„Preisdruck könnte länger anhalten“ Interview mit der Wirtschaftswoche

Das Interview führten Maja Brankovic, Malte Fischer und Christian Ramthun.

Herr Nagel, viele Deutsche träumen von den eigenen vier Wänden. Was raten Sie ihnen? Sollen sie jetzt noch schnell eine Immobilie kaufen oder lieber ein Jahr warten und auf sinkende Zinsen setzen? 

Ich sehe, Sie wollen mich gleich aus der Reserve locken. Aber ich werde mich hüten, Tipps zum Immobilienkauf und zur Baufinanzierung zu geben. 

Aber zu den Zinsen können Sie doch sicher etwas sagen? 

Ich kann Ihnen sagen, dass wir am Immobilienmarkt ein Jahrzehnt mit außergewöhnlich niedrigen Zinsen hinter uns haben. In den vergangenen zwei Jahren sind die Bauzinsen dann steil angestiegen. Mittlerweile sind Baukredite wieder etwas günstiger geworden. Darin spiegeln sich die Erwartungen der Märkte über die künftige Entwicklung der Leitzinsen. 

Wird die Europäische Zentralbank (EZB) die Leitzinsen bei der nächsten Sitzung im Juni senken? 

Wir im EZB-Rat haben uns nicht festgelegt. Wir werden in den nächsten Wochen die eingehenden Daten genau analysieren und dann entscheiden. Aber eine Leitzinssenkung im Juni ist wahrscheinlicher geworden.

Das Inflationsziel der EZB liegt bei 2 Prozent. liegt die Inflationsrate in der Euro-Zone bei 2,4 Prozent, ohne Energie- und Nahrungsmittel sind es sogar 2,9 Prozent. 

Entscheidend für uns im EZB-Rat ist die mittelfristige Preisentwicklung. Aktuell gehen die Teuerungsraten zurück. Aber es gibt Risiken. Der Ölpreis liegt angesichts der Spannungen im Nahen Osten ein gutes Stück höher als im Vorjahr. Gas wiederum hat sich in Europa kräftig verbilligt. Die Energiepreise werden ein Unsicherheitsfaktor bleiben. In der Lohnentwicklung gibt es ebenfalls Unwägbarkeiten. Für den Euro-Raum rechnen wir für dieses Jahr derzeit mit Lohnsteigerungen von 4,5 Prozent. Wenn die Löhne kräftiger steigen als erwartet, könnte der Preisdruck länger anhalten, vor allem bei Dienstleistungen. Es ist also noch nicht völlig klar, ob die Inflationsrate im nächsten Jahr wieder beim Zielwert von zwei Prozent landen wird und dann auf diesem Niveau bleibt. 

In den USA ist die Inflationsrate jüngst wieder gestiegen. Eine Zinssenkung ist dort weiter in die Ferne gerückt. Befürchten Sie im Euro-Raum Ähnliches? 

Wir im EZB-Rat tragen Verantwortung für die Preisentwicklung im Euro-Raum. Wenn sich die Preise und die Wirtschaft entwickeln wie erwartet, würde ich eine Senkung der Leitzinsen im Juni befürworten. Die jüngsten Daten aus den USA erinnern aber daran, dass die Rückkehr der Inflation zum Zielwert kein Selbstläufer ist. Deshalb ist es richtig, dass sich der EZB-Rat mit Blick auf eine Zinssenkung im Juni nicht festgelegt hat.

Wenn die EZB ihre Leitzinsen senkt und die US-Notenbank ihre länger hoch hält, könnte das den Dollar verteuern. Die Euro-Länder müssten mehr für Importe zahlen. Könnte das die Inflation wieder anheizen? 

Was die Fed machen wird, wissen wir nicht. Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen. Es ist klar, dass von den USA immer Rückkoppelungseffekte auf den Euro-Raum ausgehen. Und die berücksichtigen wir dann natürlich. Der Wechselkurs ist dabei allerdings nur einer von vielen Einflüssen auf die Inflation.

EZB-Direktorin Isabel Schnabel hat jüngst darauf hingewiesen, dass der neutrale Zins, bei dem die Wirtschaft spannungs- und inflationsfrei wächst, höher sein könnte als bisher vermutet. Bedeutet dies, dass die EZB die Zinsen nicht wieder auf null Prozent drücken wird? 

Der neutrale Zins beschäftigt die Wissenschaft seit vielen Jahren. Die Spannweite der Schätzungen ist enorm und verändert sich im Zeitablauf. Deshalb finde ich Schätzungen zum neutralen Zins nicht sonderlich hilfreich, um aktuell die Geldpolitik daran auszurichten. Er gibt aber eine gedankliche Orientierung für die langfristige Ausrichtung der Geldpolitik. So könnten die grüne Transformation der Wirtschaft und Spannungen im Welthandel den neutralen Zins in den nächsten Jahren steigen lassen. Dass die EZB die Leitzinsen bald wieder auf null Prozent drückt, halte ich auch deshalb für wenig wahrscheinlich.

Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland war zuletzt sehr schwach. Sind wir wieder der kranke Mann Europas wie zur Jahrtausendwende? 

Ganz bestimmt nicht. Damals war die Arbeitslosigkeit viel höher, und die Ertragslage der Unternehmen war deutlich schlechter. Aktuell gibt es erste Anzeichen, dass die deutsche Wirtschaft im Laufe des Jahres wieder Fahrt aufnimmt. Die jüngsten Produktionszahlen legen nahe, dass das erste Quartal 2024 schon etwas besser ausgefallen ist als erwartet. Und wenn wir auf die gängigen Indikatoren schauen, hat sich die Unternehmensstimmung deutlich verbessert.

Womit rechnen Sie konkret?

Nachdem die Wirtschaft im vierten Quartal 2023 noch um 0,3 Prozent geschrumpft ist, erwarte ich für 2024 derzeit insgesamt ein leichtes Wachstum. 

Das heißt, es wird dann wieder alles paletti am Standort Deutschland? 

Nein, Deutschland leidet unter strukturellen Wachstumshindernissen. Wenn ich mit Unternehmerinnen und Unternehmern rede, dann höre ich sehr oft zwei Faktoren, die ihnen das Leben schwer machen: die ausufernde Bürokratie und die hohen Steuern. Die Bundesregierung hat diese Probleme erkannt. Es gibt Vorschläge von Bundesfinanzminister Christian Lindner und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Wichtig ist, dass hier zeitnah Lösungen gefunden werden. 

Darüber reden wir seit Jahren. Haben Sie da noch Hoffnung?

Wir können Dinge ändern – mit Mut und Überzeugung. Nehmen wir ein Beispiel aus der Bundesbank: Nach den Erfahrungen in der Pandemie haben wir nun eine deutlich flexiblere Arbeitsorganisation. Unsere Beschäftigten arbeiten mittlerweile sehr viel mobiler und agiler. Das bedeutet einen geringeren Bedarf an Büroraum. Daher haben wir alte Zöpfe wie einen – von Aufgaben unabhängigen – Anspruch auf ein Einzelbüro abgeschnitten. Und Büros können jetzt flexibler genutzt werden – Stichwort Desk-Sharing. Naturgemäß finden das erst mal nicht alle gut. Aber wir können so Büroflächen und Kosten sparen. 

Deutschland war immer ein Stabilitätsanker für Europa ...

... und es ist wichtig, dass Deutschland ein Stabilitätsanker in Europa bleibt! 

Trotzdem plädieren Sie für eine Reform der Schuldenbremse?

Das ist überhaupt kein Widerspruch. Die Bundesbank ist eindeutig für eine verlässliche, bindende Schuldenbremse. Aber wir können uns eine stabilitätsorientierte Reform vorstellen. Solide Staatsfinanzen stehen dabei weiterhin im Zentrum. Gleichzeitig halten wir einen moderat größeren Spielraum für vertretbar – und zwar unter ganz bestimmten Voraussetzungen.

Nämlich?

Wenn Deutschlands Staatsschulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung unter 60 Prozent fallen, wird ein wichtiges europäisches Stabilitätskriterium erfüllt. Dann könnte dem Staat eine größere Nettokreditaufnahme ermöglicht werden als bisher, etwa eine Defizitquote in einer Größenordnung von ein bis anderthalb Prozent. Das wäre wohl auch mit den neuen EU-Regeln kompatibel. Und der zusätzliche Spielraum könnte für Investitionen reserviert werden, um Wachstumskräfte zu stärken und Standortbedingungen zu verbessern. 

Würde eine solche Reform der Ampelregierung nützen? 

Nein, der gesamtstaatliche Schuldenstand liegt aktuell noch über 63 Prozent. Eine solche Reform soll auch kein Notbehelf für akute Finanzierungsprobleme sein, sondern die Haushaltsregeln zukunftssicher weiterentwickeln. Und ich möchte noch betonen: Die Schuldenbremse ist kein Hemmschuh für öffentliche Investitionen. Wir müssen erst einmal die bereitgestellten Mittel nutzen. Denn bisher werden vorhandene Gelder zum Teil schlicht nicht abgerufen, weil es an anderen Dingen scheitert. Zum Beispiel Bürokratie.

Denken Sie bei Ihren Reformvorschlägen an die Zeit ab 2028, wenn das Sondervermögen Bundeswehr erschöpft ist? Eine lockere Schuldenbremse wäre da sicher hilfreich.

Damit hängt unser Vorschlag nicht zusammen. Aber es ist richtig: Grundsätzlich sollten die Ausgaben des Bundes auch aus seinem Haushalt finanziert werden. Die Regierung und das Parlament müssen dann dort die Einnahmen beschließen und im Rahmen der verfügbaren Mittel die Ausgaben priorisieren.

Muss die Bundesregierung dann bei den Sozialausgaben sparen?

Über Prioritäten diskutieren und entscheiden muss die Politik. Das ist ihre Aufgabe und ihr Vorrecht. 

Wir würden gerne auch über Gold reden …

Das können wir gerne, die Bundesbank hat ja die zweitgrößten Goldreserven in der Welt hinter den USA! Wir halten 3353 Tonnen. Die waren Ende letzten Jahres gut 200 Milliarden Euro wert. 

Die Bundesbank hat 2023 einen Milliardenverlust erwirtschaftet. Warum verkaufen Sie nicht Ihr Gold, um diese auszugleichen? 

Das steht nicht zur Debatte. Im vergangenen Jahr haben wir unsere Wagnisrückstellung aufgelöst sowie einen substanziellen Teil aus unseren Rücklagen entnommen. So haben wir Verluste von 21,6 Milliarden Euro ausgeglichen. In den nächsten Jahren dürften die Verluste allmählich geringer werden. Die Verluste kommen vor allem daher, dass wir höhere Zinsen auf die Einlagen der Geschäftsbanken bei der Bundesbank zahlen müssen. Zugleich haben wir aus der Zeit der sehr expansiven Geldpolitik noch immer hohe Wertpapierbestände, die uns nur wenig Zinsen einbringen. Wir werden künftige negative Ergebnisse bilanziell als Verlustvortrag ausweisen. Aber wir werden später auch wieder Gewinne erzielen und den Verlustvortrag ausgleichen. 

Wann werden Sie dem Bundesfinanzminister wieder Gewinne überweisen? 

Wenn wir den Verlustvortrag ausgeglichen haben, werden wir zunächst unsere Wagnisrückstellung wieder auffüllen. Ich erwarte, dass es noch längere Zeit dauern wird, bis wir wieder Gewinne an das Finanzministerium ausschütten können. 

Der Bundesrechnungshof warnt, die Bundesregierung müsse die Bundesbank wegen der Verluste rekapitalisieren. Sehen Sie das ähnlich?

Nein, diese Ansicht teile ich nicht. Unsere Bilanz ist solide, nicht zuletzt wegen der Goldbestände und der Bewertungsreserven dafür. Wir müssen nicht rekapitalisiert werden. 

Die Verluste der Notenbanken sind die Gewinne der Geschäftsbanken. Warum verlangt die EZB von den Geschäftsbanken keine höhere Mindestreserve? Denn darauf müsste die Notenbank keine Zinsen zahlen.

Der EZB-Rat hat vor geraumer Zeit den Mindestreservesatz auf ein Prozent abgesenkt. Ich hätte mir auch wieder eine größere unverzinste Mindestreserve vorstellen können. Allerdings ist das für mich kein Instrument, um den Geschäftsbanken Gewinne wegzunehmen, sondern um dafür zu sorgen, dass die Geldpolitik möglichst effizient umgesetzt wird. 

Die EZB hat beschlossen, in Zukunft dauerhaft Anleihen zu halten und den Banken so viel Geld zu leihen, wie diese wünschen. Warum halten Sie an diesen Instrumenten aus Krisenzeiten fest? 

Zunächst ist es so, dass unsere Bilanz noch über längere Zeit deutlich zurückgehen wird. Und das ist auch richtig so. In den vergangenen Jahren gab es Veränderungen an den Finanzmärkten. So haben sich die regulatorischen Rahmenbedingungen für die Kreditwirtschaft weiterentwickelt. Beispielsweise müssen die Banken mehr Liquidität vorhalten. Diese Veränderungen spiegeln sich im neuen geldpolitischen Handlungsrahmen wider, und viele Details sind noch nicht festgelegt. Wenn sich die Rahmenbedingungen verändern, passen wir unsere Instrumente an.

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