„Die Inflation ist ein gieriges Biest“ Interview mit der Zeit

Das Gespräch mit Joachim Nagel führten Kolja Rudzio und Roman Pletter.

Herr Nagel, was macht Ihnen für die deutsche Wirtschaft größere Sorgen: der Bruch der Ampelregierung oder die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten?

Wir wurden an einem Tag mit zwei gravierenden Ereignissen konfrontiert. Beide bringen für uns in Deutschland Unsicherheiten und Herausforderungen mit sich. Den Ausgang von Neuwahlen hierzulande kann ich natürlich nicht vorhersehen. Bestimmte Entscheidungen in den USA könnten allerdings aus meiner Sicht durchaus schwerwiegende Folgen haben.

Fangen wir in Deutschland an: Haben Sie die Ampelregierung bis zu ihrem Bruch am 6. November als Standortvorteil wahrgenommen?

Ich will mich nicht an parteipolitischen Bilanzierungen und Schuldzuweisungen beteiligen. Wichtig ist für die noch amtierende wie die künftige Bundesregierung: Es gibt großen Handlungsbedarf in unserem Land. Wir müssen so zügig wie möglich ins Umsetzen kommen.

Das haben Sie eineinhalb Jahre lang in jedem Interview gesagt.

Ja, und es bleibt richtig. Das nicht verabschiedete Wachstumspaket der noch amtierenden Regierung weist vielfach in die richtige Richtung. Hierzu gehören verlässliche Rahmenbedingungen für die zukünftige Energieversorgung und Bürokratieabbau. Unternehmen, private Haushalte und die Finanzmärkte wollen Verlässlichkeit, gerade wenn es um Entscheidungen wie Investitionen geht, mit denen sie sich längerfristig festlegen. Eine klare Botschaft ist wichtig. Auch wenn Sie sich im privaten Umfeld unterhalten, wird deutlich: Die Politik muss sich ihren Aufgaben stellen, sie muss für die Menschen Vertrauen und einen verlässlichen Rahmen schaffen. Bei einer Zentralbank ist das nicht anders: Wenn ich Zweifel daran säe, ob ich Preisstabilität erreichen kann, laufe ich Gefahr, meine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dann riskiere ich, dass alles nur noch schlimmer wird.

Ist es gut für verlässliche Rahmenbedingungen, dass die zerstrittene Ampelregierung ein Ende gefunden hat und der Kanzler nun die Vertrauensfrage stellt und Neuwahlen anstrebt?

Es ist nicht meine Aufgabe, das zu bewerten. Nötig ist eine Politik, die die Herausforderungen zügig und erfolgreich angeht – und dafür die richtigen Weichen stellt.

Wie beurteilen Sie den Zustand der deutschen Wirtschaft?

Man hört jetzt immer wieder, wir seien der kranke Mann Europas. Ich finde das unpassend, und lamentieren bringt uns nicht weiter. Aber klar ist: Wir müssen angesichts der Herausforderungen handeln. Inzwischen zeigen sich auch auf dem Arbeitsmarkt zunehmend Bremsspuren.

Vor einem Jahr haben Sie noch gesagt, um den würden Sie sich keine Sorgen machen!

Das Beschäftigungsniveau ist noch immer außergewöhnlich hoch. Aber inzwischen haben sich die Aussichten eingetrübt. Die Jobs, die wir in der Industrie verlieren, werden womöglich nicht mehr so problemlos wie bisher ersetzt durch neue Stellen im Dienstleistungsbereich.

Was sind die Hauptgründe für die Wirtschaftsschwäche?

Zunächst waren es Lieferengpässe und die Energiekrise. Darüber hinaus haben wir an Wettbewerbsfähigkeit verloren, das sieht man nicht nur an der zuletzt gesunkenen Produktivität.

Woran liegt das?

Die Bürokratie habe ich bereits angesprochen. Auch die Unternehmensteuersätze sind in Deutschland höher als in den meisten anderen Ländern der EU oder als in den USA. Das gilt ebenso für die Energiekosten. Aber auch die Unternehmen müssen sich frühzeitig auf Veränderungen einstellen. Zum Beispiel auf den demografischen Wandel. Auf fast jedem Lieferwagen von Handwerksfirmen finden Sie heute Stellenangebote. Und das ist der Mittelstand, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft.

Welche Reformforderungen leiten Sie daraus ab?

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, das Arbeitskräfteangebot in Deutschland zu erhöhen. Eltern sollten sich leichter dafür entscheiden können, berufstätig zu sein, weil sie in dieser Zeit ihre Kinder gut betreut wissen. Fachkräfte aus dem Ausland sind bereits jetzt bei uns in vielen Bereichen unverzichtbar, künftig können wir da noch größere Potenziale heben.

Streitthemen in der Koalition waren der Haushalt und die Höhe der Sozialausgaben. Gut ein Viertel des Bundeshaushalts fließt in Zuschüsse zur Rentenversicherung. Sie sprachen die Demografie selbst an. Wäre es nicht sinnvoll, die SPD wäre der FDP entgegengekommen, etwa damit, das Renteneintrittsalter anzuheben?

Unsere Bevölkerung altert, und so wie unser Rentensystem aufgestellt ist, sehe ich längerfristig große Fragezeichen. Ich finde es richtig, dass diejenigen, die länger arbeiten möchten, dies flexibel tun können. Schließlich sind die Menschen heute fitter als Gleichaltrige vor 40 oder 50 Jahren. Dabei bedeutet Arbeit oft auch soziale Teilhabe.

Das spricht auch für ein höheres Renteneintrittsalter ...

Ja. Es wäre sinnvoll, dass das Renteneintrittsalter nach 2031 schrittweise mit der Lebenserwartung steigt. Diese Position vertritt die Bundesbank schon lange, und sie hat auch entsprechende Berechnungen veröffentlicht. Wenn man an der Stellschraube nicht drehen will, zahlen wir an anderer Stelle einen Preis – bei den Sozialbeiträgen, der Rentenhöhe oder dem Bundeszuschuss.

Welche ökonomischen Folgen wird die Wahl von Donald Trump für Deutschland haben?

Einige der angekündigten Maßnahmen können gravierende Folgen haben. Trump hat vielfach höhere Einfuhrzölle angekündigt. Das würde Deutschland erheblich schaden, weil wir weniger Produkte in den USA absetzen würden. Und wir sind nun mal ein Exportland. Es geht aber nicht nur um Zölle, sondern auch um die amerikanischen Staatsfinanzen. Gemäß Trumps Ankündigungen könnte der öffentliche Schuldenstand in den nächsten zehn Jahren erheblich steigen, manche sprechen von bis zu acht Billionen Dollar.

Inwiefern betrifft das Europa?

Das trifft Europa auf unterschiedlichen Kanälen. Zölle sowie stark schuldenfinanzierte Politikmaßnahmen würden zunächst die Inflation in den USA anschieben. Die amerikanische Notenbank müsste dann auf bislang erwartete Zinssenkungen verzichten oder die Zinsen sogar wieder erhöhen, um diesen Inflationsdruck zu mindern. Der US-Dollar dürfte dadurch aufwerten, was wiederum Importe aus den USA in Europa und Deutschland verteuern könnte, aber auch zum Beispiel Öl, das in US-Dollar gehandelt wird. Sie sehen: Zölle hinterlassen auf beiden Seiten des Atlantiks Verlierer.

Können Sie den Wohlstandsverlust beziffern?

Sollten die Zollpläne umgesetzt werden, könnte uns das in Deutschland durchaus ein Prozent der Wirtschaftsleistung kosten. Das ist sehr schmerzhaft, wenn Sie bedenken, dass unsere Wirtschaft in diesem Jahr überhaupt nicht und im kommenden Jahr bereits ohne US-Zollpläne wohl unter einem Prozent wächst. Kämen die neuen Zölle tatsächlich, könnten wir sogar in den negativen Bereich rutschen.

Hat die hohe Inflation die US-Wahl beeinflusst?

Ich bin kein Wahlforscher, aber sicherlich hat die Preisentwicklung neben der Zuwanderung und der Abtreibungsdebatte zu den wichtigsten Themen gezählt. Wir Zentralbanken betrachten insbesondere die Veränderungsraten, also die Preissteigerung von vor einem Jahr zu heute. Diese liegt gegenwärtig bereits wieder in der Nähe von zwei Prozent. Viele Menschen schauen auf die Preisschilder und vergleichen die mit den Preisen, an die sie sich noch aus der Zeit vor der Pandemie erinnern. Und da sehen sie einen gewaltigen Unterschied.

Das ist ja auch nachvollziehbar, oder?

Auf jeden Fall. Ich merke das ja selbst beim Einkauf im Supermarkt. Und auch in Amerika habe ich das so empfunden, als ich bei der Jahrestagung des Weltwährungsfonds in Washington war: Dort ist man mittlerweile für einen Kaffee schnell acht Dollar und mehr los. Das zeigt, dass es im Alltag einen massiven Preisschub gab.

Der scheidende US-Präsident Joe Biden hat vor zwei Jahren den Inflation Reduction Act (IRA) aufgelegt, also ein Gesetz zur Reduzierung der Inflation. Es gibt die These, dass dieses Subventionsprogramm die Teuerung aber sogar verstärkt hat, weil die Staatsnachfrage die Preise in die Höhe getrieben hat. Stimmt das?

Für diese These gibt es durchaus empirische Belege. Während nämlich in Europa eher die hohen Energiepreise die Inflation getrieben haben, es also einen Angebotsschock gab, war in den USA die überhöhte Nachfrage der wesentliche Treiber. Das IRA-Programm und andere staatliche Programme haben diese noch verstärkt.

Der IRA wurde zum Großteil über Schulden finanziert, die in den USA ohnehin schon relativ hoch sind. Wie problematisch ist das?

Um hohe Staatsschulden zu finanzieren, muss es immer jemanden geben, der die Schuldverschreibungen auch kauft. Wenn die Schulden stark steigen, verlangen die Gläubiger üblicherweise einen Renditeaufschlag, also höhere Zinsen. Einen bedeutenden Teil der Staatsschulden, die die USA in den vergangenen zwei Jahrzehnten gemacht haben, hält übrigens China. Wenn sich die Welt stärker in Lager teilt, könnte es schwieriger und teurer für die USA werden, einen Abnehmer für ihre Schuldverschreibungen zu finden.

Die US-Regierung kommt nicht ohne neue Schulden aus, obwohl die Wirtschaft auf Hochtouren läuft und dadurch auch die Steuereinnahmen relativ hoch sind. Wie passt das zusammen?

Der Wunsch, mehr Geld auszugeben, als man hat, ist ja durchaus nachvollziehbar. Hohe und immer weiter steigende Schulden gehen aber auf Dauer meistens nicht gut aus. Spätestens in einer Wirtschaftskrise würde es finanzpolitisch herausfordernd. Dann steigen die Sozialausgaben, gleichzeitig brechen die Steuereinnahmen weg. Wenn Regierungen das aber schon in Boomzeiten machen, fehlt der finanzielle Spielraum für schlechte Zeiten.

Sehen Sie darin eine Gefahr für die Stabilität der Finanzmärkte?

Grundsätzlich sind überbordende Staatsschulden ein Risiko für die Finanzstabilität. In den vergangenen vier, fünf Jahren haben die Finanzmärkte relativ besonnen auf verschiedene Krisen reagiert, neue Schuldtitel fanden ihre Abnehmer, und die Risikoaufschläge waren auf einem relativ günstigen Niveau. Aber Finanzmärkte sind wie scheue Rehe. Werden sie aufgescheucht, können Märkte auch ziemlich volatil werden. Ich sehe derzeit keine Krise, aber in der aktuellen Lage müssen wir mit höheren Kursschwankungen rechnen. Die US-Schulden haben ein Ungemütlichkeitspotenzial.

Welche Risiken sehen Sie für die Aktienmärkte?

Die Unsicherheit ist mittelfristig ein großes Risiko. Welchen wirtschafts- und finanzpolitischen
Kurs werden die USA einschlagen? Kommen die Zölle? Wird die geopolitische Fragmentierung stärker? Wir könnten vor einer globalen ökonomischen Zeitenwende stehen.

Wie soll Europa damit umgehen?

Wir müssen uns zusammenraufen. Wir brauchen in dieser Situation nicht weniger, sondern mehr Europa. Die EU-Länder sollten Hemmnisse auf ihrem gemeinsamen Markt abbauen. Das beginnt bei der Kapitalmarktunion, die hoffentlich endlich kommt. Mit einheitlichen Regeln hätten professionelle Investoren wie auch Sparer bessere Möglichkeiten, Geld anzulegen. Ein anderes Problem ist, dass vieles zu langsam läuft in Europa. Auch das hat mit Regeln und Bürokratie zu tun. Unternehmen müssen sehr viel Personal und Zeit aufwenden, um den regulatorischen Anforderungen zu genügen. Für viele ist das einfach nur abschreckend.

Ihr Alltagsjob ist die Bekämpfung der Inflation. Ist die nun besiegt?

Die Inflation ist ein gieriges Biest. Dieses Biest haben wir inzwischen wieder unter Kontrolle. Der Preisauftrieb im Euroraum bewegt sich derzeit bei zwei Prozent, das ist der von uns im Eurosystem angestrebte Wert. Aber als Zentralbanker at man seinen Job nie erledigt. Die Kunst ist es, dass die Teuerungsrate auch nachhaltig bei zwei Prozent bleibt.

Kann es sein, dass Sie es mit der Kontrolle sogar übertreiben? Dass Sie die Zinsen zu lange hoch halten und damit der Wirtschaft so unnötig durch teure Kredite schaden?

Wir übertreiben nicht. Es gibt immer noch einen merklichen Preisdruck, der vor allem lohnbedingt aus dem Dienstleistungssektor kommt. Dieser Preisdruck wird durch den Rückgang der Energiepreise überdeckt. Die Kerninflationsrate, also die Rate ohne die stark schwankenden Preise für Energie und Lebensmittel, ist immer noch recht hoch. Sie liegt im Euroraum knapp unter und in Deutschland sogar noch über drei Prozent.

Zwei Studien renommierter Forschungsinstitute kamen gerade zu dem Schluss, die EZB hätte einen Teil der starken jüngsten Preissteigerungen verhindern können, wenn sie früher die Zinsen erhöht hätte. Kommen Sie mit Ihrer Zinswende vielleicht doch wieder etwas zu spät, so wie am Anfang der vergangenen Inflationswelle?

Timing war in der Geldpolitik schon immer ein großes Thema. Deshalb entscheiden wir auch in diesen unsicheren Zeiten von Sitzung zu Sitzung auf der Basis der dann vorliegenden Daten und Prognosen. Exakt den Punkt zu treffen, an dem man die Zinsen idealerweise erhöhen oder senken sollte, ist dennoch schwierig. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir auf dem richtigen Pfad sind.

Während der jüngsten Teuerungswelle war auch von einer Gierflation die Rede – also davon, dass manche Firmen die Preise überproportional erhöht und die allgemeine Inflationsstimmung ausgenutzt hätten. Hat das die Lage zusätzlich verschlechtert?

In Inflationsphasen nutzen Firmen, die eine starke Marktposition und wenige Wettbewerber haben, oft die Chance zu eigenen Preiserhöhungen. Die besondere Situation in der Coronakrise wird da hineingespielt haben. Dieses Verhalten einzelner Akteure hat ab etwa Mitte 2022, als die Inflationszahlen sehr hoch lagen, vorübergehend zur Inflation beigetragen und die Spitzen verstärkt.

In welchen Branchen vor allem?

Ohne auf einzelne Akteure und Bereiche einzugehen, kann ich sagen, dass das Phänomen nur vorübergehend aufgetreten ist und sich die Preisbildung wieder normalisiert hat. Auch das ist in diesen Zeiten eine gute Nachricht.

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