Brexit-Finale und jetzt? – Finanzplatz Europa stärken! Gastbeitrag im ifo Schnelldienst

Eine Zeit lang in diesem Jahr schien fast vergessen, dass Großbritannien bald endgültig aus dem europäischen Binnenmarkt ausscheiden wird. Die Aufmerksamkeit lag auf den Herausforderungen durch die COVID-19-Pandemie. Je länger sich jedoch die Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien zogen, desto mehr geriet das Ende der Übergangsfrist am 31. Dezember 2020 wieder in den Fokus der Öffentlichkeit.

Außerdem schlug die britische Initiative eines Binnenmarktgesetzes jüngst hohe Wellen. Sollte das Gesetz im Vereinigten Königreich tatsächlich in Kraft treten, könnte die britische Regierung einen Teil der im EU-Austrittsvertrag vereinbarten Regelungen für den Fall eines ungeordneten Auslaufens der Übergangsperiode einseitig ändern.

Für den Finanzsektor war ein „no deal“-Szenario bereits erwartet worden. Denn mit Blick auf einen möglichen Vertrag über die künftigen Beziehungen zwischen EU und Vereinigtem Königreich galt ein detailliertes „financial chapter“ von Anfang an als sehr unwahrscheinlich. Sowohl die Bankenaufsicht als auch die betroffenen Kreditinstitute haben sich darauf frühzeitig eingestellt. Und mittlerweile können wir aus Sicht der Aufsicht sagen: Insgesamt sind die Finanzmarktakteure gut auf das Ende der Übergangsperiode vorbereitet.

Lizenzen

Im Vereinigten Königreich beheimatete Banken benötigen nach dem Wegfall des europäischen Finanzpasses eine Einheit, die im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) lizensiert ist. Nur dann können sie weiterhin Kunden im EWR bedienen. Umgekehrt brauchen Banken mit Sitz im EWR eine Lizenz im Vereinigten Königreich, um ihre Geschäftsbeziehungen über den Kanal aufrechterhalten zu können.

Die deutschen Aufsichtsbehörden haben bislang über 40 Erlaubnisanträge von Kreditinstituten, Wertpapierfirmen und Finanzdienstleistern bewilligt. Alle Institute, die rechtzeitig einen Antrag für eine Lizenz in Deutschland gestellt haben, haben diese zwischenzeitlich auch erhalten. Manche Institute konnten auch auf hierzulande bereits bestehenden Einheiten „aufbauen“ und benötigten lediglich eine Anpassung ihrer Erlaubnis.

Auch alle deutschen „outgoing banks“, die sich um eine befristete Erlaubnis der britischen Aufsichtsbehörde PRA bemüht haben, haben diese inzwischen erhalten. Sie können somit auch nach dem 31. Dezember im Vereinigten Königreich aktiv sein.

Finanzstandort Deutschland

Für viele „incoming banks“, also Institute aus dem Vereinigten Königreich, die in den EWR kommen, stellte sich die Frage nach dem optimalen Standort. Die Nähe zur Aufsicht mit dem Sitz der Zentrale des Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) machte Deutschland hier durchaus attraktiv. Hinzu kommen die wirtschaftliche Stärke, die politische Stabilität und die gute Infrastruktur.

Die fünf bedeutendsten „incoming banks“ mit deutscher Zentrale haben ihre aggregierte Bilanzsumme bislang um 158 Mrd. Euro auf 213 Mrd. Euro erhöht. Insgesamt wird sich nach Schätzungen der Bundesbank die Bilanzsumme der in Deutschland lizensierten „incoming banks“ im gesamten SSM auf rund 675 Mrd. Euro belaufen. Die neu in Deutschland ansässigen Banken werden zunächst bis zu 2.500 neue Vollzeitstellen schaffen, allerdings nicht nur hierzulande, sondern auch in anderen Ländern des SSM. Diese Zahl bezieht sich auf Kreditinstitute und angeschlossene Wertpapierfirmen; sonstige Finanzdienstleister sind hier noch nicht inbegriffen. Außerdem bauen auch Institute, die anderswo im EWR eine Lizenz erhalten, Arbeitsplätze in Frankfurt auf.

Für den Finanzplatz Europa kommt es nach dem Brexit darauf an, den Finanzmarkt auf dem Kontinent fortzuentwickeln und leistungsfähiger zu machen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist völlig offen, welche Rolle London mittel- und langfristig für den Finanzplatz Europa spielen wird.

Anforderungen an die Banken

Die europäische Aufsicht hat die Banken bei den Lizenz- und Verlagerungsvorgängen eng begleitet und ihre Erwartungen an die Institute klar kommuniziert. Dazu gehört, dass neue Niederlassungen im EWR vollwertige Banken sein müssen und nicht bloß „Briefkästen“ von Instituten, die eigentlich aus London heraus operieren. Die „incoming banks“ mussten für eine Erlaubnis daher unter anderem ein tragfähiges Geschäftsmodell, eine angemessene Personalausstattung und ein professionelles Risikomanagement vorweisen. Sie mussten außerdem Verträge mit Kunden, die sie künftig nicht mehr von London aus betreuen dürfen, in den SSM umbuchen.

Die europäische Aufsicht möchte sicherstellen, dass die im SSM zugelassenen Kreditinstitute solide sind und stürmische Zeiten aus eigener Kraft meistern können. Daraus ergeben sich mehrere Anforderungen an das Management der Banken.

Zuallererst müssen Geschäftsführer der hiesigen Institute für ihre Häuser auch tatsächlich verantwortlich zeichnen und Entscheidungen über Art und Umfang des betriebenen Geschäfts selbst treffen können. Zudem ist die Möglichkeit des „double hatting“ stark eingeschränkt: Manager sollten nicht zwei Leitungspositionen parallel in einem Drittstaateninstitut und bei einem hiesigen Institut innehaben.

Solides Management bedeutet für die Aufsicht auch, dass sich die Verantwortungsträger physisch vor Ort befinden und über schlagkräftige Compliance-, Controlling- und Revisionseinheiten verfügen. Auch darf die Londoner Niederlassung eines im SSM lizensierten Kreditinstituts nicht faktisch die Geschäfte mit der EU-Kundschaft weiterführen.

Die Erfahrung aus der Finanzkrise lehrt, dass Konzerneinheiten nicht zu sehr von ihren ausländischen Konzerngesellschaften abhängig sein dürfen, wie es 2008 etwa bei der Bank Lehman Brothers der Fall war. In London betreiben viele international agierende Banken „booking hubs“, die das Risikomanagement der gesamten Gruppe an einem Punkt bündeln. Dabei übertragen die ausländischen Einheiten bestimmte Risikokategorien, wie etwa Marktrisiken, auf den „booking hub“. Gerät der zentrale „hub“ allerdings in eine Schieflage, so ist die hiesige Einheit unter Umständen nicht mehr in der Lage, die auf sie zurückfallenden Risiken selbst zu verwalten. Denn sie verfügt dann nicht über die nötigen Händler und Risikomanager, und auch die technische Infrastruktur fehlt. Im Zuge des Brexit fordert die Aufsicht daher von den Instituten, dass jede SSM-Einheit die aus ihrem Geschäft entstehenden Risiken jederzeit selbst verwalten kann. Die Kreditinstitute dürfen Risiken aus eurozentrierten Transaktionen somit nur noch eingeschränkt an eine Drittstaateneinheit übertragen. Es mag sein, dass dadurch Doppelstrukturen entstehen, die Kosten für die Institute verursachen. Für die Aufsicht ist jedoch klar: Bei der Stabilität der im SSM agierenden Banken und bei der Effektivität der Aufsicht darf es keine Abstriche geben.

Derivate: Handel und Clearing

Beim Clearing sind derzeit die zentralen Risiken entschärft: Die EU-Kommission erkennt den britischen Regulierungsrahmen für zentrale Gegenparteien (CCPs) für die nächsten 18 Monate als äquivalent an. Drei britische CCPs haben sich daraufhin bei der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) registriert. Ohne die Anerkennung des Regulierungsrahmens hätte den „outgoing banks“ die Kündigung ihrer Mitgliedschaft bei diesen CCPs gedroht. Zudem hätten Zwangsabwicklungen der dort vorhandenen Bestandspositionen erhebliche Verwerfungen verursachen können.

Britische CCPs sind für viele im SSM lizensierte Banken nach wie vor sehr bedeutend, etwa beim Clearing von Derivatetransaktionen. Das Clearing-Geschäft in der EU verzeichnete in den vergangenen Jahren aber bereits deutliche Zuwächse. So erreicht die Eurex Clearing, eine Tochter der Deutschen Börse, beim Clearing von OTC-Zinsderivaten mittlerweile einen Marktanteil von 18 %. In den letzten drei Jahren stieg die Zahl der Clearing-Mitglieder von 60 auf 89. Die Zahl der Endkunden, die über die Eurex Clearing betreut werden, verdreifachte sich seit 2018 sogar auf derzeit 390.

Die Gültigkeit der Äquivalenzentscheidung der EU beginnt mit dem Ablauf der Übergangsperiode, ist aber zeitlich begrenzt. Die Risiken sind hier also lediglich aufgeschoben und nicht aufgehoben – beim Clearing bleibt also etwas zu tun.

In Bezug auf den Handel von Aktien und Derivaten am Finanzplatz London erfolgte bislang noch keine Äquivalenzentscheidung seitens der europäischen Behörden. Gleichwohl hat die europäische Marktaufsichtsbehörde ESMA klargestellt, dass EU-Wertpapierfirmen im UK registrierte oder auf britische Pfund lautende Aktien weiterhin im UK handeln dürfen. Im Bereich des Derivatehandels hat die ESMA indes angekündigt, keine Anpassungen an den bestehenden Regeln vorzunehmen. Dies kann insbesondere britische Zweigstellen europäischer Institute vor Herausforderungen stellen, daher müssen die Folgen dieser Entscheidung genau beobachtet werden.

Unwägbarkeiten bleiben

Regulierung, Aufsicht und Banken haben ihr Möglichstes getan, damit es am 1. Januar 2021 nicht zu gravierenden Störungen oder gar Turbulenzen im Finanzsektor kommt.

Unliebsame Überraschungen sind dennoch nicht ausgeschlossen. Dazu gehören kurzfristige Finanzmarktreaktionen zum Jahreswechsel, die sich unter Umständen negativ auf die Banken auswirken können. Der Brexit ist ohne jede Präzedenz, so dass historische Erfahrungswerte fehlen. Das macht die Abschätzung seiner Folgen für den Finanzmarkt besonders schwierig.

Das Ende der Übergangsfrist fällt außerdem mit anderen Unsicherheitsfaktoren zusammen. Letztlich bleibt unklar, wie die Kombination von Brexit, COVID-19-Pandemie und geopolitischen Risiken den Finanzmarkt und den Bankensektor beeinflussen wird.

Banken müssen verbleibende Vorbereitungslücken schließen

Viele der nach Deutschland kommenden Banken sind mit der Verlagerung ihrer Geschäfte in den EWR weit vorangeschritten. Das ist aus Perspektive der Bankenaufsicht erfreulich.

Jetzt kommt es aber darauf an, nicht schon vor der Ziellinie einen Gang zurückzuschalten, sondern auch die verbleibenden Hürden zügig zu nehmen. Beispielsweise haben noch nicht alle Institute die notwendige Verlagerung von Beschäftigten und Bilanzpositionen komplett vollzogen. Auch die Buchungsmodelle entsprechen noch nicht in allen Bereichen den Vorstellungen der Aufsicht.

Einige Institute wollen mit der Verlagerung ihrer Beschäftigten und Bilanzpositionen offenbar bis zur letzten Minute der Übergangsfrist warten – und auch einzelne Kunden zeigen sich noch zurückhaltend gegenüber der Aussicht, künftig nicht mehr von London aus betreut zu werden. Eine Strategie des Abwartens kann aber mit technischen und logistischen Herausforderungen verbunden sein, zumal die COVID-19-Pandemie Personalverlagerungen derzeit erschwert. Die Pandemie darf aber kein Vorwand sein, notwendige Anpassungen hinauszuzögern. Die Institute sollten jetzt handeln.

Auch die „outgoing banks“, die hierzulande lizensiert sind und in Zukunft weiterhin im Vereinigten Königreich aktiv sein wollen, sind solide auf das Ende der Übergangsfrist vorbereitet. Es bestehen lediglich noch vereinzelte Vorbereitungslücken, die auch diese Institute zügig schließen sollten.

Kein Deregulierungswettlauf mit London

Durch den Brexit erhöhen zahlreiche Kreditinstitute, die vormals von London aus operierten, ihre Präsenz auf dem Kontinent. Als Finanzstandort attraktiv zu sein, ist wichtig für die EU, darf aber nicht mit laxer Regulierung gleichgesetzt werden. Daher ist es gut, dass die EU-Regeln für den Banken- und Finanzsektor harmonisiert sind. Diese Regeln dürfen im Standortwettbewerb mit dem Vereinigten Königreich nicht aufgeweicht werden. Das Gleiche erwarten europäische Aufsicht und Regulierung von der britischen Seite.

Es ist aber zurzeit nicht absehbar, ob sich die britischen Akteure weiterhin zu hohen Regulierungsstandards bekennen oder ob sie eine „financial centre“-Strategie verfolgen wollen. Aktuelle Bestrebungen der City of London in Richtung Asien könnten für die Zukunft auf einen noch stärkeren globalen Fokus hindeuten.

Für die europäischen Regulatoren muss in jedem Fall klar sein, dass wir uns nicht auf einen möglichen Deregulierungswettlauf mit dem Vereinigten Königreich einlassen dürfen. Ein harter Brexit darf hierfür nicht der Startschuss sein.