Wuermeling: Brexit ist Zäsur und Chance

Aus der Sicht von Bundesbankvorstandsmitglied Joachim Wuermeling ist der Brexit eine Zäsur, die die Rolle der "City of London" als Finanzzentrum für Europa abschwächen wird. In der EU könne sich aber ein eigener globaler Finanzplatz entwickeln: "Die Informationstechnologie eröffnet den Finanzplätzen in der verbleibenden EU die Perspektive einer vernetzten ´Digital City of Europe´", sagte Wuermeling bei einer Veranstaltung des SAFE Policy Centers an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main vor rund 130 Zuhörerinnen und Zuhörern.

Wuermeling erinnerte an die Bedeutung des britischen Finanzplatzes: "London ist bislang die zentrale Drehscheibe im europäischen Finanzwesen", sagte er. Dabei profitiere die City von so genannten Agglomerationsvorteilen: Die örtliche Ansammlung von Finanzakteuren wie Banken, Fonds, Private-Equity-Firmen und Versicherern sowie verwandten Dienstleistern sorge für eine breite Palette an Finanzprodukten und eine hohe Marktliquidität. Die Bedeutung von London als Finanzzentrum zeige sich auch für einzelne Finanzmarktsegmente, sagte Wuermeling. So sei am Devisenmarkt der Anteil des Vereinigten Königreichs und insbesondere Londons am Handel mit Euro mit etwa 43 Prozent mehr als doppelt so hoch wie der Anteil der übrigen EU insgesamt. Auch das britische Bankensystem mit einer Bilanzsumme von umgerechnet 9,3 Billionen Euro sei das größte in der EU, sagte Wuermeling und verwies auf die enge Verflechtung mit Kontinentaleuropa.

Freihandelsabkommen ist offene Frage

Der Brexit werde diese Verbindung stark verändern: Zum einen entfalle zunächst der Zugang der im Vereinigten Königreich ansässigen Banken zum europäischen Binnenmarkt. Auch die kontinentaleuropäischen Kreditinstitute könnten ohne weiteres ihre Dienste nicht mehr im Vereinigten Königreich anbieten. Zwar gebe es den britischen Wunsch nach einem Freihandelsabkommen mit der EU. "Ob es ein solches Abkommen jedoch tatsächlich geben wird, ist gegenwärtig eine offene Frage", sagte Wuermeling.

Vor diesem Hintergrund würden sich für die Finanzinstitute in London und in der EU verschiedene Handlungsoptionen bieten. Diese Optionen, wie die Einstellung oder Verlagerung von Geschäft von Großbritannien in die EU, oder die Suche nach Geschäftspartnern, hänge letztlich von individuellen Kosten-Nutzen-Erwägungen ab, so Wuermeling. Theoretisch könne der Brexit höhere Kosten für die Finanzakteure verursachen. Es sei auch keineswegs ausgemacht, dass Geschäft von London schwerpunktmäßig nach Kontinentaleuropa wandere. Andere Finanzzentren könnten ebenso profitieren: "Insbesondere New York kommt als Profiteur des Brexit in Frage, aber auch andere globale Finanzzentren wie Singapur oder Hongkong", sagte Wuermeling. Auf dem Kontinent gebe es für den Finanzplatz London schon aufgrund der Größe keinen vollwertigen Ersatz. Wichtige Finanzierungskanäle für die EU könnten durch den Brexit beeinträchtigt werden: "Aus dem Blickwinkel der Finanzmarkteffizienz, der Finanzmarktintegration, der Finanzstabilität, aber auch der realwirtschaftlichen Entwicklung ist ein solches Szenario fraglos nachteilig", so Wuermeling.

Vernetzter Finanzplatz "Digital City of Europe"

Mit dem Brexit entstehe eine ganz neue strategische Herausforderung: "Es braucht also Initiativen, einen Finanzmarkt von globaler Relevanz auf dem Kontinent zu schaffen", sagte Wuermeling. Die EU und insbesondere der Euroraum hätten auch nach dem Brexit das Zeug dazu. Allerdings sei das gesamte Potenzial auf diverse Standorte auf dem Kontinent verteilt, die Zentren konkurrierten häufig untereinander um Marktanteile, Steuereinnahmen und Arbeitsplätze. Ein neuer, kontinentaleuropäischer Finanzplatz könne also nicht von Größenvorteilen profitieren wie die City of London. Neue Technologien könnten dieses Problem lösen: "Mit der Digitalisierung könnte die räumliche Entfernung jedoch immer mehr an Bedeutung verlieren", sagte Wuermeling. Verschiedene Standorte könnten sich so verbinden und besser zusammenarbeiten. Der Kontinent habe die riesige Chance, mit dem Aufbau eines technologisch erstklassig vernetzten Finanzmarkts im globalen Maßstab höchst relevant zu werden, so das Bundesbankvorstandsmitglied.

Für den Aufbau einer "Digital City of Europe" seien aber eine Reihe von Voraussetzungen zu erfüllen: So müssten sich die Standorte spezialisieren und online kooperieren. Dazu sei ein Ausbau der digitalen Infrastrukturen notwendig, die miteinander kompatibel sein müssten, so Wuermeling.  Außerdem fehle bisher ein wettbewerbsfähiger Rechtsrahmen trotz aller EU-Harmonisierung. Ziel eines solchen Rechtsrahmens müsse sein, dass grenzüberschreitendes Geschäft innerhalb der EU nicht zu Transaktionskosten führe. Darüber hinaus sei wichtig, dass die Marktkräfte wirken könnten, sagte Wuermeling. Der Politik komme hingegen die Rolle eines Katalysators zu. Die "Digital City of Europe" sei ein sehr ambitioniertes Projekt, für dessen Erfolg es keine Garantie gebe, sagte Wuermeling. Entscheidend sei aber, den europäischen Wettbewerb nicht als ein Nullsummenspiel zu verstehen, bei dem der Gewinn eines Finanzplatzes der Verlust eines anderen sei. Es gehe darum, gemeinsam ein Potenzial zu entwickeln, von dem jeder Einzelne profitieren könne.

Der Ansatz einer "Digital City of Europe" sorgte für die meisten Nachfragen der Zuhörerinnen und Zuhörer in der anschließenden Diskussion. Wuermeling gab zu bedenken, dass er nicht wisse, ob der eine, neue kontinentaleuropäische Finanzplatz kommen werde. Aber er gab sich überzeugt davon, dass die Diskussion darüber begonnen werden müsse. Auch über die möglichen Hürden für ein solches Projekt wurde gesprochen: So machte Wuermeling darauf aufmerksam, dass die einzelnen Transaktionen etwa zwischen einer Bank und einem Clearinghaus auf nationalem, privatem Recht beruhe. "Während das Öffentliche Recht harmonisiert wurde, ist das Privatrecht in den europäischen Ländern mitunter noch sehr verschieden", so der Bundesbankvorstand.