den Banken Kredite in Vollzuteilung, das heißt im nachgefragten Umfang und zum festen Zins. Zudem stellte es den Banken diese Mittel zeitweise über teils sehr lange Laufzeiten zur Verfügung.

Diese besonderen Maßnahmen spiegeln unter anderem das Bestreben des EZB-Rats wider, die Voraussetzungen für die Kreditversorgung und die geldpolitische Transmission zu gewährleisten. Diese und andere krisenbedingte Veränderungen beim Einsatz der Instrumente der Geldmarktsteuerung stellen gleichwohl Präzedenzfälle dar: Das Eurosystem steuerte nicht mehr lediglich Liquidität und Zinssätze am Interbanken-Geldmarkt, sondern wirkte an der Finanzierung von Banken bis in den Bereich von Kapitalmarktlaufzeiten mit.

Den erzielten kurzfristigen Stabilisierungswirkungen der Maßnahmen stehen jedoch auch Nebenwirkungen gegenüber, die an Bedeutung gewinnen, je länger die Sondermaßnahmen genutzt werden: So vermindern langfristige Mittelbereitstellung und Vollzuteilung bei den Refinanzierungsgeschäften im Zusammenwirken mit der Absenkung des Bonitätsschwellenwerts für notenbankfähige Sicherheiten und der Verengung des Zinskorridors die Anreize für notwendige Anpassungen im Banken- und Finanzsystem und verzögern auf diese Weise tendenziell die Normalisierung am Interbanken-Geldmarkt.

Eine Abkehr von den krisenbedingten Sondermaßnahmen steht derzeit nicht an. Das Eurosystem wird die Praxis der großzügigen Bereitstellung von Finanzierungsmitteln an Geschäftsbanken, die diese selbst am Markt oft nicht zu vergleichbaren Konditionen erhalten können, jedoch nicht unbegrenzt fortführen können. Für die Zukunft wäre aber anzustreben, dass die Teilnehmer an geldpolitischen Refinanzierungsgeschäften grundsätzlich auch über einen Zugang zum Interbanken-Geldmarkt verfügen. Ferner sollten Geldmarktgeschäfte und liquiditätsbereitstellende geldpolitische Operationen aus Sicht der Institute zumindest näherungsweise Substitute sein. Auf dem Weg zu einer wieder marktgerechteren Geldmarktsteuerung muss das Eurosystem früher oder später die Anreize für die Geldmarktaktivität verbessern, das Zuteilungsvolumen bei den liquiditätsbereitstellenden Operationen beschränken, sowie die Bonitätsanforderungen und Sicherheitsabschläge für marktfähige notenbankfähige Sicherheiten an die Marktpraxis anpassen.

Die zurzeit im Vorfeld der Übernahme der einheitlichen Bankenaufsicht durch die EZB durchgeführte Prüfung der Bankbilanzen wird die Normalisierung des Refinanzierungsverhaltens der Banken flankieren und den Vertrauenszuwachs an den Geld- und Finanzmärkten stärken: Dabei können und müssen Schwachpunkte in den Bilanzen der untersuchten Institute aufgedeckt, der Handlungsbedarf identifiziert und Entscheidungen über erforderliche Kapitalmaßnahmen oder gegebenenfalls die Abwicklung von Instituten vorbereitet werden.