"Phase der Unsicherheit möglichst kurz halten"
Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat das "Brexit"-Votum im Vereinigten Königreich als Zäsur in der Geschichte der Europäischen Union bezeichnet. "Diese Entscheidung ist sehr bedauerlich und sie ist in meinen Augen ein Fehler. Aber sie ist zu respektieren und wir müssen damit umgehen"
, sagte Weidmann bei einer Veranstaltung des Münchner Volkswirte Alumni-Clubs. Für die Diskussion über die institutionellen Reformen der Währungsunion solle das Votum als Warnschuss verstanden werden, sagte er.
Weidmann wurde bei der Veranstaltung als Dank und Anerkennung für große Verdienste um die Volkswirtschaftslehre mit der Hans-Möller-Medaille ausgezeichnet. In seiner Dankesrede sprach er sich dafür aus, zum Wohle beider Seiten jetzt zügig und vernünftig über das zukünftige Verhältnis von EU und Vereinigtem Königreich zu verhandeln. "Am Aufbau von Handelshemmnissen kann keine Seite ein Interesse haben"
, sagte er. In den Verhandlungen solle es nicht darum gehen, das Vereinigte Königreich im Vergleich zu anderen Ländern wie der Schweiz oder Norwegen bevorzugt zu behandeln. "Es sollte allerdings auch nicht das Ziel sein, an den Briten ein politisches Exempel zu statuieren"
, betonte er.
Finanzmärkte reagieren besonnen
Die besonnene Reaktion der Finanzmärkte auf das Votum zeigt Weidmann zufolge, dass die allermeisten Banken das Szenario eines "Brexit" hinreichend ernst genommen und sich darauf eingestellt hätten. Zu Verwerfungen oder gar Panik sei es auch deshalb nicht gekommen, weil die Banken deutlich besser aufgestellt seien als noch im Herbst 2008.
Der Rückgang der langfristigen Zinsen und die weitere Abflachung der Renditekurve dürfte laut Weidmann die ohnehin belasteten Bankerträge weiter unter Druck setzen. "Schon deshalb darf man nicht davon ausgehen, dass an den Finanzmärkten die neuen Gleichgewichtskurse bereits gefunden wurden"
, unterstrich er.
Wie gravierend die wirtschaftlichen Auswirkungen tatsächlich sein werden, ist nach Einschätzung des Bundesbankpräsidenten unklar. Die starke Abwertung des britischen Pfund dürfte die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen für das Vereinigte Königreich vorübergehend dämpfen. Wichtig sei, die Phase der Unsicherheit möglichst kurz zu halten.
Das Vereinigte Königreich wird Weidmann zufolge die wirtschaftlichen Folgen des Austritts am deutlichsten spüren. Aber auch im Euro-Raum könne der "Brexit" die Konjunktur leicht bremsen. Zudem seien die politischen Weiterungen noch nicht absehbar. In Deutschland werde der "Brexit" der Konjunktur wohl ebenfalls einen Dämpfer verpassen, sagte Weidmann mit Blick auf die Rolle des Vereinigte Königreichs als drittwichtigstes Exportland für die deutsche Wirtschaft.
"Allein für den Finanzplatz Frankfurt könnten sich neue Chancen ergeben"
, so Weidmann. Dafür bedürfe es aber auch politischer Rückendeckung. "Wir sollten diejenigen, die ihr Geschäft von London nach Frankfurt verlagern, willkommen heißen"
, betonte er.
Keine weitere geldpolitische Lockerung
Für die Geldpolitik im Euro-Raum sieht Weidmann nach dem Brexit-Votum keine Notwendigkeit einer weiteren Lockerung. "Die Geldpolitik ist bereits sehr expansiv ausgerichtet und es wäre fraglich, ob eine noch expansivere Ausrichtung überhaupt stimulierende Wirkung hätte"
, gab Weidmann zu bedenken. Auch eine noch so lockere Geldpolitik räume politische Unsicherheit als wirtschaftlichen Belastungsfaktor nicht aus dem Weg. "Die nun entstandene Krise der Europäischen Union ist eine politische Krise und sie muss politisch gelöst werden"
, unterstrich Weidmann.