Nagel: Erfolgsgeschichte des EU-Binnenmarkts fortschreiben
Bundesbankpräsident Joachim Nagel hat sich dafür stark gemacht, dem europäischen Binnenmarkt neuen Schub zu geben. „30 Jahre nachdem er unter diesem Namen eingerichtet wurde, lässt sich sagen: Der EU-Binnenmarkt ist für uns heute wertvoller denn je. Umso wichtiger ist es, diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben
“, betonte Nagel in einer Rede beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Die wichtigsten Handlungsfelder sieht Nagel in den Bereichen Dienstleistungen, Digitalisierung und Kapitalmarkt.
Die Erfolgsgeschichte des EU-Binnenmarktes
Nagel wies auf die Vorteile eines großen Heimatmarktes hin. Er erlaube es, sich auf das zu spezialisieren, was man am besten kann. Größenvorteile könnten besser genutzt werden. So gestärkt könnten europäische Unternehmen auch international besser bestehen. Zugleich mache der einheitliche Markt Europa als Standort für internationale Investoren attraktiver.
Der Euro habe diese Vorteile des Binnenmarkts noch verstärkt, indem er den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zusätzlich vereinfacht habe. Hinzu kämen die gemeinschaftlichen Wettbewerbs- und Beihilferegeln, die eine wichtige Errungenschaft seien. „Ein dynamischer Wettbewerb spornt Unternehmen zusätzlich an, innovativer und produktiver zu werden. Davon profitieren wir alle als Verbraucherinnen und Verbraucher: Wir haben mehr Auswahl und günstigere Preise
“, betonte Nagel.
Europa sei durch den Binnenmarkt spürbar wohlhabender geworden, fasste Nagel zusammen. Zudem verleihe der Binnenmarkt mit seiner Wirtschaftskraft der gemeinsamen EU-Handelspolitik das nötige Gewicht, um auch mit anderen wirtschaftsstarken Nationen auf Augenhöhe verhandeln zu können. Dies sei seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine noch relevanter geworden. In der neuen geopolitischen Lage bemühten sich Politik und Unternehmen, einseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten zu reduzieren und Lieferketten widerstandsfähiger zu gestalten.
Zusätzlicher Antrieb für den Binnenmarkt
Diese Erfolgsgeschichte gelte es nun fortzuschreiben. Europa müsse ein international wettbewerbsfähiger Standort bleiben, was auch durch eine Vertiefung des Binnenmarktes gelingen könne. Das Potenzial sei bei weitem noch nicht ausgeschöpft, sagte der Bundesbankpräsident in seinem Vortrag. „Ausbaubedarf besteht zum Beispiel beim Dienstleistungshandel, bei der Kapitalmarktunion und im Bereich des Digitalen
“, so Nagel.
Bei Dienstleistungen sei es wichtig, die Hürden räumlicher Entfernung leichter zu überwinden. Die Digitalisierung gebe dazu neue Werkzeuge an die Hand. Nagel verwies etwa auf digitale Marktplätze, die Zusammenarbeit in virtuellen Teams und rein digitale Produkte wie Streaming-Dienste oder Cloud-Anwendungen. Wichtig sei, dass der Staat mit dem Tempo des digitalen Wandels Schritt halte. So sollten Behörden ihre Informationen und Dienstleistungen möglichst vollständig online anbieten. Dies gelte ganz besonders mit Blick auf Dienstleistungen, die für die grenzüberschreitende Mobilität nötig sind.
Aber auch der Zahlungsverkehr biete Chancen der Weiterentwicklung. Zahlungen über Ländergrenzen hinweg seien heute oft nur mithilfe internationaler Kartensysteme möglich. Es gebe keine einheitliche, europaweite Lösung, die auf europäischer Infrastruktur aufbaue. Das Projekt „digitaler Euro“ könne hierzu beitragen. Ein digitaler Euro könnte als zusätzliche Option im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr zu Effizienzgewinnen beitragen und bestehende Abhängigkeiten verringern. Er könnte außerdem auf längere Sicht zu einem Wegbereiter für innovative Geschäftsprozesse in der europäischen Wirtschaft werden.
Viel ungenutztes Potenzial sieht Nagel für einen freien Kapitalverkehr in Europa. Ein gemeinsamer europäischer Kapitalmarkt könne sowohl die Wachstumskräfte stärken als auch zur Stabilität des Finanzsystems beitragen. Dafür sei es wichtig, dass sich Unternehmen leichter über Ländergrenzen hinweg finanzieren könnten, vor allem auch mit Eigenkapital. Investoren bräuchten Transparenz und verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen. Das Fehlen harmonisierter Insolvenzvorschriften gelte dabei als eines der größten Hindernisse für den freien Kapitalverkehr in der EU. Deshalb sei es sinnvoll, dass in der EU über eine stärkere Harmonisierung nachgedacht werde. Ein echter Finanzbinnenmarkt zahle sich nach Einschätzung des Bundesbankpräsidenten doppelt aus: Er könne die europäische Wirtschaft innovativer und produktiver machen und zugleich für attraktive Anlagemöglichkeiten sorgen.
Effektive Fiskalregeln für die Währungsunion wichtig
Joachim Nagel betonte, dass glaubwürdige Fiskalregeln ein Vertrauensanker an den Kapitalmärkten seien und die Widerstandsfähigkeit der Staatsfinanzen für Krisenzeiten stärkten. „Eine stabile Währungsunion braucht solide Staatsfinanzen in allen Mitgliedstaaten. Dann kann sich die gemeinsame Geldpolitik auf die Sicherung der Preisstabilität konzentrieren. Deshalb sind effektive Fiskalregeln gerade im Euroraum so wichtig. Sie sollten auf solide Staatsfinanzen hinwirken
“, betonte der Bundesbankpräsident.
In der Praxis verfehlten die bestehenden Vorgaben aber oftmals ihre Wirkung – dies habe dazu geführt, dass die Regeln im Ergebnis solide Staatsfinanzen nicht verlässlich absichern konnten. Im Hinblick auf die Diskussion über die Reform der Fiskalregeln hielt Nagel zwei Aspekte für ganz entscheidend: Erstens brauche es vorab zahlenmäßig festgelegte Grenzen als Leitplanken. Zweitens müssten sich die Mitgliedstaaten an den durch die Leitplanken begrenzten Weg halten. Es gelte nun, die Leitplanken fester als bisher zu verankern, indem die Regeln eindeutiger und transparenter werden. Ermessensspielräume sollten begrenzt und Ausnahmen auf schwere Krisen beschränkt werden.
Abschließend stellte der Bundesbankpräsident die Entwicklung des Binnenmarkts in den Kontext von Europas Einigungsprozess. Der Binnenmarkt sei nicht nur zum Rückgrat der europäischen Wirtschaft und zur unverzichtbaren Quelle unseres Wohlstands geworden. Er bringe auch die europäische Integration insgesamt voran, mit ganz praktischen Vorteilen im Alltag der Menschen. Diese Errungenschaften seien jedoch nicht selbstverständlich und es sei deshalb wichtig, beständig daran zu arbeiten, um Europas Chancen und Potenziale noch besser nutzen zu können.