"Die Risiken und Neben­wirkungen wachsen"

Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat vor den wachsenden Risiken und Nebenwirkungen der ultralockeren Geldpolitik des Eurosystems gewarnt. Gleichzeitig gab er zu bedenken, dass die Wirksamkeit der Maßnahmen auf Dauer abnehme. Mit Blick auf die Risiken sagte er im Interview mit dem "Tagesspiegel": "Hier denke ich zum Beispiel an Übertreibungen auf den Finanzmärkten und an die Probleme für Lebensversicherungen."

Seit März 2015 kaufen die Notenbanken des Eurosystems für rund 60 Milliarden Euro monatlich Wertpapiere, vor allem Staatsanleihen, aber auch gedeckte Schuldverschreibungen und forderungsbesicherte ABS-Papiere. Darüber hinaus haben sie den Leitzins nahe null Prozent gesenkt und stellen den Banken – gegen Hinterlegung von Sicherheiten – unbegrenzt Liquidität zur Verfügung.

Zur aktuellen Diskussion um eine nochmalige Ausweitung des Anleihenkaufprogramms sagte Weidmann, dass die Volkswirte im Eurosystem momentan an neuen Prognosen arbeiteten. Auf dieser Grundlage werde der EZB-Rat dann Anfang Dezember entscheiden, was zu tun sei. Dabei ist laut Weidmann nach wie vor zu berücksichtigen, dass die sehr geringe Inflationsrate nicht zuletzt Folge niedriger Energiekosten ist und insoweit ein vorübergehendes Phänomen darstellt. "Hinzu kommt, dass im Euro-Raum die günstiger importierte Energie die Kaufkraft von Unternehmen und Verbrauchern stärkt", erklärte Weidmann.

Mit Blick auf das derzeit laufende Anleihenkaufprogramm des Eurosystems hob Weidmann hervor, dass jede Notenbank nur Staatsanleihen des eigenen Landes erwerbe und im Wesentlichen keine Gemeinschaftshaftung für Staatsschulden über die Notenbankbilanz herbeigeführt würde. Diese Entscheidung sei das Ergebnis einer "intensiven Diskussion" im EZB-Rat. "Trotz dieser Anpassungen sehe ich die zunehmende Verflechtung von Geld- und Fiskalpolitik aber mit Sorge", sagte Weidmann.

Strukturreformen nötig, um die Krise zu bewältigen

Das Eurosystem dürfe nicht zum Gefangenen der Politik werden, so Weidmann. "Wir Notenbanker müssen aus der expansiven Geldpolitik aussteigen können, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, und zwar auch dann, wenn sich die Politik daran stört, weil dadurch die Zinslast für die Staatsschulden steigt", sagte der Bundesbankpräsident. Die Notenbanken könnten die Probleme des Euro-Raums nicht lösen. Vor allem Strukturreformen seien notwendig, um die Krise zu bewältigen, so Weidmann. Schließlich gehe es nicht nur um konjunkturelle Probleme, sondern um Fehlentwicklungen und Übertreibungen, auch im Finanzsektor. "Der Schlüssel zur Lösung der Euro-Krise liegt bei der Politik", sagte Weidmann. Sie müsse die Grundlagen schaffen für ein stärkeres, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, für ein widerstandsfähiges Finanzsystem und für dauerhaft solide Staatsfinanzen. Wie die Krise gezeigt habe, sei Letzteres eine Voraussetzung für eine stabile Währungsunion und letzten Endes auch für stabiles Geld, so der Bundesbankpräsident.

Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht aushebeln

In der aktuellen Diskussion um den Flüchtlingsstrom nach Europa und dessen Finanzierung warnte Weidmann davor, die Stabilitätskriterien im Euro-Raum aufzuweichen. An Flexibilität im Stabilitäts- und Wachstumspakt mangele es nicht. Die Regeln erlaubten es, außergewöhnlichen und überraschenden Belastungen einzelner Länder Rechnung zu tragen. Tatsächlich seien aber nur wenige Länder durch außerordentlich hohe Flüchtlingszahlen betroffen. "Ich sehe vielmehr das Problem, dass immer wieder nach Begründungen gesucht wird, den von vielen ungeliebten Stabilitäts- und Wachstumspakt auszuhebeln", sage Weidmann. Dafür sollte man das Flüchtlingsthema nicht missbrauchen, so der Bundesbankpräsident.