Nagel: Der Wirtschaftsstandort Deutschland könnte eine gute Turn-Around-Story werden
In einem Interview mit dem Tagesspiegel betont Bundesbankpräsident Joachim Nagel, dass das Wirtschaftswachstum hierzulande zwar noch schwach sei, sich aber langsam bessere. Die Auftragslage der Industrie scheint sich in der Grundtendenz zu stabilisieren, der Konsum dürfte bald wieder anziehen. Deutschland könnte eine gute Turn-Around-Story werden, also eine Erfolgsgeschichte, wenn die strukturellen Probleme beherzt angegangen und gelöst werden,
so Nagel.
Schwierigkeiten habe Deutschland Nagel zufolge dabei, bei der Digitalisierung und der Transformation zur Klimaneutralität voranzukommen. Die demografische Entwicklung erschwere dies zusätzlich. Neben diesen Problemen bestünden laut Bundesbankpräsident Nagel aber auch große Chancen: Die deutsche Wirtschaft und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass sie sich auf veränderte Rahmenbedingungen einstellen können. Wir haben uns beispielsweise weitgehend vom russischen Gas gelöst – schneller als von vielen erwartet.
„Wir müssen Arbeitskräfte mobilisieren“
Angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland sei es Nagel zufolge wichtig, Arbeitskräfte zu mobilisieren. Deutschland müsse für ausländische Fachkräfte attraktiv bleiben, sagt Nagel und betont: Sonst werden wir die Fachkräftelücke nicht schließen können.
Gleichzeitig müsse dafür gesorgt werden, dass Menschen, die gerne arbeiten würden, auch arbeiten können. Um dies zu ermöglichen, brauche es laut Bundesbankpräsident Nagel zum Beispiel auch den Ausbau der Kinderbetreuung.
Im Hinblick auf die gesetzliche Rente bestünde Nagel zufolge Reformbedarf. Es sei angemessen, die steigende Lebenserwartung beim gesetzlichen Rentenalter grundsätzlich zu berücksichtigen. Laut dem Bundesbankpräsidenten müsse zudem darüber nachgedacht werden, es Rentnerinnen und Rentnern einfacher zu machen, wenn sie neben der Rente weiterarbeiten wollen.
Die Inflationsentwicklung geht in die richtige Richtung
Nach den Zinsentscheidungen des EZB-Rats gefragt, bekräftigt Nagel die Zinserhöhungen zwischen Juli 2022 und September 2023. Die Inflation geht zurück. Und wir erwarten, dass sie spätestens Ende 2025 unseren Zielwert von zwei Prozent erreicht
, so der Bundesbankpräsident. Die Zinssenkung im Juni sei damit konsistent gewesen. Zwar gebe es noch immer Güter und Dienstleistungen, deren Preise weiter deutlich steigen. Alles in allem sei die Inflation im Juni 2024 im Euroraum wie auch in Deutschland auf 2,5 Prozent gesunken, erläutert Nagel.
Wann die nächste Zinssenkung zu erwarten sei, werde basierend auf der Datenlage entschieden, betont er. Die Kerninflationsrate, bei der die stark schwankenden Energie- und Lebensmittelpreise herausgerechnet werden, liegt im Euroraum noch immer bei 2,9 Prozent und damit relativ hoch.
Der EZB-Rat werde seinen Kurs daher bei jeder Sitzung neu überprüfen und vorsichtig bleiben.
Die Bundesbank steht zum Bargeld
Auf die Frage, ob die Abschaffung des Bargeldes drohe, antwortet Nagel im Interview mit Entwarnung: Unser Auftrag ist, Bargeld bereit zu stellen, und das werden wir auch künftig tun. Bargeld ist immer noch das am meisten benutzte Zahlungsmittel der Deutschen, obwohl der Einsatz allmählich zurückgeht.
Die Bundesbank stehe daher auch in Zukunft fest zum Bargeld.
Die Welt werde gleichzeitig aber auch immer digitaler und digitale Zahlungsmedien würden wichtiger. Auch deshalb arbeiten wir im Eurosystem daran, in Zukunft nicht nur den Euro als Bargeld, sondern auch den digitalen Euro bereitstellen zu können
, erläutert der Bundesbankpräsident. Beim heute verfügbaren bargeldlosen Bezahlen würden Nagel zufolge internationale Kartensysteme genutzt und dabei würden umfangreiche Datenspuren hinterlassen. Ich wünsche mir, dass wir in Europa mit einem einheitlichen, europäischen Zahlungssystem zahlen können – in der Strandbar in Italien genauso wie beim Online-Shopping in Finnland. Und das mit höchsten Standards beim Datenschutz
, so der Bundesbankpräsident. Mit der Einführung des digitalen Euro rechne er in vier Jahren.