„Europa ist unter Druck“ Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Das Gespräch führten Inken Schönauer und Christian Siedenbiedel.
Frau Mauderer, Sie sind seit September Vizepräsidentin der Bundesbank, nicht mehr nur einfaches Vorstandsmitglied. Hat sich etwas verändert?
Ganz praktisch vertrete ich jetzt den Bundesbankpräsidenten, bin bei den Zinssitzungen des EZB-Rates dabei und wirke mit an der internationalen Zusammenarbeit, etwa bei den Treffen von G 7 und G 20. Ich empfinde dieses Amt als Ehre und als große Verantwortung zugleich.
Sehen Sie Dinge in Ihrer neuen Funktion anders?
Auf jeden Fall. Was sehr hilfreich ist, sind die Sitzungen G 7 und G 20. Sie schaffen für mich in Zeiten mit enormen geopolitischen Herausforderungen einen tieferen Einblick, der für unsere Aufgabe hier wichtig ist.
Wie ist denn derzeit der Einfluss der Geopolitik auf die Finanzmärkte, für die Sie nun offiziell zuständig sind?
Die Finanzmärkte sind ein Stimmungsbarometer: Positive wie negative Nachrichten bewegen die Märkte. In der Regel beruhigen sie sich auch sehr schnell, sobald eine Nachricht verarbeitet ist. Nehmen Sie die Wahl des amerikanischen Präsidenten: Im Vorfeld hatten wir viel Bewegung an den Finanzmärkten, weil es so viel Unsicherheit gab. Es gab die Sorge, dass man lange auf das Wahlergebnis warten müsste. Als sich dann relativ schnell ein Ergebnis abzeichnete, haben sich die Märkte beruhigt. Jetzt fangen sie aber an, jeden Tweet des neuen amerikanischen Präsidenten zu bewerten.
Wie fällt denn das Urteil der Märkte über die zu erwartende US-Politik aus?
Kurzfristig könnte sie den USA zu noch mehr Wachstum verhelfen. Das bewertet der Markt sehr positiv. Aber wir wissen ja auch: Das alles hat seinen Preis. Die amerikanische Staatsverschuldung könnte signifikant steigen, so auch das Risiko für Inflation und Handelsstreitigkeiten. Das sind Risiken, die an den Märkten über die Zeit eine größere Rolle spielen dürften.
Muss man sich auf Turbulenzen oder zumindest höhere Volatilität an den Finanzmärkten einstellen?
Ja, auf höhere Volatilität auf jeden Fall. Wir haben schon vor der US-Wahl gesehen, dass die Bewegungen am Markt zunehmen. Das wird in einer global vernetzten Welt immer wieder zu beobachten sein.
Wie gehen Sie denn intern in der Bundesbank damit um, dass Donald Trump Dinge ankündigt, von denen gar nicht klar ist, ob sie so oder doch anders umgesetzt werden?
Natürlich analysieren wir die neuen Umstände in den USA. Sie können Wachstum, Verschuldung und Inflation in den Vereinigten Staaten beeinflussen, aber auch globale Auswirkungen nach sich ziehen.
Vor Kurzem hat Donald Trump Zölle für Kanada angekündigt. Das wirkt etwas skurril.
Es ist nicht unsere Aufgabe, das zu bewerten. Wir als Bundesbank werden zunächst unser eigenes Land und den Euroraum betrachten und verschiedene Szenarien berücksichtigen. Deutschland wird nach meiner Erfahrung von außen nicht so kritisch gesehen, wie es hier manchmal diskutiert wird. Insbesondere um unser Länderrating "AAA" beneiden uns viele. Wir haben eine sehr solide Haushaltspolitik. Die Märkte gehen davon aus, dass wir nach der Wahl weiter eine solide Haushaltslage haben werden - selbst bei leichten Anpassungen der Schuldenbremse. Kritisch wird an den Märkten dagegen gesehen, dass unser Wachstum so schwach ist. In der Tat ist die Wachstumsschwäche nicht nur konjunkturell bedingt, sondern hat tiefer liegende Ursachen. Deshalb ist es so wichtig, dass es Strukturreformen gibt.
Was scheint Ihnen denn im Moment wahrscheinlicher, dass die neue Politik von Trump eher das Wachstum in Deutschland belasten könnte oder uns eher Inflation bringt?
Die konkreten Folgen hängen sehr davon ab, welche Maßnahmen tatsächlich ergriffen werden, und das ist derzeit noch nicht abzusehen. Sollte es tatsächlich zu starken, breit angelegten Zollanhebungen kommen, dürfte das vermutlich die Wirtschaftsleistung dämpfen und die Inflation im Euroraum und in Deutschland erhöhen. Aber eine wichtige Rolle wird auch spielen, wie Europa sich aufstellt.
Am Morgen nach jenem Tag, an dem klar wurde, dass Trump amerikanischer Präsident wird, und später in Deutschland die Ampelkoalition zerbrach, da hat der Dax ein Prozent im Plus gelegen. Wie erleben Sie solche Tage?
Wir können jederzeit und überall die Kursbewegungen in sehr kurzen Abständen verfolgen, sei es im Büro oder auf dem Smartphone unterwegs. Der Koalitionsbruch hat die Märkte nicht weiter beunruhigt. Das ist ein gutes Zeichen.
Es kann passieren, dass eine neue Regierung in Deutschland zur Hängepartie wird. Würde das an den Märkten größere Probleme bereiten?
Eine solide Haushaltslage trägt zur Beruhigung aller bei.
Das ist ein Unterschied zu Frankreich, wo es nach der Wahl Turbulenzen um die Staatsanleihen gab.
Wir sind in einer anderen Situation als Frankreich. Es ist aber wichtig, auf den Wachstumspfad zu kommen. Europa ist unter Druck. Der Einfluss, den Europa auf internationaler Ebene hat, hängt stark von unserer Wirtschaftsstärke ab. Deshalb ist es wichtig, dass nach der Wahl die neue Regierung schnell ins Amt kommt, um weiter an den Stellschrauben für mehr Wachstum zu drehen.
Was wäre denn aus Ihrer Sicht am Wichtigsten, um mehr Wachstum zu bekommen?
Die Herausforderungen sind vielfältig. Um die richtigen Prioritäten zu setzen, muss es einen intensiven Austausch zwischen den Unternehmen und der öffentlichen Hand geben. Beide Seiten müssen einander zuhören und verstehen, wo der Schuh drückt.
Ist der Finanzplatz Frankfurt zuletzt im internationalen Vergleich ein bisschen zurückgefallen?
Der deutsche Finanzplatz hat Potential . . .
. . . hört sich eher nach der Schulnote Vier plus an.
Nein, man sollte den deutschen Finanzplatz nicht unterschätzen: Triple-A-Länderrating, zahlreiche In- und Auslandsbanken, eine hochprofitable Deutsche Börse und viele einflussreiche europäische Aufsichtsbehörden. Deutschland hatte nach dem Brexit die Nase vorn. Frankreich hat seither aber mehr als aufgeholt. Zum Teil mit steuerlichen Erleichterungen, vor allem aber auch mit dem Umwerben von Unternehmen. Paris und auch London haben sehr ausgefeilte Finanzplatzstrategien und sehr schlagkräftige Lobbyvereinigungen über Branchen hinweg. Davon kann Deutschland noch viel lernen.
London hat seine Rolle als zentralen Finanzplatz Europas durch den Brexit am Ende doch nicht verloren?
London hat schon deutlich an internationaler Bedeutung eingebüßt. Der Brexit war alles andere als hilfreich. Wir sehen in London, dass Unternehmen ein "Delisting" vornehmen, also von der Börse gehen, oder ihren Börsengang gleich in den USA machen.
Wenn Trump in Amerika die Banken deregulieren wird, wofür ja einiges sprechen könnte: Werden dann auch hierzulande Forderungen nach Deregulierung aufkommen, um für die Banken international gleiche Bedingungen zu haben?
Meine Erfahrung aus mehr als 20 Jahren Finanzplatzbeobachtung ist: Weniger Regulierung wollen die Banken immer. Aber den Instituten in Europa ist sehr wohl auch bewusst, dass ihre Eigenkapitalstärke sie zu resilienten Adressen macht und dass keiner in Deutschland etwas davon hat, wenn im Finanzsystem ein Spieler wegbricht und das System fragil macht.
Sie haben die Kapitalmarkt- und Bankenunion in Europa als "dringlich" bezeichnet. Können Sie das eigentlich selbst noch hören?
Das ist in der Tat ein Projekt, das schon lange währt. Wir müssen das jetzt wirklich zu Ende bringen. Europa und Deutschland spüren den Druck. Das könnte begünstigen, dass sich etwas bewegt. Im Kern geht es darum, Europa zu stärken, um eine wirtschaftliche und politische Kraft auf der Weltbühne zu sein. Dazu gehört die Banken- und Kapitalmarktunion, weil sie letztlich mehr Wachstum ermöglicht.
Hinter der Forderung kann sich jeder versammeln. Aber wenn es dann konkret wird mit der europäischen Bankenkonsolidierung, wie beim Fall einer möglichen Übernahme der Commerzbank durch die italienische Bank Unicredit, heißt es in Deutschland: Bitte nicht.
Ein Musterbeispiel für Veränderungsbereitschaft ist doch der Euro. Deutschland ist mit der starken D-Mark in den Euro gegangen. Als Exportnation haben wir am Ende sehr davon profitiert. Wir haben viel gegeben, aber noch mehr bekommen.
In Deutschland umstritten bei der Bankenunion ist die Frage der gemeinsamen Einlagensicherung für die Sparer. Würden Sie dafür plädieren, dass Deutschland auch mit anderen Ländern wie Italien eine gemeinsame Einlagensicherung haben sollte?
Teile der Bankenunion sind vollzogen, schon das hat sehr viel Resilienz im Bankensystem in Europa geschaffen. Jetzt ist in der Tat die Frage, was ist eigentlich mit der gemeinsamen europäischen Einlagensicherung? Ich denke, Deutschland als Exportnation hat sehr viel davon, auf starke Nachbarn mit stabilen Banken zählen zu können. Es gibt unterschiedliche Modelle, wie man so eine Einlagensicherung auf europäischer Ebene konstruieren könnte. Als Kompromiss ist auch eine Hybridlösung denkbar, bei der nationale Einlagensicherungen bestehen bleiben, aber durch ein europäisches System ergänzt werden. Man sollte eine Einigung finden. Denn es geht darum, die Risiken gemeinsam zu schultern. Am Ende muss jeder einen Beitrag für ein stabiles Europa leisten - Deutschland und andere Mitgliedstaaten.
Die EZB hat sich ja klar positioniert, dass es gut wäre, wenn es mehr europäische Champions unter den Banken gäbe. Sieht die Bundesbank das auch so?
Wir brauchen beides: international wettbewerbsfähige Banken und Banken, die genau die Bedürfnisse ihres Heimatlands kennen und der Wirtschaft auch in Krisen als Partner zur Seite stehen. Bestenfalls kommt beides zusammen.
Aber stimmt es denn überhaupt, dass sich ausländische Banken in Krisen als weniger verlässlich erweisen?
Es ist wichtig, heimische und ausländische Finanzinstitute vor Ort zu haben. Zu Beginn der Pandemie 2020 standen die Geld- und Kapitalmärkte einmal kurz vorm Kollaps. In solchen Situationen ist die Tendenz, zu den Kunden im Heimatmarkt zu stehen, höher. Einfach weil man sein eigenes Land und seine eigenen Kunden sehr gut einschätzen kann und Vertrauen aufgebaut hat. Gleichzeitig begrüßen viele das Angebot der Auslandsbanken und sehen diese als verlässlichen Partner.
Aber jetzt würden andere Banken, die schon sehr lange hier sind, auch sagen, wir sind hier so verwurzelt und kennen unsere Kunden auch sehr genau.
Wir haben hier in Frankfurt rund 100 Auslandsbanken. Einige davon seit Generationen. Es könnten auch gerne mehr sein. Das belebt das Geschäft. Am Ende zählt, dass wir genügend Finanzinstitute haben, die die notwendigen Strukturreformen beziehungsweise die Transformation der Wirtschaft finanzieren. Da kommt auch wieder die Kapitalmarktunion ins Spiel.
Wofür braucht dabei der einzelne Bürger die Kapitalmarktunion?
Ein Beispiel ist die Altersvorsorge. Noch nie hatten so viele Bürger den Wunsch, über Kapitalmarktprodukte fürs Alter vorzusorgen. Mit der Vollendung der Kapitalmarktunion würden alle Interessenten eine breitere Palette an Anlageprodukten aus ganz Europa zu einheitlichen Bedingungen finden. Da können Sie auf viel mehr zugreifen, ohne zu fürchten, dass zum Beispiel die rechtlichen Bedingungen in Spanien und Frankreich andere sind als in Deutschland. Auch würde sich die Investorenbasis für europäische Unternehmen vergrößern, die sich Geld am Kapitalmarkt besorgen möchten. Irgendwann könnten wir sogar wieder mehr Börsengänge in Europa sehen. Wir würden uns auch unabhängiger vom amerikanischen Kapitalmarkt machen. Es geht also um Investitionen von Europäern für Europäer.
Mit dem Bruch der Koalition in Berlin fängt man beim Thema kapitalgedeckte Altersvorsorge nun erst einmal wieder bei null an, oder?
Auch die künftigen Regierungen werden sich mit dem Thema Altersvorsorge befassen müssen. Das wird nicht nur die nächste Regierung beschäftigen, sondern zweifellos auch die darauffolgende. Insgesamt muss die Altersvorsorge breiter aufgestellt werden. Wir haben Nachbarn, bei denen das gut funktioniert: Wenn wir mal schauen, was die Schweden mit der gesetzlichen Altersvorsorge machen: Da wird sehr erfolgreich ein Teil in den Kapitalmarkt investiert. Bei der zweiten Säule, der betrieblichen Altersvorsorge, haben die Niederlande ein exzellentes Modell. Es ermöglicht den Leuten, relativ früh mit einer auskömmlichen Rente in den Ruhestand zu gehen. Und wenn wir uns als dritte Säule die private Altersvorsorge anschauen, können wir von Großbritannien oder auch Japan lernen: Dort gibt es Aktiendepots für die Altersvorsorge, die steuerbegünstigt sind. Das läuft sehr gut.
Einen gewissen Schub für das Kapitalmarktinteresse von jungen Leuten hatte das Thema Nachhaltigkeit gebracht. Geraten nun die nachhaltigen Anlagen bei Anlegern, Banken, aber auch bei Ihnen in den Hintergrund?
Das sehe ich nicht so. Vor einigen Jahren haben viele Menschen angefangen, ein grünes Anlageprodukt zu erwerben, um damit gleichzeitig Gutes zu tun und Vermögen aufzubauen. Die Finanzindustrie hatte parallel dazu entdeckt, dass das ein interessantes neues Geschäftsfeld ist. Einige Privatanleger haben dann bemerkt, dass ihr Anlageprodukt nicht so nachhaltig ist, wie sie dachten. Und in der Finanzindustrie wuchs die Angst, des "Greenwashings" bezichtigt zu werden. Beide Seiten sind deshalb ein bisschen vorsichtiger geworden. Das kann zur Folge haben, dass alles mehr Zeit braucht.
Sie würden aber nicht sagen, dass die Nachhaltigkeit angesichts der ganzen Krisen in der Welt auf der Prioritätenliste nach unten gerutscht ist?
Nein, denn Tragödien wie die Flutkatastrophe in Valencia werden wir immer häufiger sehen. Aber durch die geopolitische Lage gibt es jetzt sehr viele andere Themen, die parallel mitlaufen.
Was können die Notenbanken denn noch für die grüne Transformation tun? Wenn nun keine Anleihen mehr gekauft werden, können auch keine grünen Auswahlkriterien für Anleihekäufe mehr verwendet werden.
Wir in der Bundesbank interpretieren unser geldpolitisches Mandat sehr schlank, unser Ziel ist Preisstabilität. Aber die Klimarisiken können erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung, die Finanzstabilität und auch die Preisstabilität haben. In Ländern mit Extremwetterereignissen wie Stürmen, Dürren oder Fluten steigen beispielsweise die Lebensmittelpreise, zum Teil auch Energiepreise erheblich. Das kommt immer öfter vor. Das können wir als Zentralbanken nicht ignorieren.
Aber welche Instrumente hat die Bundesbank ohne die Anleihekäufe überhaupt, um da etwas zu machen?
Zunächst einmal ist klar: Die Anleihekäufe wurden zu geldpolitischen Zwecken getätigt, nicht um Klimapolitik zu betreiben. Sie fragen nach unserer Verantwortung in Sachen Klimarisiken. Die Zentralbanken können die enormen finanziellen Risiken adressieren, die mit dem Klimawandel einhergehen. Unsere jüngste Analyse hat gezeigt, dass das weltweite Bruttoinlandsprodukt bis zum Jahr 2050 aufgrund des Klimawandels um 15 Prozent geringer ausfallen kann, wenn die aktuelle globale Klimapolitik so bleibt. Dabei sind der Meeresanstieg und die Folge von Klimamigration noch gar nicht berücksichtigt. Ich würde Zentralbanken nicht Mahner nennen, aber ich glaube, dass wir die Pflicht haben, den Regierungen, aber auch dem Unternehmenssektor klar mitzugeben: Das ist die Welt, die euch erwartet. Das gehört zu unserem Job dazu. Dann müssen Regierungen und Unternehmen entscheiden, wie sie gegensteuern.
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