„Für Zinssenkungen ist es jetzt zu früh“ Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

Das Interview führten Gerald Braunberger und Dennis Kremer.

Herr Nagel, Sie spielen gerne Tennis. Wenn der Kampf gegen die Inflation ein Tennismatch wäre, wie wäre dann gerade der Spielstand?

Ich spiele Tennis seit meiner Kindheit und habe dabei gelernt: Psychologie ist ganz wichtig. Es gewinnt nicht immer derjenige, der die besseren Schläge hat, sondern oft derjenige, der hartnäckig dranbleibt und mentale Stärke zeigt. Das ist durchaus vergleichbar mit unserem Kampf gegen die Inflation: Wir dürfen nicht zu früh nachlassen und den Fokus verlieren. Ob wir jetzt im fünften Satz im Tiebreak sind, weiß ich nicht. Aber wir sind sicherlich in einer spielentscheidenden Phase.

Kommt im Sommer nun die erste Zinssenkung oder nicht?

Wir schauen auf die Daten, nicht auf den Kalender. Wir sind im Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) zuversichtlich, dass unsere Geldpolitik wirkt und die Inflation wieder zu ihrem Zielwert von zwei Prozent zurückbringt. Dass die Inflation deutlich zurückgeht, ist ein gutes Signal. Es sieht auch so aus, als wäre eine sogenannte sanfte Landung im Euroraum möglich. Das heißt: die Inflation zu senken, ohne gleichzeitig die Konjunktur zu sehr zu belasten.

Wenn das alles so gut funktioniert, wie Sie behaupten: Warum warnen dann so viele Notenbanker davor, dass im Kampf gegen die Inflation die letzte Meile die schwierigste sei?

Weil die Versuchung so groß ist, vorzeitig nachzulassen. Lassen Sie es mich anschaulich machen. Derzeit scheinen wir die richtige Dosis an Zinserhöhungen zu verabreichen. Aber wie in der Medizin ist es auch in der Geldpolitik wichtig, dass wir den Patienten genau im Auge behalten. Dabei dürfen wir die Dosis nicht zu früh reduzieren und das Erreichte aufs Spiel setzen. Das ist eine Herausforderung. Noch sind die Preisaussichten aus meiner Sicht nicht eindeutig genug: Deshalb ist es für Zinssenkungen jetzt zu früh.

Was macht Ihnen mehr Sorge: geopolitische Unruhen oder höhere Löhne, beispielsweise als Resultat von Tarifkonflikten? Beides kann einen neuen Inflationsschub hervorrufen.

Das kann beides eine Rolle spielen. Eine geopolitische Eskalation ist sicherlich ein besonderes Risiko. So hat der schreckliche Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine von heute auf morgen Energie teurer gemacht. Das hat Unternehmen und Haushalte erheblich belastet und Unsicherheit geschaffen. Auch wenn wir diesen Schock mittlerweile überwunden haben, unterliegen die Energiepreise noch immer großen Schwankungen. Unsicherheit geht derzeit auch vom Nahen Osten aus; der Seeweg durchs Rote Meer ist bedroht. Darum tun wir Geldpolitiker gut daran, anhand tatsächlicher Daten und des aktuellen Ausblicks zu entscheiden. Das gilt genauso für die Löhne. Sie steigen üblicherweise erst relativ spät, sie sind ein nachlaufender Indikator. Die Gewinne sind vorher gestiegen. Beides – Gewinne und Löhne – können die Inflationsrate stark beeinflussen, das müssen wir im Blick haben.

Noch etwas anderes erschwert Ihnen die Arbeit: Die deutsche Wirtschaft läuft zwar schlecht, trotzdem steigt die Arbeitslosigkeit kaum.

In der Tat, in früheren Wirtschaftszyklen hat eine Phase wie derzeit häufig zu Entlassungen geführt. Das war schlimm für die Betroffenen. Zugleich hat es den Druck auf die Löhne und damit auf die Preise gemildert. Dieser klassische Zusammenhang scheint außer Kraft gesetzt. 2023 war zwar kein gutes Jahr für die deutsche Volkswirtschaft, und auch 2024 wird kein Jahr des starken Wachstums. Trotzdem behalten die Unternehmen ihre Beschäftigten. Denn sie haben Sorge, keine Leute zu finden, wenn sich die Lage wieder bessert. Fachkräftemangel und demographische Veränderungen bewirken hier eine spürbare Wende. Entscheidend für uns ist aber, dass wir die Inflation auf unseren Zielwert drücken. Und das wird uns auch bei einem robusten Arbeitsmarkt gelingen.

Freut man sich als Bundesbanker über den Wirtschaftsrückgang? Schließlich zeigt das doch, dass die höheren Zinsen wirken.

Gefreut hätte ich mich, wenn Alexander Zverev sein Halbfinale bei den Australian Open gewonnen hätte. Im Ernst: Natürlich freue ich mich nicht über eine Konjunkturflaute oder gar eine Rezession. Aber mein Auftrag als Bundesbankpräsident lautet, Preisstabilität herzustellen, und ich will einen guten Job machen. Mir ist noch genau die Skepsis in Erinnerung, die uns Zentralbankern entgegenschlug, als die Inflation 2022 so stark anstieg. Jetzt sieht es danach aus, dass die Inflation 2025 nahe an unserem Zielwert liegen wird – und das bei sehr niedriger Arbeitslosigkeit. Das finde ich dann schon ein ordentliches Ergebnis.

Die deutsche Inflationsrate ist im Januar recht deutlich gefallen. War das ein Ausrutscher?

Die Teuerungsrate in Deutschland ist im Januar wie erwartet wieder gesunken - nach europäischem Maßstab auf 3,1 Prozent. Im Dezember gab es mit 3,8 Prozent einen Ausreißer nach oben. Das lag aber an einem Sondereffekt bei Energie, der jetzt entfallen ist. In den nächsten Monaten erwarte ich, dass sich die Preisentwicklung für Nahrungsmittel und andere Waren weiter normalisiert. Die gute Nachricht: Die Inflationsrate bewegt sich 2024 im Großen und Ganzen in die richtige Richtung, und zwar nach unten.

Die Finanzmärkte spekulieren auf schnellere Zinssenkungen noch im Frühjahr. Notenbanker wie Sie versuchen, solche Erwartungen zu bremsen. Schenken Sie den Märkten nicht zu viel Aufmerksamkeit?

Das sehe ich nicht so. Wir haben ein Interesse daran, dass die Öffentlichkeit und auch die Finanzmärkte unseren geldpolitischen Kurs verstehen. Wir wollen eine Situation vermeiden, bei der die Finanzierungsbedingungen am Markt zu locker werden und damit die Inflation nicht mehr genügend dämpfen. Auch abrupte Kursschwankungen sind nicht wünschenswert. Es bringt zwar nichts, ständig mit Argusaugen auf die Finanzmärkte zu schauen. Aber hin und wieder sollten wir Zentralbanker den Akteuren schon ein Signal geben. Dabei ist für mich nicht von Bedeutung, ob die Marktteilnehmer nun mit ihren Wetten richtig liegen oder nicht – vor Fehlspekulationen müssen wir niemanden bewahren. Aber wenn die Finanzierungsbedingungen nicht zum Inflationsausblick passen, wird es schwieriger, Preisstabilität zu wahren. Und das ist nun einmal unsere Aufgabe.

Wenn es an den Finanzmärkten kaum Reaktionen gibt wie nach der jüngsten EZB-Sitzung, sind Sie zufrieden?

Hier widerspreche ich nicht. Die Märkte haben offenbar die jüngsten Beschlüsse des EZB-Rats gut antizipiert.

Früher hat der EZB-Rat versucht, mithilfe der sogenannten Forward Guidance etwas Orientierung im Hinblick auf die künftige Geldpolitik zu geben. Ist dieses Instrument vollständig abgeschafft?

Nein, aber das Instrument ist eher nichts für unsichere Zeiten, in denen viele Szenarien für die Wirtschaft denkbar sind. Die Unsicherheit über die weitere Entwicklung ist groß. Deshalb können wir derzeit keine solche Orientierung zu unserem künftigen Kurs geben. Aber in einem Bereich geben wir ja bereits jetzt einen klaren Pfad vor – bei den Anleihekaufprogrammen. Den Anleihebestand werden wir bis zum Jahresende deutlich abbauen.

Ihr Vorgänger Jens Weidmann hat jüngst gefordert, dass dies noch schneller gehen müsse.

Ich kann die Position nachvollziehen, aber wir haben in dem Bereich eine Beschlusslage im EZB-Rat, die ich voll und ganz mittrage.

Man hat das Gefühl, dass viele Banken die Lage ausnutzen: Die Institute erhalten von der EZB vier Prozent Zinsen auf überschüssige Reserven, geben diesen Zinssatz aber nur selten an die Sparer weiter. Müssten Sie da nicht tätig werden?

Es stimmt, dass viele Banken den Zinsimpuls auf der Einlagenseite nicht vollständig weitergeben. Wir wollen, dass die Geldpolitik möglichst effizient wirkt. Genau darum haben wir beschlossen, die Mindestreserve der Banken bei der Zentralbank nicht mehr zu verzinsen. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich mir eine größere unverzinste Mindestreserve hätte vorstellen können.

Bekommen Sie böse Briefe von Bankchefs? Sie haben sich ja auch für eine Vollendung der Bankenunion ausgesprochen – also für eine gemeinsame europäische Einlagensicherung. Die Sparkassen lehnen das ab.

Nein, böse Briefe bekomme ich nicht. Aber ich tausche mich mit der Branche aus und weiß, dass die Begeisterung hierzulande nicht groß ist. Trotzdem finde ich diese Diskussion wichtig und habe sie bewusst angestoßen. Wir brauchen die Banken- und Kapitalmarktunion. Genau das hat auch Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Haushaltsrede gefordert. Das Ganze steht aus meiner Sicht in einem größeren Zusammenhang: Europa muss enger zusammenrücken und eine größere Robustheit aufbauen – das gilt auch für unseren Finanzsektor. Ich bin überzeugt, dass es hier Kompromisslinien gibt, bei denen die Sparkassen und Volksbanken Teil der Lösung sind.

Viele Sparer fürchten, ihr Geld sei nicht mehr sicher, wenn es eine gemeinsame europäische Einlagensicherung gäbe. Können Sie die Menschen beruhigen?

Das Geld der Sparerinnen und Sparer ist deutlich sicherer als früher. Zur höheren Stabilität der Banken hat auch die Regulierung beigetragen. Wir hatten im vergangenen Frühjahr die Unruhe um die Regionalbanken in den Vereinigten Staaten und den Zusammenbruch der Credit Suisse. Beides hat die Banken in der Europäischen Union kaum in Mitleidenschaft gezogen. Das zeigt, wie sehr unsere Geldhäuser an Stärke gewonnen haben.

Haben Sie einen Tipp für Sparer, was sie in diesen Zeiten am besten tun sollten?

Konkrete Empfehlungen kann ich nicht geben, aber einen Tipp hätte ich schon: Um welches Finanzprodukt es sich auch handelt – wer Geld anlegen möchte, muss das Produkt im Grundsatz verstehen und sich vorher genau damit beschäftigen. Wer sich ein neues Auto kauft, liest sich ja auch vorher die Testberichte dazu durch.

Herr Nagel, Sie haben jüngst in Frankfurt eine Kundgebung gegen Rechtsextremismus besucht. Warum war Ihnen das wichtig?

Wie viele andere auch wollte ich als Privatperson ein Zeichen setzen für unsere Demokratie und gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Hinzu kommt: Als Wirtschaftsstandort ist Deutschland darauf angewiesen, qualifizierte Menschen aus aller Welt anzuziehen und Beschäftigte mit Migrationshintergrund zu integrieren. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir uns zu Wort melden, wenn wir unsere Demokratie und Grundwerte gefährdet sehen.

Wünschen Sie sich vom Führungspersonal dieser Republik mehr solcher Zeichen?

Wir sind als Bürgerinnen und Bürger gefordert, für unsere Demokratie einzutreten, vielleicht noch stärker als bisher. Es gibt für mich jedenfalls genügend Anlass, Haltung zu zeigen.

Haben Sie sich schon einmal bei dem Gedanken ertappt, dass auch die Fehler der EZB zum Erstarken der Ränder beigetragen haben könnten?

Man sollte immer selbstkritisch sein, sich hinterfragen. Das gilt auch für die Geldpolitik. Aber das Erstarken am rechten Rand ist ein weltweites Phänomen, und das wird nicht wieder mit der Inflation verschwinden. Ich schaue nach vorne: Wir müssen im Hier und Jetzt klug handeln. Da versuche ich für die Bundesbank, die richtigen Akzente zu setzen.

Braucht es nicht auch bessere Politik in Berlin, insbesondere im Bereich Wirtschaft und Finanzen?

Die Politik kann und muss den richtigen Rahmen setzen. Wir stehen vor großen Herausforderungen – Energiewende und demographischer Wandel. Wir müssen unsere Standortbedingungen verbessern und die Basis für nachhaltiges Wirtschaftswachstum sichern. So gilt es, etwa bei Genehmigungsverfahren deutlich schneller zu werden, auch bei der Digitalisierung und beim Abbau der Bürokratie. Das sind alles Beispiele, die angegangen werden müssen. Da muss Deutschland besser werden.

Besteht Hoffnung, dass es mit der aktuellen Bundesregierung tatsächlich noch Fortschritte geben wird?

Ich finde es zu einfach, pauschal die Bundesregierung zu kritisieren. Sie hat 2022 gezeigt, dass sie schnell und robust auf eine Energiekrise reagieren kann. Ich möchte die Regierung ermuntern, diese Geschwindigkeit auch bei anderen Themen an den Tag zu legen.

Wie sehr ärgert Sie es dann, dass Sie im Vorstand der Bundesbank mit halber Mannschaft arbeiten müssen? Drei der sechs Vorstandsposten sind momentan vakant.

Nach dem Ausscheiden von Claudia Buch, Joachim Wuermeling und Johannes Beermann fehlt in der Tat die Hälfte der Vorstände. Die Politik in Bund und Ländern ist für die Besetzung unserer Vorstandspositionen zuständig. Derzeit liegt der Ball beim Bund und den Ländern Hessen und Nordrhein-Westfalen. Ich gehe davon aus, dass sie zeitnah dafür sorgen, dass der Vorstand bald wieder komplett ist.

Sie haben häufig von Ihrem Wochenendeinkauf erzählt. Hat die Inflation dazu geführt, dass Sie auf manche Produkte komplett verzichten?

Die Inflation spürt jeder in den Geschäften. Sie belastet gerade die Menschen, die ohnehin mit wenig Geld auskommen müssen. Aber auch ich staune über den Preisanstieg bei einigen Produkten und kaufe insgesamt bewusster ein.