"Nationale Abschottung wäre der völlig falsche Weg" Gastbeitrag im Focus
Globalisierung ist out, Abschottung ist in. Diesen verkürzten Schluss könnte man aus jüngsten Ereignissen und Entwicklungen ziehen: US-Präsidentschaftswahl, Brexit-Votum, Kampagnen gegen Freihandelsabkommen.
Immer mehr Menschen sind offenbar der Auffassung, dass unser Wirtschaftssystem sein Wohlstandsversprechen nicht mehr einlöst, fühlen sich durch den Wettbewerbsdruck bedroht oder haben gar Abstiegsängste. Dass eine Volkswirtschaft von der Globalisierung insgesamt profitiert, bedeutet eben in der Tat nicht, dass jeder einzelne Arbeitnehmer und jedes einzelne Unternehmen unterm Strich einen konkreten Vorteil für sich ausmachen kann. Abschottung und Protektionismus wären jedoch die falschen Antworten auf die verständlichen Sorgen der Menschen.
Globalisierung ist nämlich kein Nullsummenspiel. Im Gegenteil: Durch internationalen Handel steigt der Wohlstand. Handel fördert die Verbreitung von neuen, produktiven Ideen und neuen, besseren Produkten, und erlaubt es jedem, das zu tun, was er am besten kann. Und Handel steigert die Produktivität, was üblicherweise zu steigenden Löhnen führt. Offene Volkswirtschaften haben deshalb einen höheren Lebensstandard als geschlossene.
Globalisierung verlangt den Menschen aber auch viel ab. Um ihre Chancen zu nutzen, müssen sich Volkswirtschaften ständig wandelnden Rahmenbedingungen anpassen. Das bricht bestehende Strukturen auf und löst Unsicherheit aus.
Wie aber lässt sich verhindern, dass sich immer mehr Menschen als Verlierer dieser Entwicklung sehen? Zunächst sind eine gute Ausbildung und lebenslanges Lernen wichtig. Anpassungsfähigkeit betrifft aber nicht allein die Arbeitnehmer. Der internationale Wettbewerbsdruck zwingt auch Unternehmen, flexibel zu agieren.
Nationale Regierungen haben auch neben der Bildung Möglichkeiten: So können sie etwa Unternehmensgründungen erleichtern oder das Ausscheiden unrentabler, nicht zukunftsfähiger Unternehmen aus dem Markt vereinfachen. Ebenso ist an die Arbeitsmarktgesetzgebung zu denken, die einen Strukturwandel ermöglichen sollte, statt ihn zu behindern. Mit einem zielgenauen Einsatz sozialstaatlicher Mittel lassen sich schließlich Härten abfedern, die mit Globalisierung und technischem Fortschritt einhergehen können.
Genauso wichtig wie die nationale Politik ist eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen den Nationen – und hier spielen die G20 eine zentrale Rolle. "Eine globale Krise erfordert eine globale Lösung."
So einfach brachten die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer die Bedeutung ihrer Zusammenarbeit im April 2009 auf den Punkt. Und obwohl die "Gruppe der Zwanzig" ein informelles Gremium ist – oder vielleicht gerade deswegen –, gehen wichtige Impulse von ihr aus.
Die G20 ist im Zuge der Finanzkrise zum zentralen Forum für die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit aufgewertet worden. Ihre Mitglieder haben es nicht nur geschafft, gemeinsame Regeln für ein krisenfesteres Finanzsystem aufzustellen. Sie widerstanden auch der Versuchung, mit protektionistischen Maßnahmen zu reagieren und so womöglich einen Handelskrieg auszulösen. Das ist ein großes Verdienst.
Anfang Dezember hat Deutschland nun für ein Jahr die Präsidentschaft in der G20 übernommen. Für die finanzpolitische Agenda sind das Bundesministerium der Finanzen und die Bundesbank verantwortlich. Gemeinsam werden wir dafür werben, dass sich die G20 weiter zu offenen Märkten mit fairem Wettbewerb bekennen, dass Reformen für mehr Wachstum und Beschäftigung angestoßen und nachhaltig solide Staatsfinanzen angestrebt werden.
Die Aufgabe einer G20-Präsidentschaft besteht aber nicht nur darin, begonnene Prozesse fortzusetzen und weiterzuentwickeln. Es geht immer auch darum, neue und eigene Akzente zu setzen. Uns liegt daran, die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit der Mitgliedstaaten zu stärken. Wer gute Abwehrkräfte hat, wird zwar mal krank, ist aber schneller wieder auf den Beinen. Die Krise hat gezeigt, dass viele Volkswirtschaften schwache Abwehrkräfte hatten und deswegen die krisenbedingte Schwäche nur langsam überwinden konnten. Die deutsche Präsidentschaft regt an, gemeinsame Prinzipien zu entwickeln, die den G20-Staaten Orientierung geben bei der Stärkung ihrer wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit.
Der zweite Schwerpunkt der deutschen G20-Präsidentschaft ist es, Investitionen in Afrika zu fördern. Ein politisch stabiles, wirtschaftlich prosperierendes Afrika ist im Interesse der ganzen Welt und vor allem Europas, das haben die jüngsten Migrationsbewegungen deutlich gemacht. Um eine nachhaltige Entwicklung dort zu fördern, braucht es bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen, etwa durch größere Rechtssicherheit, verlässliche Besteuerung und geringere Investitionsrisiken mit Hilfe internationaler Garantien.
Unser dritter Schwerpunkt ist die Digitalisierung des Finanzsektors. Die rasante Entwicklung im Bereich technologischer Finanzinnovationen bietet die große Chance, Geldgeschäfte schneller, einfacher und billiger zu machen. Sie birgt aber auch Risiken. So macht zum Beispiel die zunehmende Abhängigkeit von technischen Infrastrukturen unser Finanzsystem anfällig für Hacker-Angriffe.
"Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten"
, frotzelte Kurt Tucholsky vor 85 Jahren; und das gilt heute mehr denn je. Die Weltwirtschaft zu entflechten, ist dabei kein sinnvolles Ziel. Gemeinsam die Globalisierung zum Wohle aller zu gestalten und die Ängste der Menschen etwa vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes ernst zu nehmen, das ist die Aufgabe. An ihr wird sich Deutschland im kommenden Jahr mit seiner G20-Präsidentschaft messen lassen.