Durchblick bei der Inflation

Barzahlung mit einer 20-Euro-Banknote an einem Marktstand ©picture alliance / dpa
Ob Obst, Gemüse oder Brot – scheinbar kennen Preise immer nur eine Richtung: nach oben. Das zumindest ist das Gefühl vieler Menschen an der Supermarktkasse. Die amtlichen Statistiken zeigen dagegen, dass Verbraucherpreise keineswegs immer steigen. Butter oder Milch sind beispielsweise im Jahr 2015 billiger geworden, auch für Fleisch mussten Verbraucher etwas weniger auf den Tisch legen als im Vorjahr.

Wie stark sich eine Preisänderung auf den eigenen Geldbeutel auswirkt, hängt von den individuellen Vorlieben und Gewohnheiten ab. Der eine isst regelmäßig Fleisch und freut sich über eine Preissenkung, der andere bevorzugt Obst und Gemüse und muss dafür tiefer in die Tasche greifen. Steigen nicht nur die Preise einzelner Güter, sondern nehmen die Preise auf breiter Front dauerhaft zu, nennen Ökonomen das Inflation.

Stabile Preise nützen allen

Eine hohe Inflation kann schädliche Folgen für Unternehmen und Verbraucher haben, ebenso wie ein anhaltender Rückgang der Preise. Im Euro-Raum hat deshalb das Eurosystem, also die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Notenbanken der Länder, die den Euro als gemeinsame Währung eingeführt haben, die Aufgabe, für stabile Preise zu sorgen.

Das Eurosystem steuert im Rahmen seiner Geldpolitik zum Beispiel über den Leitzins die Kosten, zu denen sich Geschäftsbanken bei ihm kurzfristig Geld leihen können. Damit nimmt es indirekt Einfluss auf die Zinsen, die Banken für Kredite untereinander oder für Ausleihungen an Unternehmen und Verbraucher verlangen. Diese Zinssätze entscheiden darüber, ob sich für Unternehmen Investitionen lohnen. Sie beeinflussen außerdem, welche Anteile ihrer Einkommen die Verbraucher lieber sparen als auszugeben. So wirkt die Geldpolitik auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit auf die Entwicklung der Verbraucherpreise.

Großer Warenkorb

Wie sich die Verbraucherpreise tatsächlich insgesamt entwickeln, messen die Mitarbeiter des Statistischen Bundesamtes. Dazu schauen sie laufend auf einen großen Korb von Waren und Dienstleistungen, für die Verbraucher in Deutschland Geld ausgeben. Dazu gehören viele verschiedene Lebensmittel ebenso wie Benzin, Pauschalreisen oder Versicherungsbeiträge. Der Inhalt des Warenkorbs wird laufend angepasst, um aktuell gekaufte Güter zu berücksichtigen. Für alle diese rund 600 Güterarten erfassen die Statistiker monatlich über 300 000 Einzelpreise. Aus dieser Vielzahl von Daten berechnet das Statistische Bundesamt monatlich einen sogenannten Verbraucherpreisindex. Er fasst alle für Verbraucher wichtigen Preise in einer Zahl zusammen. Notiert dieser Index aktuell beispielsweise 1,5 % über seinem Wert vor zwölf Monaten, dann entspricht das einer Inflationsrate von 1,5 %.

Aus ihren regelmäßigen Erhebungen wissen die Statistiker, wofür die Verbraucher in Deutschland im Durchschnitt ihr Geld ausgeben. Sie teilen die verschiedenen Ausgaben je nach Ausgabenart in viele unterschiedlich große Gruppen ein. Eine besonders große Gütergruppe umfasst etwa die Wohnungsmiete. Sie macht rund 20 % der durchschnittlichen Ausgaben aus. Fahrräder beispielsweise stehen dagegen gerade einmal für knapp 0,2 % der monatlichen Ausgaben – sie werden einfach nicht so häufig gekauft. Würden Fahrräder nun teurer, dann hätte das wegen ihrer geringen Bedeutung an den gesamten monatlichen Haushaltsausgaben kaum Einfluss auf den Verbraucherpreisindex und damit auf die Inflationsrate.

Harmonisierter Verbraucherpreisindex im Euro-Raum
Harmonisierter Verbraucherpreisindex im Euro-Raum
Bereits lange vor der Einführung des Euro haben Statistikbehörden für ihre Länder nationale Preisdaten erhoben. Dabei haben sich unterschiedliche nationale Messmethoden entwickelt. Um die Inflationsdaten aller europäischen Staaten miteinander vergleichbar zu machen, berechnen deshalb alle nationalen Statistikbehörden innerhalb der Europäischen Union (EU) seit 1997 auch einen "Harmonisierten Verbraucherpreisindex", kurz HVPI. Für ihn gelten in allen Ländern verbindliche einheitliche Berechnungsgrundsätze – die Warenkörbe sind aber selbstverständlich von Land zu Land unterschiedlich, je nach Ausgabeverhalten. Jedes Land in Europa meldet seinen harmonisierten Verbraucherpreisindex regelmäßig an die europäische Statistikbehörde Eurostat. Auf dieser Basis wird dann die amtliche Inflationsrate für den gesamten Euro-Raum berechnet.

Wichtiger Maßstab

Für das Eurosystem ist der HVPI die wichtigste Messgröße für ihr Ziel stabiler Preise. Der EZB-Rat spricht dabei von Preisstabilität im Euro-Raum, wenn der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise unter 2 % liegt. Auf mittlere Sicht versucht der EZB-Rat, eine Inflationsrate von unter, aber nahe 2 % zu erreichen.

Sollte die Inflationsrate kurzfristig einmal niedriger oder höher ausfallen, muss das Eurosystem deshalb nicht zwingend sofort seinen geldpolitischen Kurs anpassen. Fällt etwa in der Landwirtschaft nach einer Hitzewelle die Ernte unerwartet schlecht aus, kann das die Preise für Lebensmittel vorläufig nach oben treiben. Mit der nächsten guten Ernte sollten die Preise jedoch wieder fallen. Die Geldpolitik kann mit ihren Instrumenten solchen kurzfristigen Preis-schwankungen nicht schnell genug entgegenwirken, da ihre Maßnahmen Zeit benötigen, um zu wirken. Gibt es jedoch Anzeichen, dass Preise anhaltend stark steigen oder fallen, dann kann dies für Notenbanken ein wichtiges Signal sein, mit der Geldpolitik darauf zu reagieren. Ausschlaggebend ist für sie die mittelfristige Preisentwicklung.

Ölpreis schwankt stark

Einen großen Einfluss darauf, wie sich die Inflation kurzfristig entwickelt, hat beispielsweise der Ölpreis. Sinkt er, fallen in der Regel schnell auch die Preise für  Kraftstoffe und Heizöl. Wird Öl wieder teurer, lässt sich dies auch zügig an höheren Preisen an den Zapfsäulen oder an der Heizölrechnung ablesen. Kosten für Energie machen immerhin im Durchschnitt rund 10 % der monatlichen Verbrauchsausgaben aus. Dabei beeinflusst der Ölpreis also nicht nur eine bedeutende Gütergruppe, sondern er schwankt auch noch vergleichsweise stark. Wegen seiner großen Bedeutung für die gesamte Wirtschaft reagiert der Ölpreis recht stark auf Entwicklungen, die sich auf das Angebot oder die Nachfrage von Öl auswirken könnten. Daher schwankt sein Preis stärker und schneller als viele andere Preise.

Blick auf die Kerninflation

Weltweit schauen Notenbanken deshalb bei den Verbraucherpreisen auch auf besondere Kennzahlen, die sogenannten Kerninflationsraten. Sie geben an, wie sich die Verbraucherpreise entwickeln, wenn bestimmte Güter des Warenkorbs nicht mit eingerechnet werden. Das sind zumeist Güter mit erfahrungsgemäß stark schwankenden Preisen, zum Beispiel  alle Güter, die direkt vom Ölpreis abhängen. Statistiker blenden dann beispielsweise die Preise für Energie, also vor allem Heizöl, Kraftstoffe, Strom und Gas aus, wenn sie diese Rate berechnen. Wie stark sich die durchschnittliche Preisentwicklung dadurch ändert, zeigt auch die Grafik, in der die Gesamtinflationsrate in der Regel stärker in eine Richtung schwankt als die Kernrate ohne Energie.

Die Richtung der Preisentwicklung ist also bei beiden häufig gleich, die Ausschläge fallen bei der Kerninflationsrate jedoch zumeist schwächer aus. Damit ist sie für die Frage, wie sich die Preise auf mittlere Sicht entwickeln, eine wertvolle zusätzliche Information. Gleichwohl sind Kerninflationsraten nicht immer das zuverlässigere Barometer für den mittelfristigen Preisdruck. So zeigt zum Beispiel die Gesamtinflationsrate den Trend in der Preisentwicklung besser an als die Kerninflationsrate, wenn sich die Energiepreise über eine längere Zeitspanne in eine Richtung entwickeln. Eine ausschließlich an der Kernrate ohne Energie orientierte, der Preisstabilität verpflichtete Geldpolitik würde dann zu spät reagieren. Deshalb verlassen sich Notenbanker bei der Analyse niemals nur auf eine einzige Kennziffer. Mit einer Vielzahl von Indikatoren machen sie sich ein möglichst differenziertes Bild.

Zweite Runde

Notenbanken blenden die Ölpreisentwicklung jedoch nicht gänzlich aus – im Gegenteil. Verteuern sich nämlich beispielsweise nach einem Ölpreisanstieg das Tanken und Heizen, dann stellen sich Verbraucher auf diese geänderten Preise ein. Möglicherweise verändern sie nicht nur ihr Einkaufsverhalten, sondern erwarten auch für die Zukunft weiter steigende Preise. Das könnte dann dazu führen, dass bei der nächsten Tarifrunde ein Ausgleich für die gestiegenen oder noch steigenden Energiepreise gefordert wird. Steigen deshalb Löhne und Gehälter, dann verfestigt sich damit der Preisanstieg, weil die gestiegenen Lohnkosten die Unternehmen möglicherweise veranlassen, die Güterpreise anzuheben. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von Zweitrundeneffekten. Es droht eine Spirale aus steigenden Löhnen und Preisen. Für die Geldpolitik ist es daher bedeutend, Zweitrundeneffekte rechtzeitig zu erkennen, um Gegenmaßnahmen für eine stabile Preisentwicklung zu ergreifen. So können die Notenbanken mit ihren Instrumenten wie beispielsweise dem Leitzins dazu beitragen, die Konjunkturentwicklung etwas abzubremsen, so dass die Verbraucher wieder eine weniger starke Inflation erwarten.