Bundesbankpräsident Joachim Nagel und der französische Notenbankgouverneur Villeroy de Galhau ©Banque de France – Matthieu Pattier

Es ist Zeit für eine echte Kapitalmarktunion Gemeinsamer Gastbeitrag von François Villeroy de Galhau, Governeur der Banque de France, und Joachim Nagel, Präsident der Deutschen Bundesbank im Handelsblatt und in Les Echos

Europa steckt mitten in der Krise – vom Krieg Russlands gegen die Ukraine über Energieknappheit bis hin zur Inflation. Wir verfassen diesen gemeinsamen Beitrag in der Überzeugung, dass sich unsere Einheit damit zwar schwieriger gestaltet, aber umso wichtiger ist. Und was für Europa als Ganzes gilt, gilt ganz besonders für die deutsch-französische Freundschaft. Wir dürfen es nicht zulassen, uns spalten zu lassen.

Im EZB-Rat arbeiten wir gemeinsam mit Christine Lagarde daran, die Inflation zu senken. Dabei diskutieren wir zwar bisweilen über den Kurs der Geldpolitik (was hier nicht Thema sein soll), doch wir verstehen es, unsere Differenzen durch einen vertrauensvollen Dialog zu überwinden. Heute wollen wir etwas grundsätzlicher auf die Finanzarchitektur in Europa eingehen. Trotz der Dringlichkeit der Krise werden nicht allein Feuerwehrleute gebraucht, sondern auch Architekten. Denn es geht um die Frage, wie die Energiewende finanziert werden kann, und zugleich darum, wie sich der Erfolg des Euro sichern lässt. Achtzig Prozent unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger fühlen sich dem Euro verbunden. Dieses historisch hohe Vertrauen inmitten der Krise ist ermutigend, erinnert uns aber auch an unsere Pflicht.

Die digitale und ökologische Transformation unserer Volkswirtschaften und die Alterung unserer Gesellschaften sind strukturelle Herausforderungen, die uns noch lange begleiten werden. Sie erfordern massive Investitionen, die vor allem durch privates Kapital finanziert werden müssen.

Daher hat die Europäische Union bereits 2015 die Initiative zur Förderung der Kapitalmarktunion auf den Weg gebracht. Deren Ziel besteht darin, durch den Abbau regulatorischer Hürden privates Kapital zu mobilisieren und Anreize für grenzüberschreitende Investitionen zu schaffen. Im Jahr 2020 verabschiedete die Europäische Kommission einen neuen Aktionsplan. Seine Umsetzung soll dazu beitragen, dass sich Europa zu einem echten Finanzbinnenmarkt entwickelt.

Weitere Fortschritte in diesem Bereich würden den Bürgerinnen und Bürgern Europas zugutekommen. Wir sollten das Projekt daher weniger vom technischen Standpunkt und der Frage nach dem „Wie“ aus betrachten, sondern mehr als eine Angelegenheit von großer Tragweite für die gesamte Wirtschaft. Wir wollen uns hier auf das „Warum“ fokussieren und zu einem stärkeren Gemeinschaftswillen aufrufen.

Kapitalmarktintegration kann zur Finanzstabilität beitragen, indem sie die Diversifizierung der Finanzierungsquellen über Ländergrenzen hinweg fördert und private Risikoteilung durch den Ausbau von Eigenkapitalfinanzierung stärkt. Die Risikoübernahme durch den privaten Sektor federt wirtschaftliche Schocks in Europa in erheblich geringerem Maße ab als in den Vereinigten Staaten.

Ereignisse wie der Brexit, die Corona-Pandemie und zuletzt der Krieg Russlands gegen die Ukraine mögen die Bemühungen in diesem Bereich verzögert und das Thema etwas in den Hintergrund gedrängt haben. Doch stärker denn je müssen wir die Energiewende beschleunigen. Dafür benötigen wir finanzielle Ressourcen, die von einer grünen Kapitalmarktunion bereitgestellt werden.

Auch im Wettbewerb mit anderen Regionen der Welt kann eine Kapitalmarktunion im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Strategie von Vorteil sein. Denn es handelt sich um eine Frage der strategischen Autonomie Europas. In Anbetracht der Notwendigkeit, das Wachstum in der EU anzukurbeln und zugleich die ökologische und digitale Transformation zu schaffen, müssen wir für inländische und ausländische Investoren attraktiver werden. Im internationalen Vergleich ist die Finanzierung von Unternehmen über Eigenkapital und Schuldverschreibungen nach wie vor unterentwickelt. Damit die europäischen Kapitalmärkte attraktiver werden, sind harmonisierte, verlässliche und unkompliziertere rechtliche Grundlagen entscheidend. Dementsprechend unterstützen wir die Einrichtung eines zentralen europäischen Zugangsportals (ESAP) als Informationsplattform für internationale Anleger.

Start-up-Unternehmen sehen sich in Europa aufgrund von fehlendem Wagniskapital immer noch Finanzierungsproblemen gegenüber. Durch eine Kapitalmarktunion mit einem harmonisierten, breiter angelegten und vertieften Finanzsystem hätten sie die Möglichkeit, ihre Finanzlage deutlich zu verbessern. Eine Kapitalmarktunion kann unsere Wirtschaft innovativer machen und zugleich für attraktive Anlagemöglichkeiten sorgen.

Was den Zugang zu den Kapitalmärkten betrifft, haben insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) Nachholbedarf. Die Verbriefung von KMU-Krediten könnte eine Brücke zwischen der Bankenfinanzierung und dem Kapitalmarkt schlagen.

Die Vollendung der Kapitalmarktunion ist sicherlich ein Langstreckenlauf. Um sie zum Erfolg zu führen, ist es wichtig, jetzt die richtige Route zu wählen. Ein wettbewerbsfähiges und integriertes Finanzsystem wird Europa dabei helfen, die Herausforderungen, die sich uns stellen, zu meistern.