"Die Krise ist nicht vorbei" Gastbeitrag in der Wirtschaftswoche

Für Sportbegeisterte dürfte 2016 ein spannendes Jahr werden: Erst wird in Frankreich um den europäischen Fußballthron gespielt, und dann kämpft die "Jugend der Welt" in Rio de Janeiro um olympische Medaillen. Bietet das Jahr 2016 aber auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht Spannung? Vieles deutet darauf hin, dass die moderate wirtschaftliche Erholung im Euro-Raum auch im kommenden Jahr anhält. Ob aber die Wachstumskräfte durch eine kluge Politik nachhaltig gestärkt und die Weichen in Richtung einer stabilen Währungsunion gestellt werden, muss sich zeigen.

Zunächst die gute Nachricht: Der Aufschwung im Euro-Raum dürfte sich sogar leicht beschleunigen. Zwei Faktoren stärken die Wirtschaft: Zum einen stützen die stark gefallenen Rohölpreise die Konjunktur. Denn die Verbraucher haben mehr Geld in der Tasche und angesichts der verbesserten Arbeitsmarktlage nutzen sie dies auch für steigende Konsumausgaben. Auch die Unternehmen profitieren, denn ihre Energierechnung ist gesunken.

Zum anderen stimuliert die sehr expansive Geldpolitik die Konjunktur. Unternehmen können Investitionen günstiger finanzieren, und die Abwertung des Euro führt dazu, dass eigene Exporte im Ausland billiger werden. Das nutzt auch der deutschen Wirtschaft, denn sie ist mit vielen wettbewerbsfähigen Produkten auf den Weltmärkten vertreten. Auch deshalb ist der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands zuletzt auf 8 Prozent gestiegen.

Die schlechte Nachricht lautet: Der Aufschwung ist zu schwach, um die Arbeitslosigkeit im Euro-Raum durchgreifend zu senken. In zahlreichen Ländern ist sie immer noch auf einem sehr hohen Niveau. Zum Ende dieses Jahres sind im Euro-Raum fast sechs Millionen mehr Menschen ohne Arbeit als vor der Finanz- und Schuldenkrise. Und auch im achten Jahr nach Beginn der Krise liegt die Wirtschaftsleistung in nicht wenigen Ländern des Euro-Raums weiterhin unter dem Vorkrisenniveau. Die Krise ist noch nicht überwunden.

In einigen Ländern des Euro-Raums bremsen hohe Schuldenberge das Wachstum. Trotz der niedrigen Zinsen halten sich viele Unternehmen mit Investitionen zurück. Die Kreditvergabe der Banken entwickelt sich dort auch deshalb nur schleppend, weil die weiterhin hohen Bestände ausfallgefährdeter Kredite die Ertrags- und Eigenkapitalsituation der Bankensysteme belasten.

Deutschland bildet hier eine der wenigen Ausnahmen, denn sowohl Beschäftigung als auch Wirtschaftsleistung haben merklich zugelegt. Aber auch bei uns gibt es Belastungsfaktoren: Unter anderem lasten die demografischen Veränderungen auf den Wachstumsperspektiven, was den wirtschafts- und finanzpolitischen Handlungsbedarf unterstreicht.

Arbeitslosigkeit, Verschuldung und demografischer Wandel - vieles wäre einfacher zu bewältigen, wenn es gelänge, unsere Volkswirtschaften auf einen höheren Wachstumspfad zu heben. Einige Euro-Länder wie Spanien und Irland zum Beispiel haben hier bereits Beachtliches geleistet. Zuletzt haben aber im Euro-Raum insgesamt die Reformbemühungen nachgelassen. Darauf weist die OECD in ihrem aktuellen "Going for Growth"-Bericht hin. Leider ist auch Deutschland hier kein Vorbild gewesen. Die Herausforderungen der zukünftigen Bevölkerungsentwicklung, des zunehmenden Wettbewerbsdrucks durch die Globalisierung und der Energiewende verlangen weiter nach überzeugenden wirtschaftspolitischen Antworten. Die eingeführte "Rente mit 63" verschärft die demografischen Probleme sogar. Es ist daher kein Zufall, dass die OECD die Reformbereitschaft in Deutschland kürzlich als unzureichend eingestuft hat.

Angesichts des hohen Schuldenbergs der Euro-Staaten sind auch bei der Haushaltskonsolidierung weitere Fortschritte unerlässlich. Doch auch hier hat der Elan erkennbar nachgelassen: Die aktuelle Wirtschaftsprognose der Europäischen Kommission zeigt, dass Länder, die sich im präventiven Arm des Stabilitäts- und Wachstumspakts befinden und eigentlich konsolidieren müssten, im nächsten Jahr ihre Fiskalpolitik sogar eher lockern werden. Die Länder, die bereits ein Haushaltsdefizit von über 3 Prozent haben, sich also im korrektiven Arm befinden, haben zwar vor zu konsolidieren, planen aber nur ein Viertel von dem umzusetzen, was der Pakt eigentlich verlangt. Angesichts der niedrigen Zinsen macht sich offenbar eine Tragfähigkeitsillusion breit. Vielen Finanzministern scheint auch ein weiter wachsender Schuldenstand finanzierbar zu sein. Zumal die Kommission bei der Haushaltsüberwachung häufig ein Auge zudrückt, was die Bindungswirkung der Haushaltsregeln weiter schwächt.

Dass die Zinsen so niedrig sind, liegt auch an der sehr lockeren Geldpolitik des Eurosystems, das im Frühjahr damit begonnen hat, im großen Stil Staatsanleihen zu kaufen. Der wahre Belastungstest für die öffentlichen Haushalte wird kommen, wenn die Zinsen wieder steigen. Klar ist: Sobald der Ausstieg aus der ultra-expansiven Geldpolitik erforderlich ist, um die Geldwertstabilität zu wahren, darf er nicht aus Rücksicht auf die Folgen für die öffentlichen Haushalte aufgeschoben werden. Dann wird das Eurosystem seine Unabhängigkeit unterstreichen müssen.

Wer im nächsten Jahr Fußball-Europameister oder Olympiasieger werden möchte, muss sich erheblich anstrengen. Aber auch die politischen Entscheidungsträger im Euro-Raum haben einiges zu meistern. Denn für Deutschland wie für den Euro-Raum gilt, dass anhaltendes Wirtschaftswachstum, solide öffentliche Finanzen und robuste Arbeitsmärkte kein Produkt des Zufalls sind. Sie sind Ergebnis kluger wirtschaftspolitischer Weichenstellungen.